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Soziale Kämpfe

In den Armenvierteln Frankreichs existiert die Todesstrafe immer noch

Sebastian Lotzer

Erneut ist ein junger Mann in Frankreich bei einem Bulleneinsatz ums Leben gekommen. Und natürlich stammt er aus einem der ärmeren Vierteln, oder wie es in französisch so viel schöner und doppeldeutiger heisst, aus einem quartier populaire. Wie so häufig stand am Anfang eine Verfolgungsjagd durch Angehörige der BAC (Brigades Anti-Criminalité), die seit Jahrzehnten die Bewohner*innen der quartiers populaires terrorisieren und seit ein paar Jahren auch als Schlägereinheit gegen die Demonstrationen und Aktionen der sozialen Bewegungen eingesetzt wird. Es ist das immergleiche Drehbuch, ein Gesetzesbruch, oder auch nur die Vermutung, ein solcher könnte stattgefunden haben, und schon werden Jugendliche durch die Straßen gehetzt. Zu Fuss, auf dem Mofa, oder wie im Fall von Mehdi im Auto unterwegs, wird das Wild gejagt, in die Enge getreiben und findet dann schließlich den Tod. Natürlich trifft die Bullen niemals die Schuld, immer waren es die unglücklichen Umstände, die einem jungen Menschen das Leben kosteten, oder wenn es nicht die unglücklichen Umstände waren, dann werden eben Umstände konstruiert. Wie im Februar in Marseille. Das Fahrzeug, in dem Mehdi saß wurde im Zusammenhang mit einem Raubüberfall gesucht. Mehr war nicht bekannt, mehr musste nicht bekannt sein, um ihn hinzurichten. Das Fahrzeug war schon gestoppt und Mehdi versuchte lediglich, aus dem Fahrzeug zu entkommen, als die Bullen anfingen zu ballern. Schon lebensgefährlich verletzt, wurde er noch in Handschellen geworfen und körperlich misshandelt. Die Rettungskräfte wurden nicht von den Bullen alarmiert, sondern von zufälligen Zeugen und durften dann auch nicht sofort Erste Hilfe leisten. Und natürlich hatte Mehdi eine Waffe in der Hand und natürlich handelten die Bullen in Notwehr. Sagen sie. Bloss die ganzen Zeugen haben keine Waffe in Mehdis Händen gesehen. Nur die Bullen, die einen unbewaffneten jungen Mann hinrichteten. wieder einmal. Freunde, Familienangehörige und Aktivist*innen aus dem Viertel haben einen Gedenkmarsch organisiert. Und etwas zu Mehdi und dem Viertel aus dem er kommt, und von der alltäglichen Gewalt des Staates und der Brutalität der gesellschaftlichen Verhältnisse für all jene, die in den quartiers populaires leben. Der Bericht erschien am 27. Februar bei den Genoss*innen von acta zone (a) und wurde von mir sinngemäß übersetzt. 


(Wir haben diesen Artikel von einem Freund aus Marseille erhalten und übermitteln ihn hiermit weiter. Zu Ehren von Mehdi, einem 18-Jährigen, der am Valentinstagabend in Marseille von Agenten der BAC getötet wurde und dem am letzten Wochenende mit einem „weißen Marsch“ gedacht wurde. Dies bietet die Gelegenheit, dieses Polizistenverbrechen in dem Spannungsfeld des Viertels, aus dem Mehdi stammt, und das geprägt ist von starken sozialen Ungleichheiten und der Unterdrückung derjenigen, die dies anprangern, einzuordnen. – acta zone

Samstag, 22. Februar. Marseille. Der Himmel ist klar, aber auf den Gesichtern der etwa hundert Anwesenden bei der Zusammenkunft um 11 Uhr morgens ist eine Mischung aus Angst, Traurigkeit, Entschlossenheit und Kampflust zu sehen.  Es ist in der Tat ein doppelt verwundetes Viertel, das versucht, so gut es kann und trotz der Repression das Haupt zu erheben.

Bevor wir zu diesen “weißen Marsch” zu Ehren von Mehdi kommen, müssen wir den besonderen und jüngsten Hintergrund dieses Viertels der Citè Phocéenne in Erinnerung rufen.

Die Bewohner der Nachbarschaft sind bereits von einem Feuer heimgesucht worden

In der Tat steht das „Kollektiv der Bewohner des Weißen Hauses“ an der Spitze dieses neuen Kampfes gegen ein Polizeiverbrechen. Dieses Kollektiv hat nach dem schrecklichen Vorfall vom August 2019 leider unter tragischen Umständen an Bekanntheit gewonnen. Denn am 23. August 2019 wütete ein Feuer in einem der großen Gebäude des „Weißen Hauses“ der H.L.M., in dessen Folge erneut Familien verdrängt wurden. Ebenso wie bei den eingestürzten Gebäuden in der Rue d’Aubagne, die im November 2018 acht Todesopfer forderten (1), muss auf die Nachlässigkeit und Untätigkeit der öffentlichen Behörden hingewiesen werden. Dabei gehörte die Siedlung bereits zu den 17 auf einer Liste benannten „Objekten nationaler Prioritäten“, die in der Region im Rahmen des Renovierungsplans für heruntergekommene Wohnanlagen, den das Ministerium für territoriale Entwicklung im Oktober 2018 auf den Weg gebracht hat, festgelegt wurden. 

Zu den mehr als 3.500 Familien, die in Marseille wegen ungesunder oder einsturzgefährdeter Gebäude vertrieben wurden, kommen somit nach dem Feuer im “Weißen Haus” weitere Familien hinzu. Und das “Kollektiv der Bewohner des Weißen Hauses” wird nicht aufhören, die „sehr besorgniserregende Gesundheitssituation“ anzuprangern, oder die Situation der Vertriebenen, die von Hotel zu Hotel wandern müssen und für ihre Rechte kämpfen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Bewohner nicht nur untereinander und um das Kollektiv der Bewohner des Weißen Hauses herum organisieren, sondern auch im Zusammenhang mit anderen Kollektiven in Marseille, wie dem vom 5. November, das nach den Einstürzen der Rue d’Aubagne entstand, und es sich auch noch um ein äußerst lebendiges Viertel handelt, versäumte die Repression es nicht, ihre Nase in diese Angelegenheit zu stecken. 

Am 29. August wurden 3 willkürliche Verhaftungen von Mitgliedern des Kollektivs vorgenommen. Am 1. September 2019 drangen Polizeibeamte in die Räumlichkeiten des Kollektivs ein und versuchten, die Anwesenden einzuschüchtern. Bei dieser Intervention wird bemerkt, dass einer der Polizeioffiziere ein BOPE-Abzeichen trägt (Interventionsgruppe der Militärpolizei des Staates Rio de Janeiro, die für ihre Gewalt und zahlreiche Morde in den Favelas bekannt ist).

Trotz der Schikanen der Polizei und der Herablassung der gewählten Amtsträger kämpfen die Bewohner weiter für ihre Umsiedlungsaktion. In diesem besonderen Kontext, in dem nach einer bereits schmerzhaften Episode mehrere Monate lang gekämpft wird, erlebt das Viertel also ein neues Drama

Die Ermordung von Mehdi, ein weiteres Verbrechen der Polizei

Am Abend des 14. Februar 2020 tötete die BAC Einheit ‘Nord du Marseille’ Mehdi B., einen 18-jährigen Bewohner der Stadt des Weißen Hauses. Sehr schnell folgte die lokale Presse dem altbewährten Muster der unbelegten Anschuldigungen gegen das Opfer. Es ist fast ein Fall wie aus dem Lehrbuch: Journalisten und Zeugen wurden vom Tatort ferngehalten und es wurde ihnen verboten, sich der cité des Marronniers (in der sich der Mord ereignete) zu nähern, gleichzeitig wurde ein Artikel in ‘La Provence’ (Lokalzeitung, d.Ü.) veröffentlicht, in dem Mehdi als bewaffneter Räuber beschrieben wurde, der die Polizei bedrohte, das genaue Gegenteil von dem, was alle Augenzeugen live auf Facebook erzählten. Die Zeugen beschreiben sogar Tatsachen von äußerster Wichtigkeit. Mehdi stieg angeblich aus dem Auto aus, die BAC schoss zweimal auf ihn und kam dann und hat seinen wehrlosen Körper auf den Boden gerammt.

Hier ein Video, die von den Bewohnern kurz nach der Operation aufgenommen wurde:

Es geht wieder einmal darum, das Opfer in einen Aggressor zu verwandeln oder zumindest Mehdis Tod zu legitimieren, um das Eingreifen der Polizei a posteriori zu rechtfertigen. Obwohl die Todesstrafe 1981 abgeschafft wurde, scheint sie in den Arbeitervierteln de facto immer noch zu existieren. Nach der Basta Mag- Zählung (2) starben 2019 26 Menschen durch die Polizei. Mehdi ist die dritte Person, die im Jahr 2020 durch einen Polizeieinsatz getötet wurde, nach Maéva, der von der BAC in Rennes getötet wurde, und Cédric Chouviat, der in Paris zu Tode kam.

Die Ereignisse scheinen sich zu wiederholen, sie sind so vertraut, und doch sind sie am Ende ziemlich unerforscht, vielleicht sollten wir versuchen, mehr Licht in diese Abläufe zu bringen. Dies gilt umso mehr, als sie sehr oft eine bestimmte, arme und meist migrantisch geprägte Bevölkerung betreffen. Es ist daher auch das kollektive rassistische Unbewusste, an das sich diese Vorgänge wenden: die Figur der „Vorstadtjugend“, die Vorstellung, dass das Opfer „es verdient“ hat. Dies ist jedoch eine vorwurfsvolle Umkehrung. Bedeutet dies, dass der betreffende Polizeibeamte nicht im Umgang mit Waffen ausgebildet war und nur dazu imstande war, eher auf Verletzte als auf Täter zu schießen?

Für die Familien der Opfer und für die Bewohner der Viertel ist es daher ein doppelter Kampf: ein Kampf, um die Wahrheit herauszufinden und die Schuldigen zu belasten, und ein Kampf gegen falsche Aussagen, Verleumdungen und Rufschädigungen. Durch Presseartikel, Polizeiberichte, Stellungnahmen von Polizeigewerkschaften, Stellungnahmen von Behörden oder sogar von der Justiz selbst verleumdet werden.

Und angesichts der polizeilichen Straflosigkeit ist es notwendig, sich entsprechend zu organisieren. Das hat das “Adama-Komitee” (3) mit Nachdruck getan und seinem Kampf eine große öffentliche Wahrnehmung verschafft. Dennoch dürfen wir die Auswirkungen nicht vergessen, die dies für die Familien und Gemeinschaften, die Träger dieser Kämpfe sind, bedeutet. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum wir nicht unbedingt bei jedem Polizeiverbrechen die gleiche umfangreiche Mobilisierung sehen.

Nach dem Schock ist es Zeit aufzuwachen…

An diesem Samstag, dem 22. Februar, riefen Mehdis Familie und das ‚Kollektiv der Bewohner des Weißen Hauses ‚mit Unterstützung der antifaschistischen Gruppe ‚Les Squales‘ bzw. des ‚Maison du Peuple Marseille‘ (vor einigen Monaten geräumte Besetzung) um 11 Uhr morgens zu einem weißen Marsch vom “Maison blanche“ zur ‚Cité des Marronniers‘, dem Schauplatz des Dramas, auf.

Es ist also ein Umzug von etwa hundert Menschen, der sich in den nördlichen Stadtteilen von Marseille auf den Weg machen. Die Demonstration wächst schnell an und wird bei der Ankunft wohl 300 Teilnehmer zählen. Der Umzug ist ziemlich still, typisch für einen weißen Marsch. Die Kleidung ist eher dunkel, ebenso wie die Gesichter, die Traurigkeit ist spürbar. Die Demonstration empfängt während ihrer gesamten Dauer nur anerkennende, brüderliche Blicke. Und das Bemerkenswerte ist die Mischung des Umzugs: Angehörige des Opfers, Bewohner des Viertels, Aktivisten antifaschistischer Gruppen oder der radikalen Linken, Menschen, die man sonst im cortège de tête et oder bei den des gilets jaunes sieht. Zwei Frauen mit dem T-Shirt „Gerechtigkeit für Adama“, die in Marseille Urlaub machen, nahmen spontan an der Demonstration teil. Das Komitee vom 5. November war ebenfalls in großer Zahl anwesend. Auf den T-Shirts sind Slogans für Zineb oder andere Opfer von Polizeiverbrechen zu lesen. Bei der Ankunft wurden zwei Transparente entfaltet und einige Fotos auf den Stufen der cité des Marronniers gemacht. Nach einer Rede, in der Mehdis Tod mit all den anderen Todesfällen durch die Polizei in Verbindung gebracht wird und in der einige bekannte Namen, von Rémi Fraisse bis Zyed und Bouna über Adama Traoré oder Cédric Chouviat, genannt werden, wird eine Schweigeminute eingelegt.

Ein zweiter Redner erklärte, dass dies nur ein erster Schritt sei und dass, wenn die Familie den Rechtsstreit begonnen hat, weitere Mobilisierungstreffen stattfinden werden. Diese Rede endete mit einem weiteren Moment der Erinnerung, diesmal im Gedenken an alle Opfer staatlicher Gewalt, wobei auch an die durch Polizeigewalt Verstümmelten erinnert wurde.

Danach bildete sich spontan eine kollektive Abwanderung, um in die Innenstadt zurückzukehren. Diese improvisierte Mini-Demo wird von Jugendlichen aus der Nachbarschaft begleitet, auf Rollern und sogar im Rollstuhl. Die Rollstuhlhupe begleitet den Applaus und die Parolen „Mehdi, Mehdi, vergiss nicht, verzeih nicht“, „siamo tutti antifascisti“. Die Schaulustigen nicken zustimmend. Dann steigt die Gruppe in den Bus und singt weitere Parolen in einem überfüllten Bus, dessen Fahrgäste sich dem Applaus und dem Gesang anschließen. Diese vorübergehende Verbrüderung verlangt nach mehr. Im Maison blanche und in Marseille geht der Kampf weiter!

(a) https://acta.zone/la-peine-de-mort-existe-toujours-dans-les-quartiers-populaires/?fbclid=IwAR37Hgl-3NXIDFa32v63RJQu58UGEcf4ImLDXEF2xs7xYp60OVUZdg_Ayes

  1. Jahrelang hatten die Bewohner auf den extrem baufälligen Zustand etlicher Häuser in der Altstadt von Marseille hingewiesen, was aber keinerlei Handlungen der Behörden nach sich zog. So begruben denn Ende 2018 einstürzende Häuser etliche Menschen unter sich, acht Bewohner fanden den Tod. Wochenlang gab es wütende Proteste, an denen sich abertausende beteiligten, teilweise kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit den Bullen (d.Ü.)
  2. Vielgelesendes linksliberales bis linkes Magazin  
  3. Das Kommitee ‘Justice pour Adama’ hat sich nach dem Tod von Adama Traoré 2017 gegründet. Der junge Mann war nach seiner Festnahme in einem Pariser Vorort unter bis heute ungeklärten Umständen gestorben. Erst das dritte von der Familie und Freunden finanzierten Gegengutachten führte zur Aufnahme offizieller Ermittlungen gegen die beteiligten Bullen. 

Von Sebastian Lotzer sind in den letzten Jahren mehrere Bücher auf Bahoe Books erschienen: Winter is comming über die Kämpfe gegen die Reform der französischen Arbeitssgesetze, Begrabt mein Herz am Heinrichplatz, Erzählungen aus den Anfängen der autonomen Bewegung und aktuell Die schönste Jugend ist gefangen. Ebenfalls ein Roman, eine Annäherung an die „Bemühungen um einen bewaffneten, antagonistischen Ansatz von Gegenmacht“.