Von: Pierre Rouge
Eine Ergänzung zum Diskussionsbeitrag des Roten Aufbau Hamburg zum Thema linksradikal-sein als Hobby im Lower Class Magazine.
Wir leben in einer Zeit, in der es immer mehr enttabuisiert wird, über psychische Probleme zu sprechen und sich ihnen anzunehmen. Während unsere Mütter und Väter tendenziell solche Sachen mit sich selbst oder am Tresen ausgemacht haben, ist es mittlerweile völlig normal, sich professionelle Hilfe zu suchen, eben auch dann, wenn es nicht völlig offensichtlich ist, was da los ist. Auch innerhalb der Linken geben sich gerne alle aufgeklärt und offen. Doch es gibt Dynamiken, die behindern, dass linke AktivistInnen ihre psychischen Probleme angehen.
Das Problem ist, denke ich, überall zu sehen, wenn man bisschen genauer hinschaut. Es müssten eigentlich allen, die das lesen, Beispiele in ihrem Umfeld einfallen. Oft treffen sich Gruppen wöchentlich und ein Großteil der Anwesenden ist gestresst, müde, ausgelaugt. Das alltägliche Leben, das wir uns antun müssen, ist eine Zumutung für die Psyche. Wir rennen von Termin zu Termin und vergessen uns oft dabei selbst. Arbeit und Privatleben sind meist schon stressig genug eigentlich. Da wir aber ernsthafte linke Politik machen wollen, jammern wir nicht und gehen weiterhin zu den Treffen. In diesem System ist der Alltag ein permanenter Kampf gegen die eigenen Bedürfnisse, manchmal mehr, manchmal weniger. Wir als Linke wissen ja woran das liegt und was dagegen zu machen wäre, im großen und Ganzen natürlich. Wir denken weniger daran, was das eigentlich bei uns persönlich im einzelnen anrichtet. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene verwundert es nicht, dass immer mehr Menschen an Angststörungen, Depressionen, Psychosen, etc. leiden. Für Linke liegt es auf der Hand: Der Kapitalismus in seiner modernen Ausprägung sorgt dafür. Also kämpfen wir für seine Abschaffung und am Ende wird es auch uns gut damit gehen. Doch die Uhr der menschlichen Psyche tickt schneller. Die Rechnung geht nicht auf. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse wirken mit einer Brutalität auf unsere Psyche, die einen verrückt werden lässt. Also sollten wir uns öfter erst einmal um uns selbst kümmern. Wer ein gebrochenes Bein hat, läuft ja auf der Demo auch nicht in der ersten Reihe.
Nehmen wir unsere Anspruchshaltung zurück, persönlich für die Rettung der Welt zuständig zu sein. Wir alle kennen diese GenossInnen, die nicht mehr runterkommen können, weil sie sich seit Jahren an einen Aktivismus gewöhnt haben, der sie kaputt macht. Burn-out gibt es eben nicht nur im Büro. Die Krux ist, dass die beruflichen Belastungen eher reflektiert und so gut es geht zurückgefahren werden, weil Lohnarbeit eh Verbrechen. Gleichzeitig haben viele Betriebe ein Interesse an der Gesundhaltung ihrer MitarbeiterInnen und tun einiges dafür. In der linken Szene kümmert man sich dagegen zu wenig darum. Man geht oft davon aus, dass es ja alle selber wissen müssen, wie sehr sie sich reinstressen. Von der Arbeit macht man gerne Pause, vom Weltretten erlaubt man sich keine. Denn die Anspruchshaltung an sich selbst ist riesig. Gerade in einem Land, das so aussieht, als sei es fast verloren. Linke sind hier Mangelware. Also muss man, wenn man Teil dieser bedrohten Art ist, sich besonders reinhängen, damit das was wird. Gleichzeitig wird das in der Szene honoriert. Hohen Status genießen Personen, die besonders viel machen, oft auftauchen und vieles in sich vereinen: Reden halten, Treffen moderieren, Veranstaltungen organisieren, Spenden sammeln, Pressearbeit machen, Sportlich sein, für andere da sein, etc. pp. Was das angeht, gibt es kaum eine Abgrenzung zum postmodernen Ideal alles hinzubekommen, egal wie hoch die Anforderungen sind. Auch in der Szene ist man seines Glückes Schmied. Es gilt Quantität vor Qualität. Wer viel macht, kann sich verdient ausruhen und muss sich keine Kritik gefallen lassen, von Leuten die weniger machen. Denn die sollen doch selber mal was machen und sich nicht nur beschweren.
Diese Dynamik würden natürlich die wenigsten so offenlegen. Mit ein bisschen Abstand betrachtet ist es ziemlich klar, wie es läuft. Es ist eine Dynamik, die permanent behindert, dass sich Leute zurück nehmen und in Ruhe Gedanken machen können. Gerade für angeschlagene Personen ist es teilweise noch schwerer sich dem zu entziehen. Und so passiert meistens erst was, wenn die Katastrophe schon nah ist. Viele verheizen sich in ihren Zwanzigern, geraten so in eine psychische Krise, bewältigen sie, haben danach keinen Bock mehr auf diese Art des Aktivismus und sind raus, weil sie mal gemerkt haben, wie schön das Leben sein kann oder andere Aufgaben haben (bspw. Kinder). So verliert die Linke fähige Leute im besten Alter. Oft ist es also ein entweder oder: Vollgas-Aktivismus oder kompletter Rückzug. Gesünder für die Psyche und besser für die Linke wäre etwas dazwischen.
Wie kommt man aus der Nummer raus? Ein erster Schritt wäre es, zumindest mal so fortschrittlich wie moderne Unternehmen zu werden, und sich um die geistige Gesundheit seiner GenossInnen zu sorgen. Schaut euch um und sprecht die Leute an. Kritisiert das Status- und Leistungsdenken in euren Gruppen nicht nur abstrakt. Werdet konkret darin. Legt Wert auf Qualität und lasst Leute sich nicht hinter ihrem „ich mach viel und du nicht“- Argument verstecken. Wendet das materialistische Denken auch auf euch als Individuen an und erkennt, dass die Last der Welt nicht allein auf euren Schultern lastet. Nehmt euch Auszeiten. Nehmt euch selbst nicht so wichtig. Keine Gruppe wird daran zugrunde gehen, dass einzelne ein paar Monate für sich brauchen, um wieder klar zu kommen. Und wenn doch, müsst ihr euch ernsthaft Fragen, ob nicht etwas verändert werden muss. Eine politische Gruppe besteht aus autonomen Individuen und nicht aus, von einer Person abhängigen, SoldatInnen. Sprecht in euren Gruppen offen über psychische Leiden und versteht dadurch einander besser, ohne aber eine Selbsthilfegruppe zu werden. Oft reicht eine kurze Info, was bei einem los ist. Lasst euch von euren GenossInnen auch mal was sagen. Die Verantwortung liegt weder komplett beim Kollektiv noch komplett beim Individuum. Denn am Ende ist man es selbst, der sich aus den Fängen seiner psychischen Leiden befreien muss. Das kann einem niemand komplett abnehmen.