Von Özgün Kaya (@ozgun_kaya93)
Am 30. März 2019 trat ein Journalist an die Öffentlichkeit. Was ist passiert? Was hat er zu sagen? Hat er etwas Skandalöses aufgedeckt? Will er etwa beichten? Hat er betrogen – den Relotius gemacht? Nein, er hat nichts zu beichten oder zu bereuen. Er ist reinen Gewissens. Denn Raphael Thelen hat die große Last auf sich genommen, die wir politisch Voreingenommenen nicht stemmen können. Thelen ist nämlich überzeugter liberaler Journalist. Das heißt, er ist ideologiefrei, objektiv und stets professionell peinlich. Was andere Journalisten nur auf privaten Partys auszuleben vermögen, weiß er in seinen Beruf integrieren zu können. Er habe lediglich seinen Job gemacht: „Anderthalb Jahre mit dem AfD-Mann Markus Frohnmaier gestritten, gelacht und Rum getrunken.“
Kaum war sein Tweet samt Artikel, erschienen im SZ-Magazin, online, hagelte es schon Kritik. Wie könne er nur? Was erlaube er sich, diesem Neonazi eine Plattform zu bieten? Einige wiesen darauf hin, dass Thelen nur aufgrund seines privilegierten Weißseins dazu in der Lage sei, sich mit einem Neonazi der AfD zu treffen und trugen ihm auf, dies doch bitte zu reflektieren. Da muss ich kurz einhaken: Die AfD weiß sich zu inszenieren; Frohnmaier hätte sich sicher auch mit einer Person of Colour getroffen. Dieser Möglichkeit der medialen Inszenierung kann die AfD nicht widerstehen. Vergessen wir nicht, dass sie aus demselben Grund schon People of Colour als Kandidaten aufstellte und auch ihre Wahlwerbung so gestaltet hatte. Aber leider musste sie sich diesmal mit einem weißen Deutschen zufriedengeben. Doch nicht so schlimm, der Backlash kam dennoch. Und natürlich ist er gerechtfertigt. Für die, die an Thelens Moral appellieren und ihn fragen, wie er das denn reinen Gewissens könne, möchte ich jedoch entgegnen: Naja, er kann halt, weil er will. Er will, weil er es nicht besser weiß. Es ist also keine Frage der Moral und Moral darf auch kein Gegenstand der Kritik sein. Denn Moral ist eine Idee, die sich je nach Klasse und Epoche verändert. Weil Ideen aus den praktischen Verhältnissen und letztendlich aus den ökonomischen Verhältnissen entstehen, muss unsere Kritik an Erscheinungen wie Raphael Thelen in die Substanz gehen, auf festem Boden stehen und nicht in den Wolken schweben.
Thelen denkt, dass die Faschisten sich selbst dekonstruieren, wenn man sie nur machen ließe. Wahrscheinlich hat er auch zustimmend genickt, als Frohnmaier ihm sagte, dass es besser sei, zu reden, als sich in Gegnerschaft gegenüber zu stehen. Ein weit verbreiteter Irrtum, der sich durch die Gesellschaft zieht, weil Menschen wie Thelen diesen im Namen des politischen Pluralismus zu gern hochalten. Doch nur, weil sie es hochzuhalten gelernt haben. Es ist die Bildungspolitik dieses Landes, samt ihrer Curricula, die seit jeher einen exzessiveren Personenkult an Hitler ausleben, als es sich Hitler jemals hätte erträumen können und damit die Auseinandersetzung mit den konkreten Verhältnissen – seien sie nun praktischer, politischer oder ökonomischer Art – außer Acht lässt. Wenig hat Thelen über die konkreten Hintergründe des Aufstiegs des Faschismus im 20. Jahrhundert gelernt. Doch viel hat er eingetrichtert bekommen, dass es der böse Mann aus Österreich war, der die armen, ahnungslosen Deutschen verführt hätte. Da scheint es ihm und anderen liberalen Journalisten sicher nur logisch, die Verführung des heutigen Faschismus durch eine vermeintlich intensive Auseinandersetzung – streiten, lachen, trinken – bloßzustellen und durch besonnene, gewollt-neutrale Berichterstattung diese rechten Hexer zu entzaubern.
Für Menschen wie Thelen ist der Aufstieg der AfD „kometenhaft“, also unerwartet erfolgreich. „Keiner anderen Partei ist das seit 1945 gelungen“, schreibt er schon fast sinnierend. Thelen, als Vertreter des liberalen Journalismus, denkt nicht daran, dass der massive Abbau des Sozialstaates, die Zwietracht und die Missgunst innerhalb der Arbeiterklasse, die durch die perfide Politik des Neoliberalismus gesät wurde und wird, sowie der Aberglaube des politischen Liberalismus, alles im Diskurs regeln zu können oder die viel zu langen Reportagen bzw. Porträts der liberalen Journalisten über die rechten Politiker und ihre Freunde, dazu führen, dass der Faschismus, der ja an sich im Kapitalismus keimt, stärker wächst und die reale Gefahr, die von Faschisten ausgeht, zunimmt. Denn er möchte das alles gar nicht wahrhaben. Ihm geht es darum, die Agitatoren der AfD als Strippenzieher und Verführer bloßzustellen, die die Ängste der Bevölkerung ausnützten, wie einst Hitler es getan hätte. Thelens Welt kennt keine Physik der Aktion und Reaktion oder die Dialektik in den Widersprüchen des Kapitalismus. Nein, seine Welt kennt nur Missverständnisse. Missverständnisse, die durch genügend Informationen zu beheben seien. Deswegen war es ihm auch so wichtig, nach Lektüre seines Artikels nicht missverstanden zu werden, wozu er in der Infobox verlauten ließ, dass er im Gegensatz zu Frohnmaier Flüchtlinge aufnehmen möchte und das dazu geführt hat, dass die Stimmung zwischen den beiden seither unterkühlt ist. Nach so einem langen Fehler, den man Artikel nennt, ist dieser kleine Vermerk aber nicht wirklich aufmunternd.
Antifaschismus heißt, sich klar zu positionieren und vom Faschismus und allem, was damit anbandelt, zu distanzieren. Das können auch liberale Journalisten mal tun. Nur wären sie dadurch nicht mehr liberal, also irrtümlich objektiv, sondern sozial und dadurch angreifbar, verletzlich. Aber dann wären sie auch endlich in der Realität angekommen, in der wir alle leben: im Klassenkampf.