von Jan Tillmanns
Jahrzehntelang war der Kampf der baskischen (abertzalen) Linken für ein unabhängiges und sozialistisches Baskenland vom bewaffneten Konflikt zwischen der ETA1 und dem spanischen Staat überlagert. Eine Veränderung ihrer politischen Strategie bedeutete vor etwas mehr als zehn Jahren die Abkehr vom bewaffneten Kampf. Dieser führte schließlich 2018 zur endgültigen Auflösung der ETA. Damit endete der längste militante Kampf einer revolutionären Befreiungsbewegung in Europa. Das Ende dieser historischen Etappe veränderte auch die politische Landkarte im Baskenland.
Warum es die baskische Linke in ihrer alten Version nicht mehr gibt, welche Strategien die verschiedenen Strömungen in der abertzalen Linken verfolgen und wieso im Baskenland nicht von einem Friedensprozess gesprochen werden kann: eine Bestandsaufnahme.
Nach dem Scheitern mehrerer Verhandlungs- und Friedensinitiativen in den Jahren 1989, 1998/99 und 2006/2007, sowohl an der starren Haltung des spanischen Staates als auch an den „Hardlinern“ in der ETA, verschärfte der Staat ab Ende der 1990er Jahre seine Repressionen massiv. Unter der Ägide des international bekannten Untersuchungsrichters Baltasar Garzón wurden mit der Doktrin „Alles ist ETA“2 Zug um Zug fast alle Organisationen der baskischen Linken verboten. Ihre Aktivist*innen wurden für ihr politisches Engagement eingesperrt sowie in vielen Fällen gefoltert (siehe Film „Bi Arnas“3) sowie ihre Infrastruktur weitgehend zerschlagen. An eine institutionelle politische Partizipation war nicht zu denken. In den 2000er Jahren befand sich die baskische Gesellschaft daher in einem permanenten Ausnahmezustand.
In dieser Situation wurde von einem engen Personenkreis um den ehemaligen Sprecher der Partei BATASUNA4, Arnaldo Otegi, eine neue, einseitige Strategie zur Lösung des Konflikts im Baskenland entwickelt. Diese sah einerseits die Beendigung des bewaffneten Kampfes durch die ETA und deren Auflösung vor, andererseits sollte die Fortsetzung des politischen Kampfes von nun an innerhalb legalistischer und gewaltfreier Formen stattfinden. Diese wurden als Notwendigkeit betrachtet, um überhaupt wieder politisch handlungsfähig zu werden. Zunächst wurde diese Strategie innerhalb der politischen Basis, in den Strukturen der ETA und im Kollektiv der baskischen politischen Gefangenen (EPPK)5 diskutiert. Eine große Mehrheit entschied sich schließlich für die vorgeschlagene Strategieveränderung.
Hinein in die Institutionen!
Am 09. Februar 2012 betrat mit SORTU6 ein neuer politischer Akteur die Bühne, der die Nachfolge der verbotenen Partei BATASUNA antreten sollte. Mit der sozialdemokratischen Eusko Alkartasuna, der marxistischen Alternatiba und der Partei Aralar bildete Sortu die Parteienkoalition EH Bildu7, die mit der Zeit zunehmend als eigenständige Partei auftreten sollte.
SORTUs Parteiziele sind nach ihrem Programm „ein Bruch mit dem kapitalistischen und patriarchalen System sowie der Aufbau einer völlig anderen, auf partizipativer Demokratie beruhenden Gesellschaft“. Auf der Grundlage ideologischer Konfrontation, institutioneller Vertretung und gewerkschaftlicher Mobilisierung will SORTU neue Mehrheiten für Selbstbestimmung und eine andere Gesellschaftsform erreichen. Nach Aussagen von Arnaldo Otegi komme der abertzalen Linken die Aufgabe der Bildung eines „historischen Blocks“ zu, an deren Spitze sie zur Realisierung eines fortschrittlichen Gesellschaftsprojekts stehen müsse.
Seit ihrer Gründung sind sowohl die Partei SORTU als auch die Wahlkoalition EH BILDU in nahezu alle Institutionen in Hegoalde8, den spanischen Teil des Baskenlands, zurückgekehrt. In der Provinz Gipuzkoa sowie in der Autonomen Gemeinschaft Navarra-Nafarroa war sie in unterschiedlichen Mitte-Links-Koalitionen an der Regierung beteiligt. In Donostia-San Sebastian und Iruñea-Pamplona stellte sie für jeweils eine Legislaturperiode den Bürgermeister. Aus den Wahlen zur Comunidad Autonoma Vasco (Autonome Baskische Gemeinschaft) im Juli 2020 ging das Wahlbündnis EH BILDU als zweitstärkste Kraft (27,87 %) mit deutlichen Stimmenzuwächsen (6,77 %) hervor. Für diesen Zuwachs scheinen unterschiedliche Faktoren eine Rolle zu spielen. Ihren Kurswechsel scheint ein großer Teil der abertzalen Linken mitzutragen. Darüber hinaus scheint sie mit der Abkehr von politischer Gewalt weitere Personenkreise jenseits der eigenen Bewegung anzusprechen.
Dazu tragen sicher auch Veränderungen im Charakter der Partei bei. Im Vergleich zu ihrer Vorgänger-Organisation Batasuna und infolge des Strategiewechsels hat sie ihre Sprache verändert. Statt von Unabhängigkeit sprechen ihre Protagonisten heute von „demokratischer Selbstbestimmung“ oder „Souveränität“. Der Begriff „Sozialismus“ scheint aus dem Vokabular (weitgehend) gestrichen worden zu sein. Auch das äußere Erscheinungsbild wurde von jedweder traditionellen sozialistischen Symbolik bereinigt.
Bei BATASUNA traf die Basis Entscheidungen bezüglich des politischen Prozesses und wählte Delegierte zur „mesa nacional“ (nationaler Tisch, eine Art kollektiver Parteivorstand), weshalb die Partei wesentlich transparenter erschien. Im Vergleich dazu ist SORTU heute eine Partei mit Mitgliedern, Parteibüros und Angestellten, bei der politische Entscheidungen in den jeweiligen Gremien getroffen werden.
Welche ihrer programmatischen Ziele konnte die baskische Linke bisher in konkrete Projekte umsetzen?
Aufgrund ihrer starken lokalen Verankerung in den ländlichen Gemeinden und Kleinstädten der Provinzen Gipuzkoa und Navarra – keine andere Partei im Baskenland stellt mehr Gemeinderäte – versucht sie, vor Ort ihre Vorstellung von einer anderen Gesellschaft umzusetzen. In der gipuzkoanischen Kleinstadt Orrereta-Renteria beispielsweise regiert EH BILDU seit einigen Jahren gemeinsam mit Unidos Podemos (UP)9. Gemeinsam und unter Einbeziehung der Bevölkerung wurden in der ehemaligen Industriestadt mehrere munizipalistische Projekte initiiert. In der Einrichtung „Haus der Frauen“ finden Bildungs- und Beratungsangebote von und für Frauen statt. Verwaltet wird das Projekt in einem Zusammenspiel zwischen der Stadtverwaltung und der lokalen feministischen Bewegung. Auf dem Sektor der lokalen Wirtschaftsförderung unterstützt die Kommune junge Unternehmer*innen bei der regionalen und nachhaltigen Verankerung ihrer Produkte mit der Bereitstellung von Infrastruktur, der Vernetzung mit anderen Akteuren und der Existenzgründung unter genossenschaftlichen Rahmenbedingungen.
In Irunea-Pamplona konnte die von den Abertzalen geführte Stadtregierung (EH BILDU, PNV10, Podemos11, Vereinigte Linke12) die Räumung des Mausoleums für die franquistischen Generäle Mola und Sanjurjo als einen großen politischen Erfolg verbuchen. Dies geschah nicht mit viel medialem Getöse, so wie der Räumung des Mausoleums von Franco durch die spanische Regierung (Pedro Sanchez, PSOE13) in Madrid, sondern durch bedachte Verhandlungen mit der Kirche, den Familien und anderen Beteiligten. Allerdings musste EH Bildu auch einige Rückschläge hinnehmen. Die von ihr geführte Provinzregierung in Gipuzkoa wollte ein Recycling-Konzept nach bundesdeutschem Vorbild einführen, scheiterte aber bei ihrem Vorgehen sowohl an ihren politischen Gegnern als auch an der gesellschaftlich dominierenden Wegwerfkultur. Auf nationaler Ebene unterstützt EH Bildu die Minderheitsregierung von Pedro Sánchez, bestehend aus PSOE und UP. Dafür wird sie aus dem radikaleren Teil der Bewegung heftig kritisiert. In deren Augen geht EH Bildu nicht nur zu viele und weitreichende Zugeständnisse ein, wie beispielsweise bei der Zustimmung zum spanischen Haushalt, sondern werfe viele ehemalige Grundwerte der Unabhängigkeitslinken über Bord. Bestandteile des Haushaltsplans sind sowohl die Finanzierung des korrupten Königshauses, der im Baskenland verhassten paramilitärischen Guardia Civil, die Abwehr von Geflüchteten in den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta als auch ökologisch fragwürdige Infrastrukturprojekte wie der Schnellzug TAV.
Die Verantwortlichen bei EH Bildu verweisen bei ihrer Argumentation auf ihr Ziel, möglichst weitreichende Verbesserungen für die politischen Gefangenen zu erreichen, wie beispielsweise die Unterbringung in heimatnahen Knästen.14
Zurück auf die Straße!
Im Frühjahr 2016 trat mit „Amnistia Ta Askatasuna – ATA“15 erstmals eine Organisation in Erscheinung, die sich in Dissidenz zur seit 2012 bestehenden neuen politischen Linie von SORTU verortet. Die Gründung von ATA ließ die Risse nun klar deutlich werden, die sich aufgrund des Strategiewechsels in den vorhergehenden Jahren in Teilen der Bewegung gebildet hatten. Viele ihrer Aktivist*innen wollten den legalistischen Kurs, den Schwenk in die politische Mitte und die Vehemenz, mit der SORTU in die Institutionen zurückkehrte, nicht akzeptieren. Die Aufgabe der zentralen und traditionellen Forderung nach Amnestie für die politischen Gefangenen durch SORTU bestärkten schließlich den Bruch, der zur Gründung von ATA führen sollte. ATA ist in einem Netzwerk aus Einzelpersonen und lokalen Gruppen organisiert. Unterstützung erfährt sie unter anderem aus Teilen der Memoria-Bewegung, von antifaschistischen Initiativen, sowie von mehreren ML-Gruppen. In den vergangenen Jahren bestand der Schwerpunkt der politischen Arbeit von ATA in der Amnestie-Frage und der Situation der politischen Gefangen. Während sich bei ATA viele Aktivist*innen beteiligten, die bereits viele Jahre politisch in der baskischen Linken involviert waren, hat sich in der GKS16 eine neue junge Generation organisiert. Die GKS wurde 2019 gegründet und ist mittlerweile in über das gesamte Baskenland verteilte Ortsgruppen organisiert. Einen Aufwind erlebte die Gruppe im Zuge der politischen Restriktionen und der neuerlichen ökonomischen Krise (im Baskenland herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von rund 40 %). GKS ist sehr stark an den Universitäten und in den Gaztexes (selbstverwaltete Jugendhäuser) vertreten. In den Studierendenstreiks im Frühjahr dieses Jahres konnte sie erste kleine politische Erfolge erringen und droht bei der Mobilisierung von jungen Menschen mittlerweile ERNAI, der Jugendorganisation von SORTU/EH Bildu, den Rang abzulaufen. So wird sie von EH Bildu scheinbar seit einigen Monaten als ernstzunehmende Bedrohung wahrgenommen. Erste kleine lokale Machtproben stellte GKS bei der Durchsetzung von Txosnas währende der Jaiaks – also von Ständen während der Fiestas – im Sommer dieses Jahres. Ideologisch vertritt GKS orthodox-marxistische Positionen. Mit ihrer Praxis der sozialen Mobilisierung auf der Straße spricht sie seit ihrer Gründung verstärkt eine jüngere Generation von Aktivist*innen an, die einer institutionellen Form von politischer Praxis kritisch oder ablehnend gegenüber steht. Derzeit bestehen ihre Ziele zudem im Aufbau einer eigenen feministischen Organisierung sowie der Gründung einer eigenen Gewerkschaft. Doch in der Partei SORTU selbst gibt es viele Mitglieder, die den eingeschlagenen Kurz der Parteiführung kritisch betrachten. Bei einem Parteitag Anfang des Jahres konnte ein alternativer Antrag, der der Basisarbeit wieder mehr Bedeutung in der politischen Arbeit beimessen wollt, die Zustimmung von rund 20 % der Delegierten erreichen.
Die Gefangenen sind so weit entfernt wie eh und je
Der Strategiewechsel der letzten Jahre hat die Situation der politischen Gefangenen ebenfalls stark verändert. Wurde die spanische Justiz bis dato von der Bewegung als politische und koloniale Justiz betrachtet, mit der keine Verhandlungen geführt werden, vollzog SORTU eine Abkehr von dieser Doktrin. Von nun an wurde jedem Gefangenen gestattet, nach individuellen Lösungen zur Verbesserung seiner Haftsituation zu suchen, sprich mit dem spanischen Justizapparat zu verhandeln, ohne aber mit diesem zu kollaborieren. Somit wurde die einstmals zentrale Forderung der abertzalen Linken nach Amnestie, einer Verlegung der baskischen Gefangenen ins Baskenland sowie die Rückkehr der Exilierten aufgeweicht und in Teilen aufgegeben. Sie erschien einem Teil der Bewegung als nicht realisierbar. Die Gefangenen, die diesen Weg nicht mitgehen wollten, mussten das Gefangenen-Kollektiv EPPK verlassen und werden seitdem von der Strömung um ATA unterstützt. Derzeit sitzen noch rund 180 Gefangene ihre Haftstrafen in spanischen Knästen ab; entlassen werden jene, die ihre Haftstrafe bis zum letzten Tag abgesessen haben. Während der Corona-Pandemie erhielten sie aufgrund des Lockdowns über einen Zeitraum von drei Monaten keinen Besuch.
Staatliche Friedens-Sabotage und minimale Zugeständnisse
Nachdem der spanische Staat in den letzten Jahrzehnten zunächst in der Form der franquistischen Diktatur und im Anschluss als demokratisch getarnte Monarchie versucht hatte, die linke Unabhängigkeitsbewegung durch massive Repression – wir sprechen hier von Maßnahmen wie Verboten, Knast, Folter und Mord – politisch und militärisch zu zerschlagen, stand die damalige spanische Regierung unter Führung der postfranquistischen Partido Popular (PP) auch der neuen politischen Strategie der einseitigen Konfliktlösung ablehnend gegenüber. Vielmehr bemühte sich die spanische Rechte zunächst, diesen Prozess zu sabotieren, indem sie eine Spaltung von ETA provozieren wollte und die Initiator*innen des Gewaltverzichts um Otegi für ihre politischen Aktivitäten inhaftierte. Nachdem diese Maßnahmen keine Wirkung zeigten, die baskische Linke weiterhin ihren Kurswechsel vollzog und ETA sich in diesem Zuge auflöste, wurde versucht, erneut ihre Organisationen – in diesem Falle SORTU – gleich nach ihrer Gründung durch Audiencia Nacional17 zu verbieten. Was ihr aber in diesem Fall nicht gelang. Die Prozesse gegen Organisationen und Einzelpersonen der baskischen Linken wurden indes weitergeführt. Die beiden letzten Massenprozesse gegen das Netzwerk der „Herriko Tabernas“, ein Netzwerk von selbstverwalteten Kneipen, Bars und Restaurants sowie gegen die Gefangenen-Organisation „Herrira“ endeten mit „geringen“ Haftstrafen für die Angeklagten. Im Gegenzug erklärten die Angeklagten, sie hätten im Auftrag von ETA gehandelt; so erhielten diese vergleichsweise niedrige Strafen, so dass niemand in den Knast musste. An eine Rückkehr von den in den letzten Jahrzehnten ins Ausland geflohenen bzw. deportierten Exilierten scheint in dieser Situation, von wenigen Ausnahmen angesehen, nicht zu denken zu sein. Ein Abzug der paramilitärischen Polizei „Guardia Civil“, wie oftmals nach dem Ende des bewaffneten Kampfs sogar von der christdemokratischen PNV gefordert, hat bisher nicht stattgefunden. Vielmehr präsentiert sich der spanische Staat als Sieger über die ETA und sieht für sich keine großen Veränderungen des Status quo.
Einer Aufarbeitung der strukturellen Verwicklung von Mitgliedern der spanischen Regierung in die Aktivitäten der Todesschwadronen „GAL“18 in den 1980er Jahren erachtet selbst eine PSOE-PODEMOS-Regierung in Madrid als nicht notwendig. Vielmehr hat sich der Schwerpunkt ihres Repressionsapparats in den letzten Jahren auf die katalanische Unabhängigkeitsbewegung fokussiert. Zu welchen Gewalt- und anderen Unterdrückungsexzessen dieser noch immer fähig ist, haben die vergangenen Jahre gezeigt. Daher kann aufgrund der Praxis und der Haltung des spanischen Staats sicherlich nicht von einem Friedensprozess gesprochen werden. Aufgrund seiner zentralstaatlichen Verfassung und seines franquistischen Erbes hat jener keinerlei Interesse an einer friedlichen Beilegung des Konflikts auf Augenhöhe.
Ipparalde (Französisches Baskenland)
Etwas anders stellt sich die Situation auf der anderen Seite der Grenze dar. Im französischen Staat waren die politischen Organisationen der abertzalen Linken nie verboten. Durch eine zivilgesellschaftliche Initiative wurde im französischen Baskenland (Iparralde) die Entwaffnung von ETA organisiert. Diese als „Friedens-Handwerker“ bekannte Gruppe hatte zu Beginn versucht, Waffen von ETA in Handarbeit unbrauchbar zu machen. Dies scheiterte an einem Polizeieinsatz. Im zweiten Versuch erreichte die Gruppe, dass ETA die Standorte ihrer Depots per GPS mitteilte. Im Anschluss übergab sie diese dann den französischen Behörden. Eine Aktion, die von der französischen Administration geduldet wurde. Im spanischen Staat wäre ein derartiges Vorgehen undenkbar gewesen wäre. Den Aktivist*innen hätten hier sicher lange Haftstrafen gedroht. Mit kleinen Schritten hat der französische Staat somit auf die veränderte politische Situation reagiert. Hinsichtlich der Situation der politischen Gefangenen wurden einige näher an Haftanstalten in der Nähe des französischen Baskenlandes gebracht.
Auf vielen Wegen vorwärts
Trotz der Abwicklung von ETA und der Neuorganisation innerhalb der Bewegung war die abertzale Linke nicht ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Das Gegenteil war der Fall. Ihre Organisationen führten eine Vielzahl von sozialen Kämpfen. Die abertzalen Gewerkschaften LAB19 und ELA20, die mehr als 50 % aller Betriebsräte im Baskenland stellen, organisierten eine Vielzahl von Streiks in unterschiedlichen Branchen. Diese umfassten eine große Bandbreite: in der Metall- und Elektroindustrie, wie beispielsweise im VW-Werk in Irunea-Pamplona, sowie Streiks prekär beschäftigter Landarbeiter*innen in Navarra und illegal Beschäftigter im Care-Bereich in der Provinz Bizkaia.
Am 30. Januar 2020 führten die beiden abertzalen Gewerkschaften gemeinsam mit der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT21 einen eintägigen Generalstreik beiderseits der Grenzen durch. An ihrer Mobilisierung nahmen hunderttausende Menschen teil. Das öffentliche Leben wurden in vielen Regionen lahmgelegt. Zentrale Forderung des Generalstreiks war die Rücknahme von sozialen Verschärfungen wie der neoliberalen Arbeitsmarktreform der Rajoy-Administration, die zu einer weiteren Erosion von Arbeitnehmerrechten und einer Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen geführt hatte. Des Weiteren bezog der Generalstreik inhaltlich den Kampf der Bewegung der Rentner*innen nach einer würdigen Rente ein, der im Baskenland begann und sich schließlich über ganz Spanien ausbreitete.
In den größeren Städten erhielt der Kampf um bezahlbaren Wohnraum und lebenswerte Städte immer mehr Gewicht. Aufgrund von Gentrifizierung und durch die Folgen des Massentourismus werden auch im Baskenland immer mehr Menschen durch steigende Mieten aus ihren Wohnungen und Stadtvierteln vertrieben. Dagegen mobilisieren vor allem Basisbewegungen. In Vitoria-Gasteiz besetzten Aktivist*innen 2014 das komplett vom Abriss bedrohte Stadtviertel „Errekaleor“. Im Lauf der Zeit wurden dessen Gebäude wieder instand gesetzt, Felder zur Selbstversorgung angelegt und mit internationaler Unterstützung eine Solaranlage zur autarken Versorgung des Barrios mit Strom errichtet.
Am „Internationalen Tag der arbeitenden Frau“, wie der Internationale Frauentag im Baskenland genannt wird, mobilisierten feministische Gruppen tausende Menschen, um für die Rechte und Selbstorganisation von Frauen sowie gegen das patriarchale Gesellschaftsmodell und die Auswirkungen des kapitalistischen Systems zu demonstrieren. Internationalistische Initiativen leisten noch immer einen großen Beitrag zur Unterstützung und Vernetzung von bzw. mit anderen sozialistischen und indigenen Bewegungen in Lateinamerika, Palästina und in der Westsahara. Sie lassen internationale Solidarität Praxis werden, indem sie beispielsweise seit Jahren Kindern und Jugendlichen aus saharauischen Flüchtlingslagern einen Sommer bei Gastfamilien im Baskenland ermöglichen.
Die abertzale Linke hat in den letzten Jahren mit viel Mut und Risiko einen radikalen Strategiewechsel vollzogen. Dazu gehörte die Abkehr vom bewaffneten Kampf. Dass keinerlei Abspaltung von ETA dieses Konzept weiterführte, wie beispielsweise in der republikanischen Bewegung Nordirlands, kann als ihr Verdienst bezeichnet werden. An der Frage, auf welchen Wegen sie nun voran schreiten will, haben sich die Vorstellungen in unterschiedliche Strömungen auseinanderentwickelt.
Wird die Strömung um SORTU/EH BILDU mit ihrem Weg, politische Veränderungen zum Aufbau eines alternativen Gesellschaftsmodells durch die Arbeit in den Institutionen zu erreichen, erfolgreich sein? Welche Mehrheiten wird sie in Zeiten eines globalen politischen Rechtsrucks in Zukunft für ihre Projekte organisieren können? Wie sehr wird sie sich in und von den Institutionen abschleifen lassen? Oder wird sie gar einen Marsch durch sie hindurch antreten? Wird die Gesamtbewegung weiterhin ihre hohe Mobilisierungsfähigkeit erhalten können? Die jährlichen Demonstrationen für die politischen Gefangenen im Januar 2020 mit Teilnehmerzahlen von über 100.000 sowie die Massendemonstration „Lortu Arte“ („Für ein Baskenland der Freien und Gleichen“) mit mehreren zehntausend Menschen im November 2021 sprechen dafür. Werden Gruppen und Organisationen aus dem radikaleren Teil der Bewegung eigene neue Projekte in Theorie und Praxis entwickeln? Werden sie SORTU/EH BILDU durch Mobilisierungen auf der Straße politisch unter Druck setzen können? Wie wird die Bewegung einmal ihre eigene Geschichte erzählen und bewerten? Wird sie sich trotz des Eingeständnisses der Verursachung von Leid auf der politischen Gegenseite weiterhin an die Herkunft ETAs aus dem antifranquistischen Widerstand sowie an die aufständische Geschichte vieler anderer ihrer Organisationen erinnern?
Die weiterhin gängige Praxis der „Ongi Etorris“, der Willkommensveranstaltungen für entlassene Gefangene in ihren Heimatorten sowie Erinnerungsveranstaltungen für gefallene Ettaras im öffentlichen Raum, an denen Aktivist*innen aus allen politischen Lagern beteiligt sind, sowie Publikationen in den abertzalen Medien deuten bisher darauf hin. Völlig unklar sind bislang hingegen die Perspektiven für die nach der Auflösung noch in der Illegalität verbliebenen ETA-Militanten. Im medialen Diskurs spielt diese Frage aktuell keine Rolle. Unter den derzeitigen Bedingungen scheint eine Rückkehr in die Legalität als völlig unrealistisch. Seit der Festnahme von Josu „Ternera“ Urrutikoetxea, ehemals zum ETA-Führungskreis gehörend, 2019 in den französischen Alpen und seiner vorläufiger Freilassung unter Auflagen gab es keine weiteren Inhaftierungen mehr.
Jan Tillmanns ist Mitgründer der Initiative basis.bildung und organisiert seit mehreren Jahren politische Bildungsreisen ins Baskenland.
Das ist der zweite Teil einer Reihe zum Baskenland im Autonomie Magazin. Der erste Teil war ein Reisebericht, der dritte Teil, ein Interview, wird in Kürze erscheinen.
Außerdem möchten wir auf die Veranstaltungsreihe hinweisen, bei der der erwähnte Film „Bi Arnas“ gezeigt wird und ein ehemaliger politischer Gefangener aus dem Baskenland berichten wird.
Literatur
„Baskische Linke gründet Partei – Inhaftierter Arnaldo Otegi zum Generalsekretär von Sortu gewählt“, junge Welt, 2013-02-25 (LINK)
„Bewegung für Amnestie“, Baskinfo, 2017-06-29 (LINK)
„Demo gegen Touristifizierung“, Baskinfo, 2018-02-01 (LINK)
„Depots geöffnet und geleert – Die ETA ist nach über 50 Jahren eine Organisation ohne Waffen“, junge Welt, 2017-04-12 (LINK)
„Der Generalstreik im Baskenland: Ein Signal für die Gewerkschafts-Bewegung – nicht nur in Spanien“, 2020-02-03 (LINK)
„Der verschwiegene gefährliche Generalstreik“, Telepolis, 2020-01-31 (LINK)
„Ehemaliger ETA-Anführer nach Jahren auf der Flucht gefasst“, Die Zeit, 2019-05-16 (LINK)
„Es fehlt der politische Wille, die Morde aufzuklären“, Telepolis, 2020-06-24 (LINK)
„ETA macht Schluss“, junge Welt, 2018-05-05 (LINK)
„Faschisten-Monument soll verschwinden“, Baskinfo, 2016-09-21 (LINK)
„Gentrifizierung per AIRBNB“, Baskultur.info, 2018-11-16 (LINK)
„Hartes Urteil gegen Sortu“, Baskinfo, 2014-08-03 (LINK)
„Hausbesetzung in Gasteiz“, Baskultur.info, 2017-06-12 (LINK)
„Hunger- und Durststreik des Gefangenen Patxi Ruiz“, Argia-Zeitschrift, 2020-05-11 (LINK)
„Linke Spaltung im Baskenland“, Baskinfo, 2016-06-21 (LINK)
Munarriz, Fermin: „Lichtblicke im Baskenland: Ein Interview mit Arnaldo Otegi “, Köln 2014
„Neue Krise für die spanische Regierung – Ex-PSOE-Premier soll in Achtzigern laut CIA Todesschwadronen gegen Oppositionelle aufgestellt haben“, junge Welt, 2020-06-17 (LINK)
„Razzia gegen Herrira“, Info-Baskenland, 2013-09-30 (LINK)
„Totaler Tourismus“ Baskinfo, 2017-08-09 (LINK)
„Wir streiken“, Baskultur.info, 2020 (LINK)
1 Euskadi ta Askatasuna, baskisch für „Baskenland zur Freiheit“ oder „Baskenland und Freiheit“, 1959 gegründete und bewaffnet kämpfende Organisation
2 Das Parteiengesetz wurde auf Betreiben des Richters Garzon von der Rajoy-Regierung beschlossen, um die baskische Linke in die Illegalität zu zwingen. In der Folge wurden fast alle abertzalen Organisationen verboten, zwischen 20 und 30 % der baskischen Bevölkerung verloren damit ihre Wahloption.
3 Vgl.: https://www.autonomie-magazin.org/2022/09/veranstaltungsreihe-repression-missbrauch-und-sexualisierte-folter-in-spanischen-gefaengnissen-film-und-diskussion-mit-einem-ehemaligen-politischen-gefangenen-aus-dem-baskenland/)
4 BATASUNA (Einheit) ehemalige Partei der abertzalen Linken, Gründung 2001 als Nachfolge von Herri Batasuna, Verbot in Spanien 2003, Selbstauflösung in Frankreich 2013
5 EPPK (Euskal Preso Politikoen Kolektiboak), Kollektiv der baskischen politischen Gefangenen
6 SORTU (Aufbauen), Nachfolgepartei der illegalisierten BATASUNA
7 EUSKAL HERRIA BILDU – EH Bildu (Baskenland sammeln)
8 Hegoalde (baskisch: südliche Seite): südlicher Teil des Baskenlands (zum spanischen Staat gehörend), unterteilt in die Autonomen Gemeinschaften Nafarroa-Navarra und Baskenland mit den Provinzen Gipuzkoa, Bizkaia, Araba
9 Unidos Podemos (Gemeinsam schaffen wir das), Gemeinschaftskandidatur bei Wahlen, u. a. Mit Podemos, Izquierda Unida und der grünen Partei Equo
10 PNV, Partido Nacionalista Vasco (Baskische Nationalistische Partei), baskische Christdemokraten, die auf Autonomie setzen, nicht auf Unabhängigkeit
11 Podemos (Wir können), spanische Links- oder Protest-Partei, die 2014 gegründet wurde, nach der großen Protestbewegung in verschiedenen spanischen Städten
12Izquierda Unida (IU)
13 PSOE, Partido Socialista Obrero Espanol (Spanische Sozialistische Arbeiter-Partei), mit sozialdemokratischem Kurs, 1879 gegründet
14 Die baskischen Gefangenen wurden vom spanischen Staat möglichst fern von ihren Familien inhaftiert, um die Besuchsmöglichkeiten einzuschränken.
15 Amnistiaren Aldeko eta Errepresioaren Aurkako Mugimendua, Bewegung für Amnestie und gegen Repression
16 Gazte Koordinadora Sozialista, Sozialistische Jugendkoordination
17 Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof), spanisches Sondergericht, zuständig für Terrordelikte und organisierte Kriminalität, gleichzeitig Ausdruck der politisierten spanischen Justiz
18 GAL – Grupos Antiterroristas de Liberacion (Antiterroristische Befreiungsgruppen) – waren paramilitärische Gruppen, die in der Zeit von 1983 bis 1987 als Todesschwadronen in Spanien und Frankreich aktiv waren. Sie sind für die Morde an 28 mutmaßlichen Mitgliedern von ETA und der Unabhängigkeitsbewegung verantwortlich Die GAL-Gruppen wurden extralegal von der spanischen Regierung während der Amtszeit des sozialistischen Ministerpräsidenten Felipe González aufgebaut und vom Innenministerium (Ministerio del Interior de España) für den Kampf gegen die baskische Unabhängigkeitsbewegung geführt und finanziert.
19 LAB, Langile Abertzaleen Batzordeak, Kommissionen der Abertzalen Arbeiter*innen: linkssozialistische, der Partei SORTU nahestehende Gewerkschaft
20 ELA, Eusko Langileen Alkartasuna, Baskische Arbeitersolidarität, kapitalismuskritische Gewerkschaft mit Ursprung im baskischen Katholizismus
21 CNT, Confederación Nacional del Trabajo, anarchosyndikalistische Gewerkschaftsförderation