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Proletarische Welten

IX: Als Kind meiner Klasse

Ich bin 1984 in Sachsen-Anhalt geboren. In meiner Geburtsurkunde steht, mein Vater sei Sägewerker, meine Mutter Schweißerin. Ein spätes Kind des Arbeiter- und Bauernstaates: zum Pionier hat es nicht mehr gereicht, von der Wende hab ich auch nix mitbekommen. Irgendwo dazwischen gelandet.

Mit der Schulzeit kommen auch die ersten Erinnerungen, mit der ich die kapitalistische Zurichtung bis heute verbinde. Da ist der Typ in der ersten Klasse, der immer die Tinte aus den Patronen trinkt und dann des Unterrichts verwiesen wird. Er landet schnell auf dem „Brettergymnasium“, wie die Sonderschule im Ort im Allgemeinen genannt wird. Später, in der 5. Klasse, werden wir dann in Haupt- und Realschule eingeteilt. Einige meiner Freunde, vor allem die mit akademischem Familienhintergrund, sind auf dem Gymnasium gelandet. Fast alle aus der Hauptschule machen später eine Ausbildung oder ein Berufsvorbereitungsjahr, verschwinden dann im Handwerk oder auf dem Arbeitsamt. Ich komme in die Realschule, bin eher mittelmäßig in meinen Leistungen, kann meine Noten aber gut halten.

Ich muss mir von meinen Eltern und deren Freunden oft anhören, ich solle mir einen Bürojob suchen. Alle kommen aus dem Handwerk, haben Probleme mit den Knochen, dabei sind sie grad mal Mitte/Ende 40. Da ich gut zeichnen kann, soll dies das Talent sein, das mir meinen Weg ins Berufsleben ebnet. Ein kreativer Job, mit dem ich dann das Hobby zum Beruf machen kann. In der neunten Klasse kommt das erste Praktikum, mit dem wir uns auf die baldige Ausbildung vorbereiten sollen. Es gilt am Ende noch ein gutes Arbeitszeugnis zu ergattern, das der zukünftigen Bewerbung beigelegt wird.

Ich finde den Beruf des Steinmetz bist heute ziemlich cool. Da ich aber genug Geschichten aus dem Handwerk kenne und daher weiß, dass der Praktikant noch nach den Azubis der Arsch vom Dienst ist, hatte ich da wenig Bock drauf. Ich habe, mit pubertierendem Übermut, eine gesunde Abneigung gegen Autoritäten aller Art und entscheide mich daher für das Nächstbeste: Ich will Grafiker werden, einer dieser lauen Bürojobs zu denen mir immer geraten wurde. Die Arbeit macht mir Spaß, zumindest bis die Kund*innen einem erzählen wie das Erzeugnis besser aussehen würde.

Ich mache in der Tat eine schulische Ausbildung zu „grafisch-technischen Assistenten“. In der Zeit um 2000 rum, machen alle „irgendwas mit Medien“, daher gibt es am Ende einen Haufen Leute, die diese, oder ähnliche Ausbildungen absolvieren und keine Arbeit finden. Ich kenne ganz genau eine Person, die ein Anstellung in diesem Beruf gefunden hat. Alle anderen haben sich später neu orientieren müssen: als Pflegerin, als Fliesenleger oder in der Gastronomie.

Ich bin mittlerweile das, was heute gern abwertend als „Bauchlinke“ bezeichnet wird. Mir ist klar, dass dieses System so wie es ist nicht bleiben kann und liege selbigem zur Strafe auf der Tasche. Denn eins war klar, meine Eltern kämpfen ihren eigenen Kampf. Öffentliche Baukosten die auf Anwohner*innen umgelegt werden, Umschulungen wegen Werksschließung, drohende Arbeitslosigkeit und politische Unsicherheiten wegen der Agenda 2010 haben mir eins früh beigebracht: Du musst schon selber mit dem Arsch an die Wand kommen.

Nachdem ich 2005 über den Zivildienst im Berliner Speckgürtel von Brandenburg lande, bekomme ich dann auch das erste Mal die Härte des Jobcenter zu spüren. Bisher konnte ich mich erfolgreich davor drücken, dass mich die Mühlen der Bürokratie erwischen, nun ist meine Glückssträhne vorbei. Ich schaffe es noch einige Zeit mich der Lohnarbeit zu entziehen, da ich einfach keine Lust habe und mir meine Zeit lieber selbst einteile, füge mich dann, auch durch Sanktionen vom Amt, meinem Schicksal.

In dieser Zeit lerne ich viel über das Jobcenter und den Niedriglohnsektor in Deutschland. Ich lerne die miesen Arbeitsbedingungen bei einer großen Fastfood-Kette kennen und vernünftige bei einem ehemaligen Staatskonzern mit Tarifbindung. Ich durfte Klos putzen, weil ich zu spät zur Arbeit kam und beklaute fast alle meine Arbeitgeber ohne große Hemmung. Ich lernte aber auch nette Kolleg*innen kennen und hatte durchaus Spaß an meiner Arbeit. Wenn du dein Tagwerk nach acht Stunden erledigt hast und dir mit Freund*innen oder Kolleg*innen ein Bier zum Feierabend gönnst, das hat auch was von Sozialromantik und ist gemeinsame Klassenerfahrung. Ich lernte, wie ich schnell an Arbeit komme, wenn ich Sie brauche und wie ich mich kündigen lasse, damit ich keine Sperre vom Amt kassiere. Ich entschied mich Bewusst für ein Leben am gesellschaftlichen Rand und versuchte durchaus mich entsprechend politisch zu bilden.

In genau diesem Zeitraum, wäre ich sicher ein perfekter Aspirant für linke Gruppen gewesen. Trotz der Nähe zu Berlin, der heiligen Szenehauptstadt, ist bei mir nichts davon angekommen. Ich habe mich nie als Objekt revolutionärer Bestrebungen wahrgenommen. Wie auch? Unsere Lebenswelten waren zu verschieden: Akademikerkinder und theorie-verkopfte Menschen auf der einen, abgehängtes Prekariat und Plattenbau-Romantik auf der anderen Seite. Erst letztens hatte ich das Fremdwörterbuch in der Hand, dass ich mir kaufen musste, weil viele Texte, die ich lesen wollte schlicht zu schwer waren.

Heute bin ich Sozialarbeiter, also selbst Akademiker. Ich habe auf Anraten meiner Frau die Fachhochschulreife über den dritten Bildungsweg nachgeholt. Neben dem Studium habe ich weitergearbeitet, weil wir zwei Kinder zu ernähren hatten. Meine Lebens-, und vor allem Klassenerfahrungen, haben mir zwar einen großen Vorteil im Studium gebracht, nichts desto trotz, ich bin nun auch irgendwie ein Teil des Systems. Meine Arbeit ist die professionelle Verwaltung des gesellschaftlichen Ausschusses, zu dem ich selbst oft genug gehört hatte. Aber ich kenne meine Seite im Klassenkampf und organisiere mich in gewerkschaftlichen und antifaschistischen Strukturen, versuche mit Genoss*innen in unserer Kleinstadt entsprechende Akzente zu setzen. Aber der Weg dahin ging eben nicht über die linke Szene, sondern war eher ein notwendige Selbstpolitisierung.

Linke Strukturen sollten Bildung als Mittel im Klassenkampf wieder besser integrieren und dabei vor allem niedrigschwelliger, also einfacher und für alle Leute zugänglicher, werden. Denn nur wer seine Lage erkennt, darüber reflektieren und diskutieren kann ist auch fähig seine Situation zu verändern. So schaffen wir auch wieder mündige Bürger*innen die nicht darauf warten, dass Politiker*innen über Reformen Verbesserungen bringen, sondern Veränderung konkret und direkt einfordern.

Von Klaus S.


Proletarische Welten ist eine unregelmäßige erscheinende Artikelserie des Autonomie Magazins. Sie lässt Menschen aus proletarischen Verhältnissen zu Wort kommen, um Erfahrungen aus dem echten Leben zu teilen. Die Serie will eine Brücke schlagen, zwischen der radikalen Linken und der proletarischen Klasse. Alle Beiträge aus der Reihe findet ihr hier.