COVID-19 und Kapitalismus
Im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie wurden von Seiten des deutschen Staates weitreichende Eingriffe in die Bürgerrechte vorgenommen. Der Großteil davon über eine Erweiterung des bundesweiten Infektionsschutzgesetzes (IfSG); der Freistaat Bayern hat sich direkt ein eigenes – temporäres – IfSG gegeben. Viele dieser Vorkehrungen können und sollten – sowohl aus linksradikaler, wie auch rein juristischer Sicht – einer kritischen Beobachtung unterzogen werden.
Der bürgerliche Staat – egal wie demokratisch er auch verfasst sein mag – verfolgt die Anliegen einer undemokratisch geordneten Ökonomie und kann demzufolge nicht im Interesse der lohnabhängigen Klasse handeln. Doch in bestimmten Zeiten können sich diese Interessen durchaus überschneiden. Ein kollabierendes Gesundheitswesen würde für uns eine Vielzahl unnötiger Opfer bedeuten – für den Staat eine unkomfortable Phase der Instabilität und fürs Kapital den Wegfall einer elementaren Stütze zur Reproduktion der Arbeitskraft.
Durch den Shutdown bleibt uns das erspart. Nicht etwa aufgrund menschenfreundlicher Neigungen in den Ministerien und Aktionärs-Villen, sondern weil die Warnungen vonseiten der Wissenschaft zu missachten, bedeutet hätte, den reibungslosen Verkehr von Kapital und Waren durch eine humanitäre Katastrophe mittelfristig ernsthaft zu gefährden.
Dass es bei all den neuen Regelungen nicht um den Schutz des Menschen an sich geht, zeigt sich in einer Vielzahl an Widersprüchlichkeiten. Zum Beispiel daran, dass Großkonzerne unkompliziert Milliarden-Subventionen zugesagt kriegen, während über 10 Millionen Menschen bei 60-prozentiger Lohnfortzahlung in Kurzarbeit gehen mussten. Daran, dass die #stayathome-Kampagnen so gar keinen Blick übrig hatten für Menschen ohne Wohnung oder Menschen in miserablen Wohnverhältnissen. Oder auch schlicht daran, dass in diesem System Applaus kein allgemein anerkanntes Zahlungsmittel darstellt.
Gates kapert Deutschland?
Es wäre durchaus wünschenswert, wenn sich gegen derlei Missstände und die sie verursachende gesellschaftliche Systematik Widerstand regen würde.
In diesem Text muss es allerdings leider darum gehen, wie diese Missstände aktuell zum Ausgangspunkt von Fragestellungen gemacht werden, die nicht darauf abzielen (können), die Ursachen dieser Verhältnisse in Frage zu stellen.
Ein Video von „KenFM“ mit dem Titel „Gates kapert Deutschland“ wurde drei Tage nach seiner Veröffentlichung auf YouTube schon fast drei Millionen Mal gesehen. Dieses Video und die dazugehörige Personalie sind zumindest als katalysierender Faktor in der sich gerade formierenden „Corona-Rebellion“ zu betrachten. Des weiteren will ich sie – aufgrund ihrer hohen Popularität – beispielhaft dafür nutzen, zentrale inhaltliche und habituelle Charakteristika dieser Bewegung zu umreißen. Mir ist klar, dass sowohl die Bewegung selbst, wie auch die verschwörungstheoretischen Elemente in ihr, heterogen aufgestellt sind, darauf wird an späterer Stelle noch eingegangen.
„Mein Name ist Ken Jebsen, ich bin freier Journalist in Deutschland und arbeite seit über 35 Jahren in diesem Land mit einem Presseausweis.“
Mit diesen Worten startet Jebsen in seinen 30-minütigen Wortschwall. Der Satz suggeriert, das was danach kommt, sei ein Stück journalistischer Berichterstattung. Mal davon abgesehen, dass die Quellen, die er in der Videobeschreibung angibt, von ihm im Laufe des Videos mehrfach als nicht vertrauenswürdige „GEZ- und Konzernmedien“ bezeichnet werden und er sie noch dazu falsch wiedergibt, hat das, was er im Folgenden von sich gibt, so wirklich gar nichts mit dem Versuch einer journalistisch-objektiven Berichterstattung zu tun.
Dass man einer Medienlandschaft, die einen Claas Relotius und seitenweise Werbung hervorbringt, kein Vertrauen schenken möchte, ist absolut nachvollziehbar. Warum viele Menschen (der Kanal KenFM hat fast eine halbe Millionen Abonnent*innen) es dann aber im Gegenzug einem Typen entgegenbringen, der redet als hätte er tonnenweise Ritalin gefrühstückt, ist mir absolut unverständlich.
Er hat Kapitalismus gesagt!
„[…] ob ihre Kinder in die Schule gehen können, ob sie ihren Beruf ausüben können,
ob dieses Land noch weiter im Lockdown ist […], das bestimmen nicht Sie, die diese Regierung gewählt haben, das bestimmen nicht Sie, die diese Regierung finanzieren mit ihren Steuern – nein -, das bestimmt aktuell Bill and Melinda Gates, über die sogenannte Gates Foundation. Diese beiden Menschen haben sich über die WHO in die Weltdemokratien hinein gehackt.“
Diese zentrale These findet sich inzwischen zahlreich auf den „Grundgesetz-Demonstrationen“ in Form von Schildern à la „Gib GATES keine Chance“. Die Vorstellung, dass ein Ehepaar – auch wenn sie eine der schwergewichtigsten Kapitalfraktionen weltweit verkörpern – sich in sämtliche „Weltdemokratien hinein hackt“, ist schlichtweg absurd. Selbstverständlich gibt es Gruppen und Gewerbe wie beispielsweise Amazon oder Pharmakonzerne, die von Shutdown und Krankheit profitieren. Anzunehmen, dass diese Interessen und ihre Durchsetzungsfähigkeit überwiegen gegen zig andere mächtige Branchen, die, ihren Gewinn im Blick, nur an einer Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit dieser Gesellschaft interessiert sein können, zeugt nicht gerade von einer differenzierten Betrachtung der Weltwirtschaftsverhältnisse durch Ken Jebsen. Und in diesem Tenor geht es weiter:
„Menschen, die durch Steuervermeidung zu sehr sehr viel Geld gekommen sind – das ist ja Steuervermeidung, das ist nicht durch Arbeit.“
Diese Menschen (Jebsen meint natürlich B. u. M. Gates) sind eben nicht durch Steuervermeidung zu Geld gekommen, sondern durch Arbeit. Zwar nicht durch die eigene, aber durch die Inbesitznahme der Differenz zwischen geleisteter, produktiver Arbeit und dem gesellschaftlichen durchschnittlichen Wert der Arbeitskraft ihrer lohnabhängig Beschäftigten – kurz dem Mehrwert.
Die Aussage legt ex negativo nahe, es gäbe ehrbare Kapitalisten die nicht durch Steuervermeidung und auch nicht durch die Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern nur „kraft ihres eigen Schweiß und Blut“ zu Reichtum gekommen wären. Wer das sein soll, ist mir schleierhaft.
Ähnlich schleierhaft geht es weiter, wenn Jebsen behauptet, dass diese Menschen (wieder B. u. M. Gates) „in ihrem fast schon religiösen Wahn zu glauben die Welt besser machen zu können, sich die Weltgesundheitsorganisation gekauft haben […]“. Dass er dabei aus ca. 10% Spenden der Gates Foundation mal eben 80% macht und unterschlägt, dass die WHO eine der einflusslosesten internationalen Organisationen ist, die Weisungen ausgibt, an die sich kein Staat der Welt zu halten hat, nur nebenbei.
Daran anknüpfend nimmt er tatsächlich das Wort Kapitalismus in den Mund und empört sich:
„Das Ganze wird als selbstlos deklariert, aber es ist ein Kapern der Demokratie. Womit hat das zu tun? Es hat damit zu tun, dass wir in diesem System, dem Kapitalismus – diskutieren wir nicht über das Wort – es zulassen, dass Menschen, Einzelpersonen so unfassbar reich werden, dass sie sich quasi alles kaufen können.“
Hierbei versteigt er sich in ein Bild von der (deutschen) Demokratie als Schiff, das auf dem großen weiten Ozean Opfer eines Überfalls bösartiger Kapitalismus-Piraten wird. Dieses Bild wird in keinster Weise dem Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer komplexen Verquickung von Staat und Kapital gerecht – weshalb er vielleicht auch nicht über das Wort „Kapitalismus“ diskutieren möchte. Vielmehr suggeriert er ein irgendwie vom Rest der Welt losgelöst existierendes Deutschland, das nun von außen vereinnahmt werde.
´33, ´89, 2020 – Kein WM-Hit (hoffentlich)
„Bill and Melinda Gates haben in diesem Land mehr zu sagen als 83 Millionen Bürger. Allerdings nur solange sich die 83 Millionen Bürger das gefallen lassen.“
Und damit kommen wir langsam zum Kern des Problems. Wenn er von der Einheit dieser 83 Millionen Bürger gegen den Eindringling Gates fantasiert, dann ignoriert er dabei sowohl die Klassenunterschiede zwischen diesen Menschen, wie auch die konkreten politischen Forderungen unfassbar unterschiedlicher Strömungen. Und er ignoriert sie bewusst, denn:
„Auf dem Weg an die Front spielt es keine Rolle, ob du auf der rechten oder linken Seite marschierst.“
Daraus ergibt sich dann auch ein tieferer Sinn in einer an früherer Stelle in dem Video gemachten Weissagung, dass die Jahre ´33, ´89 und 2020 bald in einem Atemzug in den Geschichtsbüchern stehen würden: Als Erhebungen des deutschen Volkes nämlich.
Doch Ken Jebsen ist natürlich kein Antisemit – im Gegenteil, er will ein erneutes Auschwitz verhindern:
„Das (Anmerkung: angebliche gezielte Beimischung von Sterilisationsmitteln in von Gates finanzierte Impfstoffe, die in Afrika verabreicht wurden, um das globale Bevölkerungswachstum zu verringern) erinnert mich doch stark an […] einen Euthanasietrend [wie] vor 120 Jahren. Man wollte auch das Leben, was behindert ist, irgendwie loswerden, man bezeichnete es dann relativ schnell als unwert. Auch dahinter steckte die Idee, die Menschheit zu retten und wo ist das gelandet? Das landete am Ende in Auschwitz. Und vor genau dieser Situation stehen wir heute, dass nämlich ein Ehepaar und ein paar Geldgeber im Hintergrund sich überlegen, wie muss die zukünftige Menschheit gestaltet werden, damit sie in deren Konzept passt.“
An dieser Aussage ist so vieles mehr als nur grenzwertig, dass man überhaupt nicht weiß, wo man anfangen soll. Beim Ehepaar Hitler vielleicht, das gemeinsam mit „Geldgebern im Hintergrund“ den Holocaust organisiert hat? Meint er damit ThyssenKrupp und Konsorten, die sich ja keineswegs hinter Hitler versteckten oder ist da noch jemand anderes am Werk?
Oder bei der Gleichsetzung von Impfstoffen, die ja zum Bevölkerungswachstum weltweit beigetragen haben, mit der Shoa – was mehr als einer Relativierung selbiger gleichkommt. Viel mehr wird mit der selben Argumentation, mit der die Nationalsozialisten propagandistisch die Judenverfolgung legitimierten, eine Art Angst vor einem „Holocaust gegen das deutsche Volk“ konstruiert, was ganz klar eine Täter-Opfer-Umkehr ist.
Bodo Schiffmann, Gründer von „Widerstand2020“, scheint in dieser Hinsicht aus der Ecke der „Euthanasietrend“-Setter zu kommen. Sein Verständnis von „mehr Basisdemokratie: Dass wir eben uns als Körper begreifen. Ich denke die Menschen sind eigentlich mit einem Organismus zu begreifen. Wir brauchen jedes Organ da drin und ein gesunder Organismus wird Viren und Bakterien eliminieren. Und das versuchen wir mit dieser Partei zu erschaffen. Wir wollen eine Einheit werden.“ – das orientiert sich von Vokabular und Systematisierung her zum Kotzen stark an NS-Fantasien von der Einheit des Volkskörpers.
Und dass es Jebsen auch nicht um mehr direkte Demokratie geht, offenbart sich nicht zuletzt daran, dass er, wenn er diese propagiert, wenige Sätze früher oder später bei Vergeltungsfantasien gegen Gates, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen oder Politiker*innen landet, die er so für sich beschlossen hat und die in seiner Artikulation automatisch deckungsgleich mit dem imaginierten direkten demokratischen Volkswillen sind.
Wer ist das Volk?
Jetzt mag man gegen all das einwenden, Jebsen sei ein Spinner und nicht repräsentativ für die Menschen, die sich gerade wöchentlich in Stuttgart, Berlin, Nürnberg und sonst wo einfinden, um mit dem Grundgesetz in der Hand zu protestieren. Und in Teilen mag das durchaus stimmen.
Doch warum sind die präsenten Parolen dieser Bewegung „Wir sind das Volk“ und „Widerstand“?
Natürlich sind Parolen und Banner immer verkürzt, aber sie sind immer auch Ausdruck der inhaltlichen Marschrichtung. Und „Wir sind das Volk“ ist auch nicht länger als Slogan der DDR-Bürgerrechtsbewegung (was auch immer man davon halten mag) gesellschaftlich codiert, sondern längst in den Besitz von Pegida und AfD übergegangen.
Die „Widerstand“-Rufe beziehen sich offensichtlich auf den Paragraphen 20 des Grundgesetzes, der regelt, dass alle Deutschen das Recht haben, Widerstand zu leisten „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“. Das setzt eine affirmative Haltung gegenüber der anscheinend in der Vergangenheit bestandenen Ordnung voraus – beziehungsweise eine Zustimmung zu einem Gesetz, das an sich schon viel Scheiße enthält (ein komplett unterminiertes Recht auf Asyl beispielsweise), oder aber das der herrschenden Politik ohnehin am Arsch vorbeigeht (wie das Recht auf Enteignung und die Verpflichtung von Eigentum zur Förderung des Gemeinwohls). Es taugt dementsprechend wenig bis gar nichts als Referenz einer progressiven, widerständigen Politik.
Wenn man sich die Leute ansieht und anhört, die in Stuttgart zu Tausenden auf die Straße gegangen sind, dann kommt man nicht darum herum festzustellen, dass nicht annähernd jede*r davon einen (metaphorischen) Aluhut trägt. Man gewinnt tatsächlich eher den Eindruck, ihre Galionsfiguren und jene, die sich da in großen Teilen sammeln, gehören zur – auch ökonomischen – Mitte der Gesellschaft. Und genau die hat auch am ehesten ein Interesse an einer umstandslosen Rückkehr zum Normalzustand. Und es ist nicht weiter verwunderlich, dass gerade diese Schicht auch ein offenes Ohr für nationalistische Politik hat, darf sie sich doch von einer solchen einen gewissen unternehmerischen Schutz durch eine Eingrenzung des Konkurrenzrahmens erhoffen.
Die eigentliche Spaltungstendenz dieser „neuen“ Bewegung liegt nämlich gerade darin weder rechts noch links sein zu wollen. Durch den kritiklosen Einschluss menschenfeindlicher Theoreme erfolgt ein impliziter Ausschluss all derer, die in der Ordnung die da verteidigt wird, unter Ausbeutung, Verfolgung und Marginalisierung zu leiden haben.
Und jetzt?
Man möchte den Menschen, die sich als diffus links verstehen und einem tendenziell humanistischen Weltbild anhängen, die sich an dieser Art der „Corona-Rebellion“ beteiligen, zurufen, dass sie sich nicht vor den falschen Karren spannen lassen sollen. Dass der Feind ihres Feindes nicht automatisch ihr Freund und ihr Feind nicht der ominöse Marionettenspieler ist, sondern dass diese Welt eben kein Puppentheater ist. Keine Ahnung, ob das was bringt.
Was allerdings etwas bringen könnte, wäre der Versuch, das diskursive Feld nicht länger einen Morast aus Regierungs- und Konzernpropaganda auf der einen und Verschwörungsmythen und rechter Agitation auf der anderen Seite sein zu lassen.
Verschwörungsmythen sind eine Glaubensfrage und wie selbst Adorno feststellen musste, ist auch Wissenschaft irgendwie eine Art von Mythos. Daraus lässt sich keine Relativierung aller Meinungen als gleich legitim und fundiert ableiten, aber einiges über die Funktionsweise gesellschaftlicher Entwicklung. Viele Ansätze der radikalen Linken taugen nicht viel für die Vereinfachungen, derer ein wirkmächtiger Mythos bedarf. Die Realität und die sie bestimmende Systematik sind komplex und dementsprechend nur komplex zu erfassen und zu kritisieren.
Doch auch die radikale Linke verfügte zeitweise über massenkompatible Narrative. Sicherlich sind in diesen Phasen auch viele Spinner mitgelaufen (J. Fischer zum Beispiel), doch die vorherrschende Erzählung war eine andere, als sie es es jetzt ist.
Das Zerrbild der allgegenwärtigen Verschwörung ist hoffentlich nur begrenzt in der Lage Massen zu vereinnahmen, seine aktuellen Apologeten scheinen charismatisch nicht unbedingt prädestiniert zu erfolgreichen, autoritären Führungsfiguren zu sein.
Die Gefahr des Phänomens besteht gerade eher darin, dass Verschwörungsmythen quasi der Rauch des sich entzündenden Feuers der Krise sind – und die Menschen beginnen, unter Sauerstoffmangel halluzinierend, sich vor den Schattierungen der Rauchschwaden zu ängstigen und nach ihnen zu schlagen, statt nach einem Weg aus dem brennenden Haus zu suchen.
Wir sollten vielleicht aufhören, uns an dieser Form von „Corona-Rebellion“ abzuarbeiten und beginnen, unsere eigene Erzählung zu stärken, indem wir wieder anfangen unsere Kritik didaktisch klug vorzubringen. Ich weiß: Dieser Text ist gemessen an diesen beiden Punkten ein absoluter Fehlschlag. Gemeint ist er als Versuch, die eigenen Gedanken zu ordnen und möglicherweise anderen Menschen, die gerade mit ähnlichen Dingen hadern, einen Anstoß zu geben sich in dieser Krise zu verhalten.
Von: Jenny Znayu