Übersetzung: Sebastian Lotzer
Am vergangenen Donnerstag beteiligten sich um die 1 Million Menschen in Frankreich an den landesweiten Demonstrationen gegen die Pläne der Regierung, die Rentenversicherung zu „reformieren“, sprich das Eintrittsalter zu erhöhen und die Bezüge zu kürzen. (1) Ausgenommen werden sollen lediglich die Angehörigen der Polizei, wie die Regierung unmittelbar vor dem 5. Dezember erklärte, nachdem auch Gewerkschaftsvertreter der Bullen erklärt hatten, sich an den Protesten beteiligen zu wollen. Arbeitsniederlegungen gab es im Wesentlichen im öffentlichen Sektor, bei der staatlichen Eisenbahn fielen ein Großteil der Züge aus, im Großraum Paris fuhren kaum Metros, viele Buslinien verkehrten ebenfalls nicht. Auch im Flugbetrieb kam es zu Störungen. Ebenfalls umfangreich waren die Arbeitsniederlegungen bei den Lehrer*innen und den Beschäftigten des Gesundheitswesens, letztere kämpfen schon seit Monaten für bessere Arbeitsbedingungen und bessere Bezahlung. Im privaten Sektor kam es kaum zu Streikaktionen, allerdings ruht seit Donnerstag in der Mehrzahl der großen Erdölraffinerien die Arbeit, hier sind die Mehrheit der Malocher in der CGT organisiert und die Belegschaften sind eine der letzten Bastionen der klassischen, kämpferischen Arbeiter*innenklasse. Zugleich wurden landesweit Straßen und Verkehrskreisel blockiert, allerdings in weit geringerem Umfang als zum Vergleich der Anfänge der Gilets Jaunes Bewegung.
Ein Rückblick auf den ersten großen Aktionstag und den Angriff auf die neue „Rentenreform“ aus der Sicht eines Teilnehmers.
Die Streikpostenkette
Ich hatte meinen Tag wie viele von uns begonnen: Mit der Verteilung von Flugblättern. Mit den Arbeitskollegen, mit denen wir organisiert sind, in einer Streikpostenkette inmitten der Nachbarschaft. Es war eine tolle Zeit. Die Menschen waren sehr aufgeschlossen. Einige fragten nach dem Zeitplan für die Demonstration, andere erklärten, warum sie arbeiten mussten. Tee und Kaffee erwärmten unsere kleinen Körper und die Diskussionen liefen gut. Zu den beliebtesten Themen:
Wann werden die Bullen den Protest angreifen? Nach der Meinung aller: Am Platz der Republik.
Wie viel wirst du verlieren, wenn du das Regierungsprojekt auf deinen Fall anwendest ? (Jeder hatte es testweise durchgerechnet und jeder hatte dabei Einbußen zu beklagen)
Wie kann man die Regierung bremsen und den Privatsektor mobilisieren?
Kurz
gesagt, es war erfreulich und ein Tag voller Begeisterung, was
bedeutet, dass ein Streiktag mit mehreren Kollegen immer besser ist
als allein BFM (2) zu sehen, bevor man zur Demonstration geht.
Wir
nähern uns dem Umzug
Ich
beschließe, mit einer Gruppe von Arbeiter*innen aus dem Adoma
– Haus aus der Nachbarschaft nach Belleville
zu ziehen. Wir treffen dort die Leute der Cantine des
Pyrénées (3), die von der
Anhöhe von Belleville
herunterkommen. Es herrscht eine sehr herzliche Atmosphäre. Wir
finden uns mit ein paar Hundert hinter einem Banner „Belleville
Gegenangriff“ ein und gehen
die Rue du Faubourg du Temple
hinunter. Als wir am Platz der Republik ankommen, sehen wir dass
unsere Vorhersagen zutreffend sind: Der Ort ist von
Aufstandsbekämpfungstruppen belagert, was keinen Zweifel daran
lässt, dass der Staat beschlossen hat, dort hart zuzuschlagen. Wir
haben deshalb einen langen Abstecher zum Ostbahnhof gemacht (4).
Wir
kommen auf dem Platz an und haben das Gefühl, dass es eine sehr,
sehr große Demonstration sein wird. Es ist 13:30 Uhr, die
Demonstration beginnt erst in einer halben Stunde und es gibt bereits
mehr Leute als bei der größten Demonstration, die wir in diesem
Jahr gesehen haben. Der Boulevard ist sehr prall gefüllt. Menschen
jeden Alters und Geschlechts. Alt und Jung. Wir treffen uns im
Solidaires Block (5)
und die Demonstration ist bereits sehr, sehr, sehr, sehr massiv, eng
beieinander stehen die Menschen. So sehr, dass wir uns ein wenig
Sorgen machen. Wenn die Polizei angreift, wird es die Bewegungen der
Menge ziemlich schwierig machen. Dort stehen wir lange Zeit auf dem
Fleck. Zeit, alle unsere eingesammelten Flugblätter zu lesen und
viele Leute zu treffen. Die Feuerwehrleute sind anwesend – wir
werden noch einmal darüber reden – und klettern auf ein Gerüst,
während sie die Menge anstacheln. Diese reagiert mit ganz
offensichtlich positiver Resonanz.
Es sind fast anderthalb Stunden
seit den ersten Zusammenstößen an anderer Stelle vergangen. Auch
wenn wir uns immer noch nicht bewegt haben.
Es
wird heiß vor dem Gewerkschaftshaus
Wir
kommen dem Kopf der Demo näher, und was uns auffällt, ist die
Vielfalt der Menschen, vor allem aber die Masse der Menschen. Der
„cortège de tête“
(6) erstreckt sich fast über den gesamten Magenta Boulevard. Man
muss dazu bemerken, dass es meiner bescheidenen Meinung nach nicht
mehr Sinn macht von einem „cortège de tête„zu
sprechen. Der „cortège de tête„war
eine sinnvolle Bezeichnung, als es noch um mehrere separate
Demonstrationsblöcke ging. Hier und heute aber sind die Unterschiede
in der Demonstration nicht mehr wirklich sehr augenfällig, da die
Demonstration zu einer einzigen Ansammlung von Wütenden geworden
ist, die sich vermischen und vermischen. Selbst Gewerkschaftsumzüge,
die jahrelange mit Tränengas beschossen wurden, sehen nicht mehr so
aus wie noch vor 3 oder 4 Jahren.
Wie auch immer, wir kommen zurück zum Zugang des Boulevards nahe der Kreuzung mit der Rue du Château d’Eau. Wir sind ein wenig zurückgefallen, als zu unserer Rechten ein Shiva– Laden (eine Geschäft für Haushaltswaren, das unter anderem für seine besonders sexistischen Anzeigen bekannt ist) im Arsch geht. Fast sofort hagelt es Tränengas und gleichzeitig ziehen große schwarze Wolken von Qualm in unsere Richtung, die von einem Feuer vor dem Gewerkschaftshaus kommen. Viele von uns fragen sich, was los ist. Wir werden sehen, dass es sich um eine große Fertigteilbaustelle handelt, die direkt vor der bourse du travail in Flammen steht.
Wir können nicht genug betonen, wie vorsichtig wir mit dem Einsatz von Feuer sein müssen, dessen Folgen einfach katastrophal sein können. Nun, die Polizei nutzt es aus, um alle mit viel Tränengas zurückzudrängen. Sie nebeln den Magenta Boulevard ein, alle Fluchtwege an der Seite sind von Polizisten besetzt, wir können nur zur Metrostation Jaques Bonsergent zurückkehren, während wir uns unsere Lunge aus dem Leib husten. Es ist immer noch sehr eng und Tausende von Menschen sind mit Schutzausrüstung gekommen. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, wie groß die Demo wirklich ist. Viele Menschen, die nicht kämpfen wollten, bewegen sich rückwärts. Wir werden später erfahren, dass mehrere tausend Menschen am Valmy Kai, wo es nur wenige Zusammenstöße gab, den Ort umgangen haben.(7) Gut für sie, gut für die anderen.
Positionskampf und Ermüdung auf dem Boulevard Magenta
Wir beschließen, auf dem Boulevard zu bleiben, aber es geht nicht wirklich voran. Offensichtlich sind Banken sehr begehrt heute. Einige Leute denken, dass es klug ist, Feuer in einer der Banken zu legen, obwohl sie sich in einem Wohnhaus befindet. Einige Kameraden eilen herbei, um das Feuer zu löschen.
Danach bleibt es sehr lange beim auf der Stelle stehen. Wir gehen zurück auf den Boulevard und sehen, dass einige Leute bereits auf dem Platz der Republik sind, wo es heftig zur Sache geht.
Auch
wir haben von Zeit zu Zeit Tränengasbeschuss, aber nicht in
vergleichbarer Intensität. Wir kommen ein wenig voran, aber der
Fluss der Demo scheint durch die BRAV (8), die sehr präsent sind, am
Kreuzungsbereich zum Boulevard Magenta unterbrochen zu werden. Wir
haben das kaum realisiert, als wir hinter uns durch ein andere BRAV
Einheit an der Metro Station Jacques Bonsergent
abgeschnitten werden. Wir sitzen in einer Art hinterhältigen Falle.
Die Bullen schubsen uns nicht, sie teilen einfach den Umzug. Dahinter
brandet der Rest der Demo an. Dann gingen die Feuerwehrleute, die den
ganzen Nachmittag sehr präsent waren, an die Front, um die
Umzinglung aufzubrechen. Wir stehen hinter ihnen. Aber wir haben
immer noch keinen Zugang zum Platz der Republik. Und es gibt einen
neuen Kessel hinter uns. Und die Demo brodelt, wütet, damit wir
wieder eins sein können und die Bullen sich verpissen. Geschreie,
Sachen fliegen, die Feuerwehrleute bauen sich direkt vor den Bullen
auf, üben Druck auf sie aus und die Polizisten geben ihre Positionen
auf. Das werden wir dreimal an diesem Nachmittag erleben.
Aber es
ist meistens echt nervig. Wir werden von den Bullen reichlich
gestresst, irgendwann schaffen wir es, auf den Platz der Republik zu
gelangen, wo die BRAVs in der Mitte des Platzes stehen, um die Menge
zu provozieren. Erfolgreiche Provokation: Sie werden aufs Übelste
beschimpft, von der Menge auf beeindruckende Weise angegriffen.
Schließlich doch noch eine Demonstration
Es entspannt sich ein wenig und eine CGT Demoblock kommt an, ein Soundsystem an der Spitze, und nimmt die Demo auf eine sehr dynamische Weise mit. Viele von uns stecken seit 14:30 Uhr im Tränengas fest, wir haben es ein wenig satt. Wir würden gerne in Ruhe demonstrieren können, aber offensichtlich will die Polizeipräfektur das nicht und steigert die Anzahl an Provokationen. Es wird gegen 17:00 Uhr dunkel, als wir auf dem Voltaire Boulevard sind. Ich habe noch nie eine so kraftvolle Demonstration nach mehr als zwei Stunden herumstehen gesehen. Und vor allem ist es eine sehr gute Atmosphäre. Viele Slogans, Lieder, die Bullen werden bei jedem Erscheinen ausgebuht und beleidigt. Sie reagieren fast systematisch mit Tränengas (ohne angegriffen worden zu sein). Wie auch immer, vor 10 Jahren wäre es die gewalttätigste Demonstration des Jahres gewesen, aber mittlerweile ist das alles ja ein alter Hut. Wir sind motiviert und sehen, dass die Gilets Jaunes sehr, sehr präsent sind. Dennoch keine Marseillaise- oder sonstigen „patriotischen“ Gesänge, da die Gewerkschaftskräfte so präsent sind. Im Grunde genommen radikalisieren sich die Sprechchöre ein wenig und das ist nicht schlecht. Wir können allerdings die Verwendung der Parole „Macrons Nutten“, der sich gegen die CRS richtet, nur bedauern. Huren verdienen es wirklich nicht, mit den CRS in einem Atemzug genannt zu werden.
Ankunft am Platz der Nation und Bullenüberfall
Nach einer eher ruhigen Demo ab dem Platz der Republik kommen wir an unser Ziel, aber auf dem Platz der Nation ist die Lage sehr angespannt. Die BRAVs sind wieder auf dem Platz platziert, deutlich sichtbar, es gibt so viele Polizisten, dass es ziemlich beeindruckend ist. Natürlich greifen sie direkt an. Sie schicken Offensivgranaten in Kopfhöhe. Prügeln wie die Irren. Ich muss zugeben, als ich das sah, war ich nicht allzu gerne hier. Seit 10 Uhr in der Kälte zu sein, hilft auch nicht wirklich weiter und das Risiko einzugehen, verletzt zu werden, war sehr hoch. Und wir haben dann auch mehrere Verletzte gesehen. Es waren noch Leute da, als ich ging. Ich ging dem Rest der Demo entgegen und sah die Ankunft der Gewerkschaften, die gerade von der Polizei verarscht worden waren. Der Ordnungsdienst der CGT war übrigens sehr sehr gut ausgerüstet.
Aber das Beeindruckendste dieses Tages waren vor allem die Menschenmassen, die sich in den Straßen von Paris einfanden. Das ist nur der Anfang und es wird nicht ausreichen, um dieses berüchtigte Gesetz zu stoppen, aber es ist ein guter Anfang. Und vor allem war die Streikbeteiligung sehr, sehr hoch. Und das ist das Wichtigste.
Fussnoten
(1) Zu den Details der „Rentenreform“ siehe B. Schmids Bericht auf Telepolis https://www.heise.de/tp/features/Immense-Proteste-gegen-Macrons-Renten-Kuerzungsplaene-4607063.html
(2) BFM TV (Akronym von Business FM) ist ein privater französischer 24-Stunden-Nachrichtensender mit Sitz in Paris
(3) Selbstorganisierter Ort des Klassenkampfes, hier finden Treffen statt und es gibt preiswerte Gerichte auf Solidaritätsbasis für alle. http://www.zones-subversives.com/2019/02/l-experience-de-la-cantine-des-pyrenees.html
(4) Der Gare de l’Est ist der Ausgangspunkt der Gewerkschaftsdemo am 5. Dezember in Paris
(5) Zusammenschluss der unabhängigen Gewerkschaften, links undogmatisch, geht Bündnisse mit den Autonomen und Anarchisten ein.
(6) Der cortège de tête bildet seit der Bewegung gegen das loi travail 2016 die Spitze der Demo. Früher liefen die CGT oder linke, dogmatische Gruppen an der Spitze der entsprechenden Demos in Paris. Seit 2016 finden sich hier Autonome, Antifas und alle Sonstigen ein, die bei den Demos ganz gerne mal ein Tänzchen mit den Bullen wagen oder die Scheiben von Banken und Immobilienbüros einwerfen. Manchmal sind es nur ein paar hundert Leute, manchmal aber auch ein paar Tausend. Anfänglich hatte der Ordnungsdienst, vor allem der CGT, noch versucht, gegen diesen cortège de tête mit Gewalt vorzugehen. Dies stieß allerdings auf handfeste Gegenwehr und löste bei der eigenen Basis massiven Unmut aus. Seitdem gehört dieser Frontblock eigentlich zu jeder wichtigen Demo in Paris, auch wenn er manchmal aus taktischen oder politischen Gründen nicht an der Spitze der Demo läuft oder sich auf mehrere Blöcke verteilt.
(7) Im Vorfeld der Demo gab es einen Aufruf, sich der Kontrolle und den zu erwartenden Angriffen der Bullen zu entziehen, indem man von der vorgegebenen Route abweicht. Tausende folgten diesem Aufruf und erreichten als erste und ohne größere Probleme in großen Gruppen den Endpunkt der Demo am Platz der Nation.
(8) Gefürchtete Motorradbullen Sondereinheit, 1987 aufgelöst, nachdem am 6. Dezember 1986 zwei Bullen der Einheit Malik Oussekine nach einer Student*innendemo in einem Hauseingang zu Tode geprügelt hatten. Wurden Ende 2018 neu aufgestellt, nachdem es bei den ersten Demos der Gilets Jaunes zu schweren Krawallen kam
Anmerkungen
Dieser Bericht erschien am 6.12.2019 auf Paris Luttes Info, die Übersetzung erfolgte frei und sinngemäß durch Sebastian Lotzer. Sebastian Lotzer veröffentlichte 2017 ‚Winter Is Coming‘, eine kommentierte Textsammlung über die Bewegung gegen die „Reform der Arbeitsgesetzgebung“ (loi travail), sowie über die Kämpfe und Revolten in den französischen Vorstädten beim Wiener Verlag bahoe books. Im gleichem Verlag erschienen seine Romane ‚Begrabt mein Herz am Heinrichplatz‚ und ‚Die schönste Jugend ist gefangen‚