Hintergrundbericht zu den Auswirkungen des neuen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) in Bayern.
Man stelle sich folgende Situation vor: In einem Moskauer Künstler- und Szeneviertel kommt es nach jahrelangen schikanösen Personenkontrollen zu Protesten von AnwohnerInnen und AktivistInnen. 1 1/4 Jahre später wird ein Aktivist (52), der selbst nach Angaben von PolizeizeugInnen, ausschließlich verbal seinen Unmut über die Polizeiaktionen kundtat, zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Er wird vor Gericht als Rädelsführer einer gewalttätigen Menge bezeichnet, obwohl von der Menge belegter Weise (Videoaufnahmen) keine körperliche Gewalt ausging. Ein anderer Mensch wird trotz einer Zeugenaussage, die ihm für die Tatzeit ein Alibi gibt, gar zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.
Obwohl der 52-jährige berufstätig ist und vier Kinder großgezogen hat, kann das Gericht keine Anzeichen für eine positive Sozialprognose sehen.
Welche ein Aufschrei ginge durch die westliche Politik und die sie flankierende Presse, für die selbst die Hongkonger StudentInnen, die wochenlang ihren Campus besetzten und die Polizei mit Steinen, Molotowcocktails und Pfeil und Bogen angriffen, noch „Aktivisten der Demokratiebewegung“ sind.
Aber der Vorfall ereignete sich nicht in Russland oder China, sondern in Bayern (BRD), einem Land, in dem jegliche aktive Kritik am Vorgehen der Polizei nach dem neuverfassten Polizeiaufgabengesetz (PAG) zur kriminellen Gewalttat hochstilisiert wird.
Genau dies geschah am sechsten Oktober 2020 im Nürnberger Amtsgericht als zwei Angeklagte sich wegen angeblichen Widerstandshandlungen gegen PolizeibeamtInnen verantworten mussten.
Dass es sich bei diesem Prozess ausschließlich um einen politischen motivierten Schauprozess handelte, wurde allein durch das Plädoyer der Staatsanwaltschaft und später auch durch die Urteilsbegründung klar. Es ging weniger um die Vorfälle an sich, sondern um das, was hätte mutmaßlich passieren können, aber nicht sein darf im Freistaat Bayern.
Der Verurteilte wurde vor Gericht als „Rädelsführer“ einer „im Gleichschritt marschierenden Gruppe“, die „er voll im Griff hatte“, inszeniert. So wurde eine spontane Missfallenskundgebung gegen einen Polizeieinsatz ohne nennenswerte Folgen zur terroristischen Aktion umgedeutet, bei der angeblich Gefahr für Leib und Leben für die eingesetzten BeamtInnen bestand. Der Staatsanwalt bezeichnete den Stadtteil in Nürnberger Nordwesten als „No-Go-Area“ und zog Vergleiche zu den Ausschreitungen von Stuttgart und den Verhältnissen im Leipziger Stadtteil Connewitz.
Dies sind zwar von Anlass und Wirkung her zwei völlig unterschiedliche Ereignisse, haben aber vor allem mit vorliegendem Fall erst mal rein gar nichts zu tun.
Außer, dass jedes mal der Auftritt der Polizei der Anlass war.
Aufrüsten!
Das Bundesinnenministerium beklagt eine zunehmende Gewalt gegen die Polizei und nennt als Grund die allgemeine Zunahme von Gewalt in der Gesellschaft. Dabei werden die Angriffe gegen die Polizei in unzulässiger Weise mit den Angriffen auf Sanitäts- und Rettungsdienste, z. B. durch Gaffer, mengt.
Die Lösung sieht die Politik im Aufrüsten der Staatsgewalt. Der Widerstand gegen den Einsatz von Militär im Inneren erübrigt sich damit langsam. Die Polizei selbst wird zunehmend militarisiert. Nicht nur die Ausrüstung wird ständig um Waffen erweitert, die dem Militär nicht mehr viel nachstehen, auch die Ausbildungsinhalte und das direkte Vorgehen nimmt immer mehr militärischen Charakter an. Bei Großdemonstrationen wie dem G20-Gipfel in Hamburg werden militärische Taktiken der Aufstandsbekämpfung auch gegen große Teile friedlich Demonstrierender eingesetzt.
Es ist also kein Wunder, dass in weiten Teilen der Bevölkerung der Unmut gegen die Polizei wächst.
Zusätzlich wurde mit dem neue Polizeiaufgabengesetz (PAG) eine Gesetzgebung geschaffen, die schon geringfügigste Widerstandshandlungen gegen Polizeikräfte als Straftat bezeichnet. So wurde ein 17jähriger zu einer Jugendstrafe verurteilt, weil er zwei Polizisten in voller Kampfmontur während einer Demonstration angeblich „drohend ansah“. Schon leichtes Berühren von PolizeibeamtInnen, was sich in der Enge großer Menschenmengen wie Demonstrationen oft nicht vermeiden lässt, wird nach dem PAG als gewalttätige Handlung definiert. Kein Wunder, dass die Statistik ein sprunghaftes Ansteigen von Gewalt gegen PolizistInnen verzeichnet.
Auch im Grunde harmlose Handlungen wie das Abbrennen von frei verkäuflichen Signalfeuern (Bengalos) bei Fußballspielen, dem ausgelassenen Feiern von Jugendlichen im Freien und das Zusammensitzen und Biertrinken mit FreundInnen und Bekannten im Park werden unhinterfragt zu strafbaren Handlungen erklärt und dementsprechend sanktioniert.
Diese Kriminalisierung von Bagatelldelikten findet wenig Zustimmung von großen Teilen der Bevölkerung. Allein in München gingen 2018 mehr als 30 000 Menschen gegen das neue PAG auf die Straße, in vielen weiteren Orten kam es zu Protestaktionen und Kundgebungen. Das Gesetz wurde trotzdem durchgepeitscht und ermöglicht jetzt eine drakonische Bestrafung Aller, die sich polizeilicher Willkür entgegenstellen.
Rassismus bei der Polizei
Die Politik beklagt, das immer weniger Menschen Respekt vor den eingesetzten PolizeibeamtInnen haben. Der Legitimitätsverlust von PolizistInnen ist jedoch nicht zuletzt auf das Verhalten der Polizei selbst zurückzuführen.
Dass viele PolizistInnen rassistisch agieren, können viele Menschen tagtäglich am eigenen Leib erfahren. Zu dieser Erkenntnis sind keine keine soziologischen Gutachten, die zu erstellen sich das Innenministerium so beharrlich verweigert, nötig.
Polizei und Militär brauchen ein klares Feindbild. Daraus ergibt sich schon automatisch das sogenannte Profiling als Ausbildungsinhalt. Wie von selbst leitet sich daraus die polizeiliche Praxis des „racial profiling“ ab, die bestimmte Personengruppen zu bevorzugten Opfern polizeilicher Arbeit macht. Das sind natürlich in erster Linie Menschen mit „fremdländischen“ Aussehen.
Für die Betroffenen entsteht nicht selten eine Gefahr für Leib, Leben und Freiheit. Nicht erst der Mord an dem schwarzen US-Amerikaner George Floyd (und vielen, vielen anderen) auf offener Straße zeigt erneut, dass die Polizei zur tödlichen Bedrohung werden kann. In Deutschland ist der Asylsuchende Oury Jalloh in einer Polizeizelle lebendig verbrannt. Verurteilt wurde deshalb niemand, weil selbst die ermittelnden Beamten kein Interesse an der Aufklärung hatten. So kapitulierte schließlich selbst der den Fall untersuchende Richter und sagte in seiner Urteilsbegründung:
„Das was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat und Polizeibeamte, die in besonderem Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht. All diese Beamten, die uns hier belogen haben sind einzelne Beamte, die als Polizisten in diesem Land nichts zu suchen haben“
Leider irrt der Richter: Dies sind keine Einzellfälle, sondern viel mehr die Spitze des Eisbergs. Allenthalben werden faschistisches Netzwerke und Chatgruppen bei der Polizei aufgedeckt. PolizistInnen geben weiterhin Daten von AntifaschistInnen und linken PolitikerInnen direkt aus dem Polizeicomputer an Neonazigruppen weiter.
Der Innenminister Horst Seehofer indes sieht keinen Handlungsbedarf, anhand einer Studie zu untersuchen, inwieweit Rassismus und faschistisches Gedankengut bei der Polizei verbreitet ist. Die ist tatsächlich nicht nötig. Jeder weiß, Rassismus ist in der deutschen Gesellschaft allgegenwärtig und bei der Polizei mit Sicherheit überproportional vorhanden.
Dabei ist Rassismus mit Sicherheit nicht das einzige Problem bei der Polizei, dass auf Vorurteilen beruht, denn das Profiling erweitert sich durchaus auch auf zusätzliche Personengruppen wie mutmaßliche DrogenkonsumentInnen, (linke) Demonstrierende, Obdachlose, Fußballfans oder einfach feiernde Jugendliche. Wer ins Fadenkreuz gerät – heißt ins Muster passt – darf sich dauerhafter polizeilicher Aufmerksamkeit erfreuen. Dass dies auf wenig Gegenliebe von Seiten der Betroffenen stößt, erklärt sich von allein.
Polizeigewalt
Ein weiteres massives Problem ist die ansteigende Zahl polizeilicher Gewalttaten. Auch wenn von offizieller Seite behauptet wird, dass es zunehmende Gewalt gegen die Polizei gäbe, so ist es tatsächlich genau umgekehrt: Diese sind nur die folgerichtigen Reaktionen auf eine immer brutaler vorgehenden Polizei, die schon bei geringsten Anlässen immer härter eingreift und gleichzeitig Bagatelldelikte als Straftat verfolgt.
Durch die verstärkte Ausrüstung, den Inhalten der Polizeiausbildung, dem vorherrschenden Korpsgeist und die weitgehende juristische Absicherung polizeilichen Vorgehens sind gewalttätige Übergriffe durch PolizeibeamtInnen vorprogrammiert, weil in der Regel straffrei.
Die Grundlage dieser wachsenden Polizeigewalt liegt sicherlich auch in der zunehmenden Ausbildung zu AufstandsbekämpfungsspezialistInnen, die ihr Heil eher in militärischen Maßnahmen suchen, als deeskalierend zu wirken. Und man will natürlich ausprobieren, was man gelernt hat. Z. B. die aus dem Kampfsport übernommenen sogenannte Schmerzgriffe – Griffe, die dem Opfer nicht nur starke Schmerzen bereiten, sondern es auch extrem demütigen. Dieses brutale Vorgehen ist unter anderem bewusster Teil einer Polizeitaktik, die „eine gefrorene Situation schaffen“ heißt. Durch besonders martialisches Auftreten soll jeder Widerstand im Keim erstickt werden. Die Opfer sollen durch Schock über die zur Schau getragene Brutalität wie „gefroren“ sein. Diese Taktiken, eigentlich für Geiselnahmen und Zugriffen bei Bandenkriminalität entwickelt, werden nicht selten bei Einsätzen gegen ganz normale Bürger „geübt“. Z. B. auf den „Fridays for future“-Demos gegen jugendliche SitzblockiererInnen (vergl. Bericht über FFF Demo Hamburg).
PolizistInnen, die in voller Kampfmontur am Einsatzort erscheinen, vermitteln ein Gefühl der Bedrohung, nicht der Sicherheit. Deren rüpelhaftes, überhebliches, brutales Vorgehen tut sein Übriges. Besonders die mittlerweile überall sofort aufmarschierenden Sondereinsatzgruppen, wie in Bayern das USK, sorgen bei jeder Gelegenheit für eine Eskalation von Gewalt.
Nur drei Beispiele aus Nürnberg:
- Am 31.5.2017 zeigten die SchülerInnen einer Berufsschule in Nürnberg Zivilcourage und wollten die Abschiebung ihres afghanischen Mitschülers aus dem Unterricht heraus durch eine Sitzblockade verhindern. Anstatt sie zu belobigen, weil sie die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen hatten, in der die Deutschen der Vernichtung ihrer jüdischen MitbürgerInnen tatenlos zugesehen hatten, wurde das USK gegen sie eingesetzt, das die Situation sofort eskalieren ließ. Viele SchülerInnen wurden brutal verletzt. Das Vorgehen dieser Prügeltruppe entsetzte eine breite Öffentlichkeit. Nichtsdestotrotz werden im Anschluss nicht die körperverletzenden BeamtInnen verurteilt, sondern die SchülerInnen; unter anderem wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung, Gefangenenbefreiung und Landfriedensbruch.
- Unter der Theodor-Heuss-Brücke in Nürnberg, Teil des vierspurig befahrbaren Nürnberger Rings, auf dem Tag und Nacht der Verkehr tobt, trafen sich eine Zeit lang kleinere Gruppen von Jugendlichen, um etwas zu chillen oder abzufeiern. Die nächste Wohnsiedlung (Nürnberger Justizvollzugsanstalt) ist hunderte von Metern entfernt. Eigentlich gibt es Niemanden, der sich an diesen Aktivitäten stören könnte, außer natürlich der Polizei. In einer generalstabsmäßig durchgeführten Großaktion – die Szenerie wurde unter anderem mit einem Polizeihubschrauber ausgeleuchtet – wurden die Jugendlichen festgesetzt und die Personalien ohne erkennbaren Anlass kontrolliert. Einem Minderjährigen wurde dabei von einem Polizisten so hart ins Gesicht geschlagen, dass er bewusstlos zu Boden ging. Dienstrechtliche Konsequenzen: keine.
- Noch skandalöser war das Verhalten des USK bei einem Vorfall am Nürnberger Wöhrder See. Die verbale Auseinandersetzung zwischen zwei Jugendlichen nahm diese berüchtigte Schlägertruppe zum Anlass, einen – und das mussten sogar die örtlichen Medien, die sonst unhinterfragt die Polizeiberichte übernehmen, so bezeichnen – „unverhältnismäßigen Gewaltauftritt“ hinzulegen. Mehrere Jugendliche wurden durch zu Boden stoßen und Prügeln mit Schlagstöcken verletzt. Auch zwei zufällig vorbeikommende Mädchen wurden angegriffen und erlitten nicht unerhebliche Blessuren.
Die Polizeisprecherin Elke Schönwald kommentiert den Vorfall mit den zynischen Worten: „Dabei ist unser polizeiliches Einschreiten zuvorderst ein auf Kommunikation und Deeskalation ausgerichtetes Stufenkonzept abgestellt.“
Das klingt wie Hohn angesichts der vorliegenden Tatsachen.
Und in eben diese Reihe skandalöser Polizeiüberriffe reiht sich nun auch der Vorfall am Jamnitzerplatz in Nürnberg und seine juristische Aufarbeitung ein. Nur dass diesmal die Justiz die Rolle übernimmt, klarzustellen, dass das Vorgehen der Polizei in keinster Weise kritisiert werden kann und selbst verbaler Protest als Gewalttätigkeit, mit den dementsprechenden juristischen Folgen, definiert wird. Sie verhängt deshalb die anfangs erwähnten „Terrorurteile“. Terror hier im wahrsten Sinne des Wortes (le terreur: der Schrecken), denn es geht darum, abzuschrecken und jede offen zur Schau getragene Kritik gegen polizeiliches Vorgehen im Gefängnis zu ersticken.
Das ist das Signal, das von diesem Urteil ausgehen soll. Und das gerade in einer Zeit, in der ein rassistischer Vorfall bei der Polizei den anderen jagt, neonazistische Verstrickungen von Polizei und Militär ans Licht kommen und zusätzlich etliche BeamtInnen in Drogenaktivitäten verwickelt sind. Es ist ein Urteil zur rechten Zeit. Und deshalb müssen alle fortschrittlichen Menschen, die noch einigermaßen bei Verstand sind, gegen dieses Urteil Sturm laufen. Jetzt laufen die ersten Prozesse, die das PAG Wirklichkeit werden lassen und uns dem totalitären Staat wieder ein gutes Stück näher bringen.
Einmal mehr ist wahr: Gemeint sind wir alle. Diese Gesetzgebung kann jedeN ins Gefängnis bringen.
Diese Urteile dürfen so nicht stehenbleiben. Dagegen muss sich breiter Widerstand entwickeln.