Zur Auseinandersetzungen um die Zwangsquarantäne im Göttinger Wohnkomplex in der Groner Landstraße 9.
Ein Gastbeitrag von redical M | Göttingen
Die Groner Landstraße 9 a-c ist ein großer, prekärer Wohnkomplex am Rande der Göttinger Innenstadt. Laut offiziellen Stellen wohnen im gesamten Haus circa 700 Leute. Nachdem im Haus 120 Covid-19 Erkrankungen diagnostiziert wurden, stellte die Stadt am 18. Juni das gesamte Haus in Quarantäne. Unter der Aufsicht von Cops, Ordnungsamt und privaten Securitys wurden die Bewohner*innen in ihren 19-39 Quadratmeter-Wohnung praktisch inhaftiert, teilweise mit mehreren Kindern. Die vollkommene Ausgangssperre bedeutete eine katastrophale Lebensmittelversorgung, die „Care-Pakete“ der Stadt, gefüllt mit grundlegenden Lebensmitteln, wurden den Bewohner*innen für 40Euro das Stück aufgezwungen. Pünktlich zur Pressekonferenz am Sonntag Nachmittag, entschied man sich dazu sie umsonst zu verteilen. Während am Samstag Nachmittag eine Kundgebung unter dem Motto „Shut down Mietenwahnsinn“ unmittelbar vor dem Haus in der Groner Landstraße stattfand, verliehen Bewohner*innen des Hauses ihrer nachvollziehbaren Wut auf die Polizei Ausdruck und warfen mit Gegenständen auf die Cops. Der Staat schlug hart zurück, die Bewohner*innen wurden verprügelt und mit Pfefferspray angegriffen, am Tag darauf gab es eine Festnahme im Haus. Seit dem organisieren wir mit anderen Gruppen einen Cop-Watch-Posten gegenüber des Wohnkomplexes und versuchen Öffentlichkeit herzustellen und mit den Bewohner*innen in Kontakt zu bleiben.
„We‘re all in this together“? – Seuchenschutz im Staat des Kapitals
Obwohl sich Stadt und Staat als tatkräftige Akteure an der Seite der Bewohner*innen inszenieren, verdeutlichen die Auseinandersetzungen rund um die Groner Landstraße, dass es nie um Bedürfnisse oder Menschenleben ging. Während der Ostviertel-Daddy sein Home-Office eher als ein Urlaub auf Balkonien erlebt, nimmt die Pandemie für prekarisierte Menschen einen ganz anderen Verlauf, so eben in der Groner Landstraße. In diesem Wohnkomplex ist kein Physical Distancing möglich, spätestens wenn es um die Essensverteilung geht müssen die Leute ihre Wohnungen verlassen. Bei Leuten mit Vorerkrankungen kann es tödlich sein in einem solchen Knast zusammengepfercht, mit schlecht versorgten kranken Menschen auf die nächste Essenslieferung warten zu müssen. Während bei den Schlachthöfen des Rassisten Tönnies in NRW erst Wochen nach den massenhaften Ausbrüchen die Produktion eingestellt wird, wurde in Göttingen nicht lange gefackelt. Der Unterschied zwischen diesen Beispielen liegt auf der Hand: die Fleischfabriken erwirtschaften Profit, die Massenquarantäne eines Häuserblocks von 700 prekarisierten Menschen ist dem Kapital herzlich egal. Grade in Krisenzeiten ist es die Aufgabe des Staates für den reibungslosen Ablauf der Kapitalakkumulation zu sorgen, die Schließung der Fabrik grätscht da mehr rein, als die Zwangsquarantäne eines Häuserblocks. Die großen Corona-Partys finden in diesem Land nicht – wie bürgerliche Presse und Faschisten gleichsam behaupten – bei sogenannten Großfamilien in prekären Wohnvierteln statt, sondern in den Produktionsstätten der Tönnies und VWs dieses Landes. Und der Staat des Kapitals wird einen Teufel tun die Party der Produktion auch nur eine Sekunde zu früh zu unterbrechen, kosten solche Unterbrechungen den Herrn Kapitalisten doch sofort ein beträchtliches Sümmchen. Um potentielle Bedrohungen für den reibungslosen Ablauf zu bannen nimmt der Staat keine Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse. Das sich Produzent*innen auf seinem nationalen Standort niederlassen ist überlebenswichtig für den Staat, wenn dabei hier und da ein paar Arbeiter*innen drauf gehen, nimmt er das gerne in Kauf. Die Inhaftierung der Menschen in der Groner Landstraße folgt einer menschenverachtenden Rationalität und könnte deshalb eine grausame Vorschau auf die kommenden Monate sein.
Fight the racist state, it’s cops and white supremacy!
Auch dass der Wohnkomplex hauptsächlich von prekarisierten Migrant*innen bewohnt wird, ist kein Zufall. Aus der systematischen Diskriminierung am Wohnungsmarkt und in der gesamten Gesellschaft folgt notwendigerweise, dass es für Migrant*innen oft keine andere Option gibt, als in solchen Häusern unter furchtbaren Bedingungen zu leben. Auch die Cops sind für die Migrant*innen immer eine potentielle Bedrohung: Über die strukturelle Dimension rassistischer Polizeigewalt, haben die Black Lives Matter Proteste auf der ganzen Welt eine eindeutige Sprache gesprochen! Diese strukturelle Ebene trifft auf eine gesellschaftliche Stimmung, in der Krisenbearbeitung immer mit der Projektion auf Sündenböcke verbunden ist. Diese Projektion ist aber nicht nur eine Diskursfigur, sondern äußert sich in Taten von rassistischen Anfeindungen bis Anschlägen auf Migrant*innen. Um sich dagegen wehren zu können, ist es wichtig Migrantifa-Strukturen aufzubauen und zu stärken, vor allem auch dann, wenn die brandgefährliche rassistische Stimmung ihre Entsprechung in den Parlamenten findet!
Göttinger Mietenwahnsinn
Die katastrophalen Zustände in der Groner Landstraße sind keine Neuigkeit: Nach über 30 Jahren neoliberaler Stadtpolitik gibt der Göttinger Wohnungsmarkt außer Hotels und kernsanierten Wohnungen zu absurden Preisen nicht viel her. Leerstehende Grundstücke in der Innenstadt werden an Investor*innen verscherbelt, gebaut werden in Göttingen kaum neue Wohnungen, soziale schon gar nicht. Alle die nicht bereit – oder schlicht und ergreifend nicht in der Lage – sind, 15 Euro pro Quadratmeter abzudrücken, werden in der Innenstadt lange suchen. Alles was keine Rendite abwirft, wird auf dem privaten Wohnungsmarkt konsequent verdrängt. Das erklärt auch, weshalb die Stadt nicht willens oder dazu in der Lage ist, die vollkommen unterstützenswerte Forderung der Göttinger Gruppe „Open the Hotels“ umzusetzen, den Bewohner*innen der Groner Landstraße in leerstehenden Hotels eine menschenwürdige Quarantäne zu ermöglichen. Für Staat und Kapital lohnt es sich schlicht und ergreifend nicht, die Profitmaximierung für diese Menschen in Gefahr zu bringen. Wenn Wohnraum eine Ware ist, muss sich seine Verwertung eben lohnen.
Corona is a class issue!
Wir werden weiterhin an der Seite der Bewohner*innen für eine solidarische Antwort auf die Krise kämpfen! Dabei ist wichtig zu begreifen, dass in einer Klassengesellschaft, Krisen, Menschen in unterschiedlichem Maß treffen. Um solche Kämpfe nicht alleine als Abwehrkämpfe zu führen, müssen wir das System angreifen, dass solche Schweinereien immer wieder hervor bringt: den Kapitalismus. Eine Linke, die das nicht begreift, wird sich immer wieder mit der gleichen Sisyphusarbeit konfrontiert sehen. Wir brauchen eine selbstbewusste klassenpolitische Linke, die solche Konflikte und Kämpfe mitführt und zuspitzt, sich nicht vor den Faschisten hertreiben lässt und daran arbeitet Antworten zu entwickeln! Das ganz andere Ganze können wir nur gemeinsam aufbauen!
# Fotos: David Speier