Das Curriculum zum Deutschunterricht zielt unter Anderem darauf ab, uns Kindern dieser liberalen Gesellschaft, die Geschichte und die Zusammenhänge eben dieser Gesellschaft nahe zu bringen. Brecht, Kästner, Mühsam sind die wenigen linken Köpfe deutscher Literatur, die wir lesen durften. Dass diese Autoren eine nicht abzustreitende Verbindung zur kommunistischen Idee hatten, hielt meine Lehrer*innen nicht davon ab, es dennoch abzustreiten und von einer zeitgeist-bedingten Phase zu reden oder diesen linken Literaten die liberale Makulatur des Humanismus anzudichten. Viel Raum erhielten jedoch Thomas Mann und seine Buddenbrooks. Thomas Mann hat stets den gängigen Antikommunismus der liberalen Welt kritisiert und in seinem Werk die gesellschaftliche Realität seiner Zeit dargestellt. Im Deutschunterricht überstieg jedoch die Faszination für den Verfall einer bürgerlichen Familie die eigentlich angebrachte Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit, wie sie im Roman zu finden ist. Hinzu verloren wir uns in Aufdeckungen von Metaphern, Textstrukturanalysen, Inhaltswiedergaben und Mindmaps zu Personenkonstellationen. Das Leben einer Familie in der Arbeiterklasse findet natürlich kaum seinen Weg in das Curriculum. Aber ich hatte sozusagen Glück, denn ich stamme aus einer Familie aus der Arbeiterklasse. Was die Schule mich nicht wissen ließ, erteilte mir das Leben als Lektion.
Die meiste Zeit meines bisherigen Lebens lebe ich in einem Einfamilienhaus. Das bedeutet jetzt nicht viel, außer dass meine Eltern sich seit nun 17 Jahren ein Haus leisten können. Eigentlich leisten sie sich nicht das Haus, sondern die Kreditrückzahlungen. Hinzu kommen noch die Zinsen und die Kosten, welche durch die Wartung eines Hauses innerhalb von 17 Jahren eben entstehen. Das Leben kostet. Dennoch denkt sich der ein oder andere vielleicht, was ich als Studierender der Geisteswissenschaften zum proletarischen Leben zu sagen hätte, wobei ich doch familiär behütet und mietfrei lebe. Also, ich habe nicht immer unter diesen Umständen gelebt. Es folgt jetzt keine Aufsteigergeschichte, in der ich mich brüste, es aus dem Moloch des proletarischen Lebens geschafft zu haben. Erstens habe Ich nichts geschafft, sondern am ehesten meine Eltern und Zweitens stehen wir nicht einmal auf stabilen Beinen. Wir haben keine Rücklagen, Erbschaften, Besitz oder jeglichen anderen Reichtum, der uns eine Form der Sicherheit garantieren könnte. Das Einzige, was ich besitze sind meine Bücher. Das Einzige, was meine Eltern besaßen war ihre Arbeitskraft.
Mein Vater war über 30 Jahre in einem großen Bauunternehmen beschäftigt; Kohlewerke, Atomkraftwerke, Millionenprojekte hat er mitgebaut. Immer in der Position eines Vorarbeiters, doch offiziell beschäftigt und bezahlt nach dem Status eines ‚normalen‘ Arbeiters. Meine Mutter hat über 20 Jahre als Friseurmeisterin in ihrem eigenen Betrieb gearbeitet. Aus gesundheitlichen Gründen kann meine Mutter heute nicht mehr arbeiten. Der Druck, die Verantwortung, die Anstrengung ihres Berufs haben sie verschlissen. Ihre Nerven sind beschädigt, sowie ihre Augen. Ebenso geht es meinem Vater. Mittlerweile ist er offiziell, also staatlich anerkannt arbeitsunfähig. Keine drei Stunden kann er am Tag arbeiten. Beide hat diese Arbeitswelt verschlungen und zu oft in die heruntergewirtschafteten Krankenhäuser geworfen.
Beide Eltern sind neuerdings Rentner. Und selbst für die Rente mussten sie kämpfen, denn meine Mutter hat als Selbstständige kaum in die Rentenkasse eingezahlt. Was hätte sie auch einzahlen können? Ich kenne unsere Kontostände seit ich lesen und rechnen kann sehr genau: plus minus Null. Was meine Mutter verdient hat, hat sie in den Betrieb gesteckt und in die Ausbildung ihrer Kinder. So wohnten wir immer in der Nähe der von uns Kindern besuchten jeweiligen Schulen. Jedem Kind hat sie ein Musikinstrument in die Hand gedrückt, die Stärken jedes Kindes hat sie früh untersucht und zu fördern versucht. Meine Mutter hat ihr Leben für uns Kinder geopfert. Mein Vater hat im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht es ihr gleichzutun. Er hat die Schule bis zu seinem 14. Lebensjahr besucht und von da an gearbeitet. Zuerst als Hilfsjunge in den Slums von Ankara, wo er aufwuchs. Dort griff er in offene Stromkabel, stieg auf lose Dächer, reichte dem Meister das Werkzeug und seinen Eltern das Geld, das er am Abend jedes Arbeitstages im Austausch für seine Arbeitskraft erhielt. Später, in Deutschland, ackerte er anfangs auf den Feldern von Rheinland-Pfalz, um dann zum 18. Geburtstag von einem Bauunternehmen übernommen zu werden. Er ist eine Person, die man aufgrund seiner Arbeitsstelle nur am Wochenende zu Gesicht bekam. Daher muss ich sagen, dass ich keinen Vater hatte. Jetzt sehe ich ihn zuhause täglich. Meinem Vater hat man im Rahmen eines sogenannten Sozialprogramms die Arbeitsstelle gekündigt und das Bauunternehmen hat sich von einem Global Player schlucken lassen. Nach der Massenentlassung ging er vor Gericht und forderte seine Arbeitsstelle zurück. Wie so oft in diesem liberalen Staat und seinem Verständnis arbeitsrechtlicher Gerechtigkeit, kam es nicht zu einem Urteilsspruch, sondern zu einem sogenannten Vergleich. Es erübrigt sich an dieser Stelle zu sagen, dass die Auszahlung in laufende Kosten unseres Lebens geflossen ist.
Diese angeblich erdrückende Wahlfreiheit, die in den Nachkriegsjahren die jungen Generationen ereilte, von der Herr Beck so gerne spricht, habe ich nie mitbekommen. Meinen Eltern, Geschwistern oder mir standen nie irgendwelche Türen offen. Ich habe früh gelernt, dass Menschen in unserer Position – Migranten aus der Arbeiterklasse – Türen einreißen müssen, um sie durchschreiten zu können.Dafür brauchte es nicht die Worte meiner Mutter: „Ihr seid Arbeiterkinder, ihr müsst euch doppelt so sehr anstrengen, als die anderen. Dazu seid ihr Ausländer, also müsst ihr euch um ein vierfaches anstrengen.“(sic!) Versnobte, rassistische Lehrer*innen, Eltern von Freunden, Bürokraten und Dozierende an der Universität, Zivilisten und Polizisten, potenzielle Arbeitgeber: Sie alle haben, ohne es zu wollen, den Worten meiner Mutter Recht gegeben. Und meine Mutter wusste wovon sie sprach. Schließlich hat sie es ohne besondere Schulbildung und Sprachkenntnisse geschafft, in einem ihr fremden Land eine Ausbildung – entgegen dem Willen ihrer Familie – zu absolvieren, einen Betrieb zu gründen, samt Beschäftigung ein Dutzend Angestellter und ihre vier Kinder an die Universität zu schicken. Sie ist, nach eigener Aussage, keine Kommunistin. Ebenso kann mein Vater wenig zum Sozialismus oder Kommunismus sagen, aber wütend „Sozialfaschist!“ in Richtung Fernseher rufen, wenn er Frau Nahles, Herrn Scholz oder andere deutsche Sozialdemokraten in den Talkshows dieser Nation sitzen sieht. Meine Eltern sind schlicht Menschen, die glücklich und gerecht leben möchten. Die Erfahrung um die Klassenkämpfe in der Türkei der 1970er Jahre haben meine Eltern nachhaltig geprägt. Dieses Trauma hat den Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft in den Wunsch nach einem friedlichen, familiären Leben umgewandelt. Ich kann und darf es ihnen nicht übel nehmen. Wie viel sozialistische Literatur, Bücher meine Mutter aus Angst vor der Staatsgewalt und ihrer faschistischen Schergen in ihrer Jugend verbrennen musste, mindestens so viel hat mir das Leben aufgezwungen zu lesen. Es waren in erster Linie nicht die Worte von Marx und Engels, die mich dazu brachten mich Sozialist oder Kommunist zu nennen, sondern das Leben als migrantisches Arbeiterkind. In den Büchern habe ich nur die Positionen, die ich aufgrund meines Lebens entwickelt hatte, wiedergefunden.
Die prägende Zeit meines Lebens verlief in einer Zweizimmer-Wohnung, zu viert mit meinen drei Schwestern in einem Zimmer. Wir wohnten eine Etage über dem Betrieb meiner Mutter. Ich habe zu dieser Zeit jeden Tag in diesem Betrieb verbracht, alten deutschen Damen den Kaffee gereicht, den Boden gewischt, die Handtücher gefaltet, in höherem Alter ‚die Kasse gemacht‘ –meine Geschwister und ich sind wirklich gute Buchhalter*innen geworden. Aber Autodidakten. Vieles in unserem Leben ist aufgrund der Umstände entstanden. Wir haben sozusagen versucht, das Beste daraus zu machen. So zog mein Vater eines Tages – weil meine zwei ältesten, zu dem Zeitpunkt pubertierenden, Schwestern nicht mehr mit zwei Kleinkindern das Zimmer teilen wollten – zwei Wände in einem Zimmer hoch und schaffte damit ein Zimmer im Zimmer. Eine der Wände dieses inneren Zimmers hatte sogar ein Fenster.
Es war einfach verrückt. Aber das proletarische Leben ist nun mal ein verrücktes. Es ist in dem Sinne kein Leben, sondern Überleben. Ich muss nicht obdachlos und hungernd sein, um sagen zu dürfen, dass ich weiß, was es bedeutet, proletarisch aufzuwachsen. Die Erfahrung meiner Eltern und ihrer Eltern – der ersten Generation von Gastarbeiter*innen – sind in uns Kinder eingedrungen. Wir hatten die Konsequenzen ihrer unwürdigen Lebensumstände zu spüren. Meine Familie ist aufgestiegen, ja, aber weder schäme ich mich, noch bin ich stolz darauf. Denn meine Eltern versuchen nur, im Rahmen der kapitalistischen Logik durchzuhalten, eine Lebensgrundlage für ihre Lieben und alle Nachkommenden zu schaffen. Meine Mutter war Unternehmerin geworden, jedoch ohne die kapitalistische Logik als eine objektive aufzufassen und diese zu verinnerlichen. Die Angestellten waren Mitarbeiter für sie und Tanten und Schwestern für mich und meine Geschwister. Sie hat einen Betrieb gegründet, weil sie nur das machen konnte. Doch hat sie sich aller Möglichkeiten bedient, diese Arbeit(-swelt) so zu gestalten, dass alle, der in ihr Beteiligten, zu ihrem Recht kamen.
Es wird sich viel um die begriffliche Definition derjenigen gestritten, die nur ihre Arbeitskraft zur Veräußerung und darüber hinaus ein gewisses Potential zum revolutionären Subjekt besitzen. Die einen nennen sie Proletarisierte, andere sprechen von der Multitude, ganz andere wollen diese Menschen gar nicht wahrhaben und sprechen von ideologischer Verblendung und historisieren den Klassenkampf. Ob aber meine Eltern sich nun als Multitude sehen oder Proletarisierte, spielt keine Rolle. Der Kapitalismus, gerade in seiner hiesigen noch-liberalen Form, schafft nicht nur die Verhältnisse, unter denen Menschen leben müssen, sondern schafft sich auch die Begriffe. Die Einigung auf einen Begriff wirkt also nicht rückläufig auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das marxsche revolutionäre Subjekt ist kein zu definierendes Konstrukt, sondern ist in der (Lebens-)Realität verankert. Die Leben vieler Menschen, wie auch die meiner Eltern und ihrer Eltern, beweisen es.
Von: Özgün Kaya (twitter.com/ozgun_kaya93)
Proletarische Welten ist eine unregelmäßige erscheinende Artikelserie des Autonomie Magazins. Sie lässt Menschen aus proletarischen Verhältnissen zu Wort kommen, um Erfahrungen aus dem echten Leben zu teilen. Die Serie will eine Brücke schlagen, zwischen der radikalen Linken und der proletarischen Klasse. Alle Beiträge aus der Reihe findet ihr hier.