„In der Uni wird ein Proll seziert
Studenten, sie sind irritiert
Er riecht nach Bier und Schweiß
Er riecht ganz anders als ich
Er ist uns fremd“
-Zugezogen Maskulin „Alle gegen Alle“
Das Universitätsleben war für mich immer ein wenig vergleichbar mit dem Aufenthalt in einem fremden Land. Die Leute sprechen anders, bewegen sich anders, es riecht sogar anders als ich es gewohnt bin und ich denke, man konnte mir immer ansehen, dass ich nicht wirklich dazu gehöre, ein Außenstehender bin, eine Art Tourist. Dass ich mich im Universitätsalltag behaupten könnte, dass ich Lehrveranstaltungen überhaupt als ordentlicher Hörer besuchen könnte, war weder abzusehen, noch war es für mich vorgesehen. Als Arbeiterkind mit denkbar schlechten schulischen Leistungen wurde mir früh beigebracht, dass ich, wollte ich nicht obdachlos werden, arbeiten gehen und notfalls die Schullaufbahn vorzeitig beenden musste. Der höchste Ausbildungsabschluss in meiner Familie war bis dahin der Lehrabschluss, niemand besuchte die Schule über die Pflichtschulzeit hinaus, manche nicht einmal das. Meine Mutter war hochverschuldete Alleinerziehende, die versuchte zwei Kinder so gut es geht durchzubringen, von meinem Vater kam wenig Unterstützung und die musste teilweise eingeklagt werden. Einmal wurde meine Mutter wegen nichtbezahlter Strafmandate fürs Falschparken sogar beinahe verhaftet während ich in der Schule war, jedoch schaffte sie es, soviel Mitleid zu erhaschen, dass die Polizei unverrichteter Dinge wieder abzog. Trotz dieser schlechten Ausgangsbedingungen legte man in meiner Familie mütterlicherseits viel wert auf Bildung, lesen wurde mir etwa schon vor der Einschulung beigebracht und man achtete beflissentlich darauf, Interessen bestmöglich zu unterstützen. Wir fuhren so lange ich denken kann mit halb kaputten Autos durch die Gegend, teilweise ohne voll funktionstüchtige Bremsen und mit angerissener Achse, aber an Büchern mangelte es nie. Trotzdem konnte ich mich nie so richtig in den Schulalltag einfügen, wechselte mehrmals die Schule und disputierte leidenschaftlich mit Lehrer_innen, wenn diese Mitschüler_innen schikanierten, ungerecht behandelten oder teilweise schlugen.
Das studentische Elend im Proletariermilieu
Dass ich schließlich doch studieren konnte, obwohl ich nicht einmal das Abitur hatte und insgesamt drei Klassen wiederholen musste, überraschte mich ebenso, wie es Teile meiner Familie, vor allem väterlicherseits, erboste. Ich sei nutzlos und faul wurde mir vorgeworfen, außerdem wolle ich mich einfach nur vor Arbeit drücken und irgendwelchen lächerlichen Hirngespinsten nachjagen. Dass ich mich mit Gelegenheitsjobs (von Würstelbude über Theater bis hin zum Hanfladen war alles dabei) über Wasser halten und trotz Arbeit unter der Armutsgrenze in einer verschimmelten Wohnung hausen musste und mir mit der Entscheidung zu studieren mehr Arbeit aufhalste, als es mir Freizeit und Freiheit bot, wurde entweder gekonnt ignoriert oder als Schwarzmalerei abgetan. Ich hatte also weder den Übergang zum vollwertigen Studenten geschafft, noch war ich immer noch vollwertiges Mitglied eines wie auch immer gearteten Proletariats, sondern hatte mir den unbequemen Platz zwischen den Stühlen ausgesucht. Meine Entscheidung, mir die abstrakten Geisteswissenschaften als Betätigungsfeld auszusuchen und nicht etwa ein konkretes, praktisch anwendbares Studium, wurde von den autoritären Charakteren meiner Familie zwar nicht explizit, aber doch implizit als Affront aufgefasst, was sich in hämischen Witzen über Fach und Studiendauer ausdrückte oder – als scharfer Kontrast – mit Ignoranz und Schweigen sanktioniert wurde.
Das proletarische Elend im Studentenmilieu
Die Lebensrealität, die einem als Proletarier auf der Uni entgegenschlägt, war auch großen Teilen meines Freundes- und Bekanntenkreises meistens ebenso fremd, wie mir die akademische Welt. Kaum jemand nimmt wahr, dass allein die akademische Sprache für Student_innen aus der Arbeiterklasse rätselhaft ist, etwas, das erst mühsam erlernt werden muss. Auch der Bildungsvorsprung, den Student_innen aus bildungsbürgerlichen Familien haben, muss erst unter beträchtlichem Kraftaufwand, neben der Lohnarbeit, aufgeholt werden. Während Gymnasiast_innen Goethe und Schiller lasen und Latein zur Vorbereitung auf den weiteren Lebensweg lernten, haben meine Mitschüler_innen und ich türkische Schimpfworte von anderen Mitschüler_innen gelernt, die Schule geschwänzt und heimlich billigen Schnaps getrunken.
Das Dasein als arbeitender Student bedeutet aber nicht nur eine Doppelbelastung und meist auch jede Menge Sorgen, sondern erschwert es auch, Erfahrungen zu machen, die für andere Student_innen selbstverständlich sind. Während andere Student_innen den Sommer in Indien verbringen, um dort „lebensverändernde Erfahrungen“ zu machen und doch nur bekifft am Strand von Goa abhängen, freue ich mich, wenn mir zwei Wochen Urlaub genehmigt werden, in denen ich entweder für anstehende Klausuren lerne, oder zumindest kurz der Sommerhitze entgehen kann. Während Freund_innen und Genoss_innen unter der Woche feiern gehen, oder nach dem Plenum noch in die Kneipe oder in den Club gehen, muss ich abwägen, auf wieviel Schlaf ich vor der Lohnarbeit oder dem Seminar verzichten kann, um so etwas wie ein halbwegs funktionierendes Sozialleben aufrechtzuerhalten. Auch der Anschluss an die Linke, die meist ohnehin akademisch geprägt ist, gestaltet sich mitunter schwierig. Wird von Teilen der Linken auf Latschdemos und Kundgebungen nach mehr Arbeit gerufen und sich gewundert, warum der Anschluss an das Proletariat nicht gegeben ist, schuftet letzteres zeitgleich für einen Lohn, der oftmals gerade zum Überleben reicht, und träumt von einer Welt ohne Arbeit. Es war mir immer schleierhaft, aus welchen Gründen Linke das „Recht auf Arbeit“ einfordern und das Proletariat romantisieren, wo doch die Abschaffung der Lohnarbeit und damit ein Ende des Proletariats, also nichts weniger als der Kommunismus das erstrebenswerte Ziel sein sollte. Daran, verschuldet zu sein, Wochen lang nur Nudeln mit Tomatensauce zu essen, sich den Zahnarztbesuch und die Bücher für die Uni nicht leisten zu können und körperlich zu verfallen während man seine Arbeitskraft verkauft ist nichts Ehrenhaftes, nichts daran ist es wert, verteidigt zu werden. Ich bin also weder vollwertiger Student noch vollwertiger Arbeiter; für einige Arbeiterbewegungsmarxist_innen bin ich nicht einmal vollwertiger Kommunist.
Das Einfache, das schwer zu machen ist
Denjenigen, die mich nicht schubladisieren und die trotz der – gerade im akademischen Bereich – um sich greifenden Identitätspolitik, die nur atomisierte Einzelteile eines ansonsten statischen Kollektivs sieht, Individuen wahrnehmen, habe ich es schließlich auch zu verdanken, dass der Spagat zwischen Lohnarbeit und Universität einigermaßen gelingt. Weder Verzichtsideolog_innen jeglicher Couleur noch postmoderne Betroffenheitsaktivist_innen oder dogmatische Sozialdemokrat_innen von blassrosa bis dunkelrot helfen gegen die Ohnmacht. Es sind vielmehr die Unterstützung und das Verständnis, das mir von Freund_innen und Genoss_innen entgegengebracht wird, wenn ich mir das Bier in der Kneipe gerade nicht leisten kann oder nach neun Stunden Lohnarbeit nicht mehr in der Lage bin, am Lesekreis teilzunehmen. Es sind die Leute, die sehen, dass die warenproduzierende Gesellschaft, das Kapitalverhältnis mit all seinen Zumutungen aufgehoben werden muss, damit das „richtige Leben“, also eine Gesellschaft ohne Klassen – weder der bürgerlichen noch der proletarischen – möglich wird, die mich nicht verzweifeln lassen, die dafür sorgen, dass ich mich „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht“ (Theodor W. Adorno) dumm machen lasse.
Von: Markus Wagner
Proletarische Welten ist eine unregelmäßige erscheinende Artikelserie des Autonomie Magazins. Sie lässt Menschen aus proletarischen Verhältnissen zu Wort kommen, um Erfahrungen aus dem echten Leben zu teilen. Die Serie will eine Brücke schlagen, zwischen der radikalen Linken und der proletarischen Klasse. Alle Beiträge aus der Reihe findet ihr hier.