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Reisebericht: Bildungsreise im Baskenland

Wir arbeiten derzeit an einer kleinen Serie über das Baskenland. Der erste Teil enthält einen politischen Reisebericht, des Weiteren sollen ein Interview mit einem Vertreter der baskischen Linken und ein Hintergrundartikel zur Thematik erscheinen.


von Rudi E. Deeg

Unter dem Titel „Überwundenes Schweigen? – Soziale Kämpfe um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ organisierte die Initiative basis.bildung im Juni diesen Jahres eine politische Bildungsreise ins Baskenland.
Zum Glück waren noch zwei Plätzchen frei für uns und alles wurde schnell arrangiert.
Nach ein paar Wochen Stöbern in der Einführungsliteratur zur Linken im Baskenland saßen wir schon in unseren Flugzeugsitzen mit dem Reiseziel Bilbo1 (Bilbao). Euskal Herria das Baskenland – unterteilt sich in sieben historische Regionen, die Autonome Gemeinschaft Baskenland, die Autonome Gemeinschaft Navarra (beide gehören zum spanischen Staat) und das französische Baskenland mit den drei Region Lapurdi, Zuberoa und Benafarroa.
Die Autonome Gemeinschaft Baskenland unterteilt sich wiederum in drei weitere Provinzen, die Provinz Bizkaia (Viscaya) mit der Hauptstadt Bilbo (Bilbao), die Provinz Gipuzkoa mit der Hauptstadt Donostia (San Sebastián) und die Provinz Araba mit der Hauptstadt Gasteiz (Vitoria). Von den 2,7 Mio. Einwohnern des Baskenlandes sprechen nur noch 700.000 bis 800.000 die baskische Sprache Euskara. Für die Bask:innen und auch die baskische Linke stellt das Euskara einen Dreh- und Angelpunkt ihrer Identität und auch ihrer Unabhängigkeitsbewegung dar. Insbesondere die repressive Politik der Franquisten stellte das Sprechen und Lehren der baskischen Sprache unter Verbot. Umso mehr gewann die Sprache einen symbolischen und einen widerständigen Charakter im Kampf gegen das als kolonial betrachtete Franco-Regime.

Quelle: https://www.flaggenlexikon.de/fspanbsk.htm

Unser erster Tag in Bilbo begann mit einem alternativen historischen Stadtrundgang durch die Altstadt. Betreut wurden wir von einem gastfreundlichen Paar des Kulturvereins Baskale2, welches vor über 20 Jahren den Norden Deutschlands für seine neue Heimat aufgegeben hat.
Aufgrund der reichen Erzvorkommen im Umland von Bilbo ist die von grünen Bergen umgebene Industrie- und Hafenstadt während der Industrialisierung geradezu explodiert und zählt heute ca. 350.000 Einwohner:innen. Der Großteil des abgetragenen Erzes wurde unverarbeitet auf Schiffe nach England verladen.
Während des Spazierens durch die großen und kleinen Straßen der Stadt wurde mehr und mehr erkennbar, dass hier eine starke linke Unabhängigkeitsbewegung beheimatet ist. An jedem dritten Balkon hängt eine „Ongi Etorri Errefuxiatuak“-Fahne (Refugees welcome), es gibt zahllose Sticker an Laternenpfosten, die die Solidarität mit allen unterdrückten Völkern der Erde ausdrücken, großformatige Wandbilder sowie Plakate von Antifa-Veranstaltungen; und auch mit Hammer-und-Sichel-Graffiti hat die Bevölkerung nicht gegeizt.

Einen Vertreter der baskischen Linken (Ezker Abertzalea), dem ersten Referenten unserer Reise, trafen wir an diesem Nachmittag. In einem kleinen Seminarraum erzählte er uns seine eigene Geschichte bis zu seiner Zeit als politischer Gefangener. Wir stellten Fragen um Fragen, um besser zu verstehen, wie die baskische Unabhängigkeitsbewegung während des Franquismus und nach Francos Tod 1975 für ihre Ziele kämpfte. Im Laufe des Abends analysierten wir die Geschichte und die Gegenwart der Baskischen Linken, ihre Entwicklungslinien sowie ihre Perspektiven und Strategien für eine Zeit, in der sich die gesellschaftlichen Widersprüche und Krisentendenzen weiter verschärfen werden.
Am nächsten Tag fuhren wir mit einem Bus schon morgens nach Gernika-Lumo (Guernica y Luno). Nach einem Rundgang im Friedens-Museum von Gernika3 setzen wir unseren Aufenthalt in der kleinen Stadt mit einem antifaschistischen-historischen Stadtrundgang fort. Der Luftangriff auf Gernika am 26. April 1937 (ein Marktmontag) durch Kampfflugzeuge der deutschen Legion Condor und der italienischen Aviazione Legionaria war eine militärische Operation während des Spanienkriegs (1936–39), der gekennzeichnet war durch ein dreistündiges Dauerbombardement mit 31 Tonnen Spreng-, Splitter- und Brandbomben und anschließenden Tieffliegerangriffen, über das zwei Tage später der britische Journalist George Steer berichtete. Pablo Picasso, der zur selben Zeit in Paris bei einer Weltausstellung arbeitete, gab einem seiner Werke den Namen „Guernica“, als er von den Geschehnissen in Gernika gelesen hatte. Picasso verfügte, dass sein Bild erst dann nach Spanien kommen solle, wenn das Land wieder eine Republik sei.

Zwar befindet es sich heute im Land, aber die spanische Regierung behält es in Madrid – und eine Republik ist Spanien bis heute nicht. Bis heute kämpfen deshalb die Bask:innen dafür, dass das Bild nach Gernika kommt. Nach dem antifaschistischen-historischen Stadtrundgang besuchten wir die Initiative Batzorde-Memoria4 aus Gernika, deren Mitglieder seit vielen Jahren in der lokalen Erinnerungsarbeit aktiv sind. An dieser Stelle wurde uns deutlich, wie wenig Interesse der spanische Staat an einer Aufarbeitung der Geschichte zeigt und wie sehr die Memoria-Arbeit abhängig ist vom ehrenamtlichen Engagement.

Unser nächstes Tagesausflugsziel war die Stadt Santander in der Nachbarregion Kantabrien. Dort erzählte uns die Referentin der AGE (Archivo, Guerra y Exilio)5 an einem Denkmal für die Maquis von ihrer Familiengeschichte. Der Begriff „Maquis“ bezeichnet Partisan:innen, die sich nach dem Spanienkrieg entschieden haben, in die Berge zu ziehen, um weiter gegen die Franco-Diktatur zu kämpfen, eine heute kaum noch bekannte Episode des antifaschistischen Widerstands in Spanien. Wir tauchten noch etwas tiefer in die Geschichte ein, als die Referentin mit uns an einen küstennahen Friedhof fuhr, auf dem Massenexekutionen durchgeführt und Massengräber für Widerstandskämpfer:innen ausgehoben wurden. Die Rückfahrt führte uns in das ehemalige Bergbaugebiet La Arboleda – Zeugnis der industriellen Geschichte der Region –, in dem auch der Geburtsort der legendären Vorsitzenden der spanischen KP, Dolores Ibárruri „La Passionara“, liegt.

Der nächste Tag begann wieder mit einer frühen Busabfahrt und dem gut gemeinten Rat, feste Schuhe anzuziehen. Unser Ziel war Elgeta in der Provinz Gipuzkoa. Die Stadt mit ihrer geografischen Lage ist ein strategisch wichtiger Ort und wiederholter Schauplatz heftiger militärischer Auseinandersetzungen gewesen. Nach dem Spanienkrieg wurde Elgeta zum Mythos des baskischen Widerstands. Knapp dreihundert Meter von der Stelle, an der wir außerhalb der Stadt parkten, beginnt direkt hinter dem Kiefernwald ein Buchenhain, der heute die gut sichtbaren und wiederhergestellten Überreste der Verteidigungslinien der republikanischen Verbände beherbergt. Mit Informationstafeln zu den konkreten Geschehnissen vor Ort und im Gelände versehen, machen Sie ein Stück Geschichte sehr anschaulich erfahrbar. Errichtet wurden die mehrfach gestaffelten Schützengräben im Frühjahr 1937. Nachdem wir die Steigung entlang der Schützengräben genommen hatten, verstanden wir, weshalb die Franquisten Probleme hatten, den baskischen Widerstand niederzuschlagen, der sich unter Ausnutzung des Terrains in den Bergen verschanzt hatte.6 Der Wanderausflug wurde von einem Regenschauer unterbrochen und wir entschieden uns, direkt zum Museum von Elgeta weiterzufahren. Dort konnten wir die Hinterlassenschaften des Krieges besichtigen, Waffen, Ausrüstungsgegenstände und andere Exponate, die sämtlich aus der Region stammen und dort ausgegraben und gesammelt wurden. Auch wurde uns die Geschichte der Stadt noch offener dargelegt und die Heterogenität der bewaffneten Widerstandstruppen bewusst: Der Widerstand teilte sich in viele Bataillone, in republikanische Truppen, baskisch-nationalistische Truppen, sozialistische Truppen, anarchistische Truppen usw.
Auf dem Rückweg von Elgeta nach Bilbo machten wir einen kleinen Abstecher an der Küste entlang, um nach Lemoiz zu kommen. Der Bau des Kernkraftwerkes Lemóniz begann am 1. März 1974 durch das private Energieunternehmen Iberdrola, ohne dass zuvor irgendeine Erlaubnis eingeholt und ohne dass Sicherheitsmaßnahmen geprüft worden wären. Drei Jahre nach Baubeginn, aber noch im Baustadium, griff die bewaffnete Widerstandsgruppe ETA (Euskadi ta Askatasuna, baskisch für „Baskenland und Freiheit“) das Kraftwerk mit Waffengewalt an. Dabei starb bei einer Zündung auf dem Gebäudedach eines der Reaktoren der Chefingenieur des Projekts. Ein Jahr später, am 8. März 1978, wurde eine Bombe im Dampferzeugerraum gezündet. Die Bombe verursachte den Tod von zwei Arbeitern, 14 weitere wurden verletzt. Dabei entstand ein Schaden von zwei bis sechs Millionen Dollar. Am 13. Juni 1979 wurde eine weitere Bombe der ETA in der Turbinenhalle gezündet. 25 Minuten nach der Bombenwarnung explodierte sie. Dabei kam ein Arbeiter ums Leben und der gesamte Turbinensatz wurde zerstört. Nach den Angriffen wurde der Bau der Reaktorblöcke 1984 endgültig eingestellt und das Kraftwerk nie in Betrieb genommen.

Nach dem Frühstück trafen wir uns am nächsten Tag in Bilbo mit einem Vertreter der CNT (Confederación Nacional del Trabajo)7, einer traditionsreichen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft. Bevor wir zur Diskussion übergingen, hörten wir einen Vortrag zur Geschichte der baskischen und spanischen Gewerkschaften und deren Verbot im Franquismus an. Während der Franco-Diktatur waren nur sogenannte vertikale Gewerkschaften erlaubt. Nach Francos Tod 1975, der sogenannten Transición und der Amnestiegesetzgebung 1976 sowie dem „Moncloa-Abkommen“ von 1977, veränderte sich die politische Lage und die Gewerkschaften konnten zumindest zurück in die Legalität. Heute sind immer noch klassenbewusste Gewerkschaftskämpfe im Baskenland zu beobachten – etwa 30 % aller Streiks in Spanien finden dort statt – und auch politische und solidarische Streiks sind Mittel, die von den Gewerkschaften nicht ausgeschlossen werden.
Am letzten Ausflugstag unserer Bildungsreise verschlug es uns in den Süden nach Vitoria-Gasteiz, Hauptstadt der Provinz Araba. Der thematische Schwerpunkt lag hier auf dem Polizei-Massaker am 3. März 1976. Wir trafen uns mit einer Vertreterin der lokalen Memoria-Initiative 3M8. Nach einem kurzen Besuch in dem Vereinsbüro der Memoria-Gruppe erzählte uns die Referentin an einem Denkmal nahe der Kirche die Geschichte des Polizei-Massakers, der größten Aggression in der Stadtgeschichte gegen die Arbeiterklasse – wohl gemerkt ein Jahr nach Francos Tod! Als Folge der Schüsse der spanischen Polizei bei der Räumung einer zuvor mit Gas angegriffenen Kirche, in der eine Versammlung streikender Arbeiter stattfand, wurden fünf Arbeiter getötet und mehr als hundert verletzt, die meisten von ihnen durch Kugeln. Nach zwei langen Streikmonaten und zwei Tagen Generalstreik wurde am 3. März ein Tag des Totalstreiks ausgerufen. Dieser Streik wurde von praktisch allen Arbeitern unterstützt, sowohl von Unternehmen im Kampf als auch von anderen, die ihn solidarisch unterstützten, sowie von Handel, Dienstleistungen, Studenten, Hausfrauen und Bürgern im Allgemeinen. Von diesem Morgen an griff die Polizei angesichts jeder Andeutung einer Einigung oder Demonstration hart ein, schoss sogar scharf und verursachte die ersten Schusswunden.

In der Kirche von San Francisco de Asís im Stadtteil Zaramaga, dem Ort, früher Treffpunkt der Vertretungskommissionen der kämpfenden Unternehmen, wurde für fünf Uhr nachmittags eine informative Generalversammlung einberufen, um über die neuen Entwicklungen zu berichten. Die Polizei ließ „vorsätzlich“ zu, dass die Kirche mit etwa fünftausend Menschen gefüllt wurde, während eine ähnliche Anzahl draußen blieb, und in diesem Moment befahl sie, die Kirche zu evakuieren. Die dort versammelte Menge weigerte sich aus Angst, auf ihrem Weg nach draußen angegriffen und geschlagen zu werden. Um mit der Räumung fortzufahren, griff die Polizei die Kirche mit Tränengas an und stürmte sie, so dass die dort versammelten Gefangenen in Panik und Erstickungsangst zu fliehen begannen, woraufhin die Polizei wahllos auf diejenigen einschlug und schoss, die versuchten zu entkommen. Das Ergebnis: fünf getötete Arbeiter und etwa hundert verletzte, viele von ihnen schwer. Die Polizei gratulierte sich selbst dafür, mehr als tausend Schüsse abgefeuert, ein Massaker angerichtet und zu den schlimmsten Prügelstrafen der Geschichte beigetragen zu haben. Die vorhandenen Aufnahmen wurden über die UKW-Frequenz des Polizeifunks gesammelt und sind heute erhalten.
Nach mehreren Rundgängen durch verschiedene Gerichte und Tribunale wurde schließlich jede Klage bei der Militärgerichtsbarkeit abgewiesen, die, auch wenn sie erkannte, dass es sich bei den betrachteten Tatsachen grundsätzlich um Tötungsdelikte handelte, eine Einstellungsverfügung erließ. Bis heute hat der spanische Staat den Fall der fünf Ermordeten weder juristisch noch politisch aufgearbeitet. Die Polizei ermordete sogar bei nachfolgenden Protesten noch zwei weitere Menschen. Ein eindrucksvolles Wandbild an einem Hochhaus der näheren Umgebung der Kirche schildert in verschiedenen Stationen die Geschichte dieser Ereignisse.


An unserem letzten Abend besuchten wir Errekaleor, ein besetztes Barrio/Viertel und trafen uns mit Vertreter:innen der ca. 200 Bewohner:innen und Aktivist:innen dieses Wohnprojekts. Bekannt ist Errekaleor für Murals, seine bemalten Hauswände. Wie in den republikanischen Vierteln Nordirlands zieren über 20 Gemälde, teilweise von international bekannten Künstler:innen, die Häuser des besetzten Barrios in politischer und künstlerischer Absicht. Ein angeregter Austausch entstand zwischen Bewohner:innen und Besucher:innen bei einer Diskussion über die unterschiedlichen Wohnprojektformen und die damit verbundene politische Arbeit. Nach einem herzlichen Abschied fuhren wir zurück nach Bilbo, um ein letztes Mal in den Tavernas gemeinsam anzustoßen und uns dann zu verabschieden.


Zurück bleiben unzählige Eindrücke und das Gefühl, trotz der immensen Fülle dieser Tage nur an der Oberfläche einer so geschichtsträchtigen und politisch stark bewegten Region in Europa gekratzt zu haben. Wir freuen uns schon jetzt auf die nächste Reise ins Baskenland, um das Gelernte zu vertiefen und die Menschen wiederzusehen, die so gastfreundlich sind.


1 Bewusst wird die baskische Schreibweise verwendet.

2 https://baskale-elkarte.blogspot.com/
Weiterführende Informationen zum Baskenland finden sich im Portal https://www.baskultur.info

3 https://www.museodelapaz.org/

4 https://guernicagernikara.eus/gernika-batzordea-dokumentala/

5 https://age-derechos.blogspot.com/

6 Interessierte können die aufbereiteten Informationen hier online einsehen: https://elgetamemoria.com/intxorta/intxortaList.html

7 https://www.cnt.es/

8 http://www.martxoak3.org/