Emanuel Kapfinger
Vor einigen Wochen habe ich hier im Autonomie-Magazin eine Polemik an den „Kommunistischen Diskussionsclubs“ geschrieben. Viele haben mir dann gesagt, dass ihnen unklar sei, welche konkrete Praxis nun daraus folgt. Deshalb werde ich das hier ausführen. Kurz gesagt braucht es eine überregionale sozialrevolutionäre Assoziation von autonomen Kollektiven, die konkret zwischen den Kämpfen der subalternen Klassen und der genuinen Theorie vermittelt, und deren Vermittlungsarbeit selbst eine autonome Praxis ist.
Zuvor sage ich noch, dass diese Assoziation nur als antiautoritäre und sozialrevolutionäre Sinn hat, d. h. wenn sie sich kritisch von den politischen Standpunkten des „linken Projekts“ (Mosaik-Linke, Linkspartei, iL), des Parteimarxismus, der radikalen Linken und der postmodernistischen Identitätspolitik unterscheidet.
Rhizom
Assoziiert sind Kollektive – Organisationselemente –, die ihre spezifischen Praxisfelder und -inhalte haben und darin vollständig autonom sind. Beispiele wären ein Arbeitskreis Imperialismustheorie, ein revolutionäres Online-Magazin und ein Kampf von Flüchtlingen. Vollständig autonom heißt dabei nicht, dass sie nichts miteinander zu tun haben, sondern dass jedes Organisationselement selbständig ist in seiner Praxis, und weder andere Elemente noch eine zentrale Instanz über diese Praxis bestimmen. Aber in dieser Autonomie geht es gerade darum, sich zu assoziieren und konkrete Verbindungen zu entwickeln. Bei diesen denke ich nicht an formale Verbindungen, sondern konkrete Praxisbeziehungen, die sich daher auch nur aus der wechselseitigen Ergänzung der Elemente begründen, beispielsweise zwischen einem Online-Magazin und dem Kampf von Flüchtlingen, weil die Flüchtlinge gerne öffentlich auf ihre Kämpfe aufmerksam machen wollen, und das Online-Magazin, weil es spannende Artikel veröffentlichen will.
Die Assoziation ist daher keine homogene Organisation mit formaler Mitgliedschaft und Statuen, sondern ein ausgesprochen heterogenes Gebilde, das keine fixe Grenzen hat und dessen interne Verbindungen sich mit der gemeinsamen Praxis entwickeln. Ein gutes Bild ist daher das „Rhizom“ (Deleuze/Guattari), eigentlich ein Wurzelgeflecht wie der Efeu, das sich je nach Bedarf in alle Richtungen verästeln, sich aber auch stellenweise zu Knotenpunkten verdicken oder auch Früchte hervorbringen kann, und das kein einheitliches Zentrum hat. Das Verbindende der Assoziation ist jedenfalls keine einheitlicher politischer Standpunkt (wie z. B. antiautoritärer Kommunismus, Antiimperialismus), sondern dass man sich in einer gemeinsamen sozialrevolutionären Praxis ergänzen kann und diese gemeinsam viel stärker ausüben kann.
Aus demselben Grund ist diese Assoziation keine Kaderorganisation, in der man nur mit einem bestimmten politischen Standpunkt und Bildung Mitglied werden kann, und sich gegebenenfalls irgendwann einem Prozess der „Kritik und Selbstkritik“ unterziehen muss. Stattdessen trägt man bei Differenzen einfach die Kontroverse auf Augenhöhe aus, und wenn diese nicht zu einer Verständigung führt, dann trennt man sich eben. Auf der Ebene der Organisationselemente funktioniert es dagegen nicht, dass jede Person ohne Voraussetzungen immer mitmachen kann. Der Arbeitskreis Imperialismustheorie erfordert eine gewisse Einarbeitung, das revolutionäre Online-Magazin erfordert bestimmte Text-Fertigkeiten und Vernetzungen, für den Kampf von Flüchtlingen muss man Flüchtling sein oder sich einigermaßen mit der Thematik beschäftigt haben.
Das hat auch direkt praktische Bedeutung: Damit die Assoziation fähig ist, ein relevanter gesellschaftlicher Akteur zu sein, reicht es nicht, wenn sich bloß 200 Leute einer linksradikalen ingroup, z. B. die antiautoritären Kommunistinnen, zusammentun. Vielmehr müssen sich mittelfristig eher so 10000 und mehr assoziieren. Adressatinnen meiner Überlegungen sind daher Menschen, die das sozialrevolutionäre Projekt teilen und in ihrem Praxisfeld organisiert und tätig sind, oder sich organisieren und tätig werden wollen. Das können auch – um mal ein paar Ressentiments aufzurufen – marxistische Professorinnen, kommunistische Linkspartei-Mitglieder, sozialrevolutionäre DGB-Funktionäre, Engagierte aus der Flüchtlingshilfe, queerfeministische Aktivistinnen oder gewerkschaftliche Basisorganisierungen in Betrieben sein. Adressatinnen sind auch Menschen, die sich kulturell der linksradikalen Szene zuordnen, nicht aber weil damit eine bestimmte Gesinnung einhergehen würde, also nicht weil sie „Genossinnen“ sind.
Die Organisationselemente haben ihren Sinn nicht nur im Kampf gegen das Bestehende, sondern sind in ihrer Assoziiertheit zugleich bereits der Ansatz von anderen, nichtkapitalistischen Kollektiven und überschreiten das Bestehende. Zum Beispiel kann ein Streik in einen selbstverwalteten Betrieb übergehen; der Arbeitskreis Imperialismustheorie kann eine innerhalb der Praxis eingebundene Wissenschaft, der es nicht um eine abstrakte Wahrheit geht, schon heute praktizieren; das Online-Magazin kann eine emanzipatorische Medienpraxis außerhalb der Sensations- und Konsumzwänge entwickeln; in der Solidarität mit Flüchtlingen kann sich eine ganz andere, reale Willkommenskultur für Migrantinnen abzeichnen. Soziale Revolution würde genau das heißen: Dass aus der Organisierung in den Kämpfen emanzipatorische, kapitalismus-überschreitende Kollektive entstehen. Die Assoziation, die ich gerade beschreibe, würde dabei ebenfalls in eine materielle und revolutionäre Assoziation mit ökonomischem, politischem, rechtlichem, kulturellem usw. Charakter übergehen. Diese revolutionäre Perspektive gilt zwar nur extrem langfristig, gehört aber dennoch zum Sinn der Assoziation. Sie kann in der revolutionären Situation einer richtigen Krise auch überraschend schnell Bedeutung erlangen.
Räte des Rhizoms
Das Bild des Rhizoms reicht nicht: Es reicht nicht, eine bloß flache Ebene von autonomen Organisationselementen mit „bilateralen“ Beziehungen zu haben. Es braucht vielmehr in verschiedener Weise allgemeine Beziehungen, die eine Reihe von Organisationselementen einschließen und in eine bestimmte Organisierung bringen. Einige Beispiele: Die Flüchtlinge führen ihren Kampf autonom und mit ihren eigenen Zielen und ihrer Praxis, aber es kann noch eine Reihe anderer Kämpfe oder Organisierungen geben, zum Beispiel Arbeitskämpfe, antisexistische Organisierungen oder die Klima-Bewegung. Es sind gesellschaftliche Probleme, die untereinander zusammenhängen, und ebenso müssten die autonomen Kämpfe ihre Verbindungen erkennen und koordinieren. Oder das Online-Magazin: Es kann einer Reihe von Kämpfen ebenso wie politischen Standpunkten Raum bieten, aber welchen Raum bietet es wem, und welche Bedürfnisse haben die unterschiedlichen Kämpfe auf Veröffentlichung, und was ist mit Gegensätzen? Hierzu ist das gemeinsame Gespräch und die Abstimmung nötig. Oder der Arbeitskreis Imperialismustheorie: Seine Theoriearbeit betrifft unterschiedliche Kämpfe ebenso wie Strategiedebatten, Bildungsarbeit usw., aber wie kann die Theoriearbeit so aufbereitet werden, dass sie für letztere wirklich hilfreich ist, und wie kann der Arbeitskreis an die aktuellen Fragestellungen und Theoriebedürfnisse „aus der Praxis“ anschließen? Auch hierfür müssen sich diejenigen Leute zusammensitzen, die es angeht.
Zur Assoziation gehören daher nicht nur bilaterale Beziehungen, sondern auch übergreifende Organisierungen, in denen die jeweilige allgemeine Problematik diskutiert und zu Beschlüssen gebracht wird. Nach meinem Verständnis geschieht das in regionalen und überregionalen Versammlungen, an denen Delegierte teilnehmen, und sofern es dabei zur Konstitution von zentralen Instanzen kommt – z. B. eine gemeinsame Kampagne von Flüchtlings-, Arbeits- und Klimakämpfen oder Erarbeitung von imperialismuskritischem Bildungsmaterial –, müssten diese zentralen Instanzen nach rätedemokratischen Prinzipien gewählt werden, also Rechenschaftspflicht, Abwählbarkeit und Rotationsprinzip. Neben spezifischen oder themenorientierten Versammlungen erscheint es mir auch sinnvoll, regionale und überregionale Versammlungen ohne spezifisches Thema zu machen, in der sich die Assoziation als solche trifft und diskutiert. Auf diesen Versammlungen könnten dann auch die allgemeinen Organisierungen in ihrer Struktur oder Bedarfe für fehlende Organisationselemente diskutiert. Dieser Text selbst ist von der Sache her Teil dieser Diskussion der allgemeinen Strukturen.
Theorie, Praxis und zurück
Um diese allgemeinen Organisierungen sinnvoll diskutieren zu können, halte ich folgende drei Grundunterscheidungen zwischen den Organisationselementen der Assoziation für nötig: Erstens genuine Theorie, zweitens genuine Praxis und schließlich die Vermittlung beider, was die Theorie der genuinen Praxis und die Praxis der genuinen Theorie wäre.
1. Genuine Theorie arbeitet an der Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Probleme und entwickelt dafür auch die Theorie weiter. Sinnvollerweise geschieht dies in spezialisierten Arbeitskreisen etwa zu materialistischer Dialektik, Imperialismustheorie, Familie und Geschlecht, Kulturkritik usw. Die Arbeitskreise und die Theorie als solche sind darin auch autonom, d. h. sie sind nicht Theorie im Dienst der Revolution, sie müssen weder unmittelbar auf Fragen der Praxis reagieren noch unmittelbar für die Praxis nützliche Ergebnisse liefern, sondern ihre Praxis ist die eigenständige kritische Erkenntnis und die eigenständige Theoriearbeit mit Textpublikation und Theorie-Tagungen. Die genuine Theorie ist dennoch sowohl revolutionäre Theorie, die die bestehende Gesellschaft unter der emanzipatorischen Perspektive ihrer Aufhebbarkeit analysiert, als auch Theorie der Revolution, die Bedingungen und Dynamiken von Praxis analysiert. Beides kann sie aber letztlich nur sein, wenn sie sich in ihrer Autonomie auf Praxis bezieht, d. h. dass sie eine konkrete Vermittlung zur Praxis braucht oder dass sie letztlich nur sinnvoll arbeiten kann, wenn sie konkret mit der Praxis assoziiert ist. Diese Vermittlung bedeutet einerseits, dass die Theorie einen „Aufnahmekanal“ zu den Fragestellungen und Theoriebedürfnisse der Praxis hat, ebenso wie einen „Aufnahmekanal“ für die Wahrnehmungen und das Wissen der Praxis; andererseits, dass es einen „Aufnahmekanal“ der Praxis gibt, in dem diese die Forschungsergebnisse der Theorie rezipieren kann und für ihre Praxis nutzen kann. Für diese Vermittlung braucht es die jetzt folgenden spezialisierten Organisationselemente der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis.
2. Die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis lässt sich m. E. nochmal in zwei Schwerpunkte teilen, deren einer eher an der genuinen Theorie liegt und die „Praxis der Theorie“ darstellt, und deren anderer eher an der genuinen Praxis liegt und die „Theorie der Praxis“ darstellt.
2.a) Die Praxis der Theorie würde etwa folgende Organisationselemente umfassen: Online-Magazin, Bildungsarbeit, Klassenanalyse. Dies sind zum einen autonome Tätigkeiten mit ihren eigenen Problemen und Zielen, zum andern machen sie nur als Vermittlung Sinn, insofern zum Beispiel Leute der Theorie ihre Überlegungen prägnant journalistisch zusammenfassen oder in der Bildungsarbeit herunterbrechen, während andererseits beides an den gegenwärtigen Stand der Kämpfe und deren Wissens-Bedürfnisse anschließen muss. Die Theorie-Super-Gurus Marx und Luxemburg haben genau hierauf enormen Wert gelegt. Natürlich können auch die autonomen Bildungs-Leute Workshops erarbeiten, ohne Theoretikerinnen zu sein usw. Die Klassenanalyse würde sich einen Überblick über die aktuellen Verhältnisse der subalternen Klassen – Care-Arbeit, alleinerziehende Mütter, Muslime, Mini-Jobberinnen, Clickworker, usw. usf. –, deren spezifische Widersprüche und ihre Zusammenhänge mit den anderen subalternen Klassen verschaffen.
2.b) Die Theorie der Praxis würde etwa folgende Organisationselemente umfassen: Strategiediskussion, Kampagnen- und Aktionskoordination, Flugblätter, militante Untersuchung. Das alles bezieht sich natürlich auf die genuine Praxis, aber auch auf die genuine Theorie und die Praxis der Theorie. Zum Beispiel muss sich die Strategiediskussion auf die Klassenanalyse beziehen und davon ausgehend Handlungs- und Kooperationsperspektiven entwickeln, aber andererseits immer die aktuellen wirklichen Kämpfe und praktischen Organisierungen im Blick behalten.
3. Die genuine Praxis ist der Punkt, an dem letztlich die Welt wirklich verändert wird, andererseits ist sie nicht das einzig Relevante, in dessen Dienst die genuine Theorie und die Vermittlung zu stehen hätten. Diese beiden sind Praxisfelder, auf die es genauso ankommt. Ihnen gegenüber ist allerdings die genuine Praxis genauso autonom; sie ist nicht zur Organisationsdisziplin gegenüber einer „Wissenschaft mit objektiven Einsichten“ oder gegenüber der Strategiediskussion verpflichtet. Die genuine Praxis kann dabei alles andere als gleichwertig neben den anderen zwei Feldern stehen, denn es geht gerade um den Kampf gegen Unterdrückung und grundlegende Probleme des Lebens: ständige Bedrohung durch Rassisten und Polizeigewalt, Unterdrückung am Arbeitsplatz, Bedrohung durch den Klimawandel in naher Zukunft usw.
Diese Kämpfe gehen von den subalternen Klassen aus, mit klassenspezifischen Lebensverhältnissen, die sich von den Leuten unterscheiden, die üblicherweise Theorie- und Vermittlungsarbeit machen, und die durch Bildung und Arbeitsplatz der Intellektuellenklasse angehören. Diese Kämpfe sind die denjenigen, die sich typisch und zentral mit revolutionären Intellektuellen assoziieren, weil sie diejenigen sind, die in einer radikalen Unterdrückung leben. Das unterscheidet sie von den Kämpfen von bessergestellten Klassen, die ihre Ziele zu guten Teilen erreichen können, z. B. als allgemeines Wahlrecht oder heute als diversity in großen Betrieben – ohne Frage wichtige Errungenschaften. Die revolutionären Intellektuellen haben nun zwar auch mit Problemen zu kämpfen, umso mehr, wenn sie Frauen oder Jüdinnen sind. Aber sie befinden sich nicht in grundsätzlichen Widersprüchen, die ihr Leben insgesamt und ständig infragestellen würde. Das aber betrifft die subalternen Klassen.
Dass deren Kämpfe autonom sind, heißt etwa folgendes: Sie können nicht in eine revolutionstheoretische Schablone eingeplant werden, sondern die Kämpfe versuchen konkrete Probleme zu lösen und das heißt, das Leben unter kapitalistischen Bedingungen zu verbessern. Nur in diesen Kämpfen kann die gemeinsame Erkenntnis entstehen, dass die Probleme unter kapitalistischen Bedingungen nicht wirklich gelöst werden können, aber sie können auch in reformistische Bahnen gelenkt, gespalten oder durch Teile einer Bewegung mit besserer Klassenposition vereinnahmt werden. Es ist nicht die Aufgabe der Intellektuellen, die subalternen Klassen auf die „richtigen“ revolutionären Bahnen zu lenken, aber entsprechend der oben formulierten Vermittlungstätigkeit geht es gerade darum, entsprechend der Bedürfnisse der Kämpfe und mit ihnen Flugblätter zu schreiben, Workshops zu entwickeln oder Kampagnen zu planen. Die Autonomie der Kämpfe heißt außerdem, dass die Kämpfe entstehen, wenn sie entstehen, also von selbst, und dass es nicht die Aufgabe der Intellektuellen ist, durch Organisierungstätigkeit oder Agitation diese Kämpfe zu iniitieren, wie es zur Zeit das Programm vieler solidarischer Stadtteilgruppen ist.
Was also tun?
Das klingt jetzt alles wahrscheinlich super kompliziert und es ist vielleicht nicht mehr klar, was man jetzt genau anders als bisher machen soll, da es vieles von dem Beschriebenen ja eh schon gibt.
Ich breche das daher mal auf drei Punkte herunter: Zum einen soll man aufhören, an Theorie, Vermittlung und Praxis immer bestimmte Aufgaben zu richten, die sie zu erfüllen hätten, damit die Revolution gelingt. Sie sollten in ihrer Autonomie gelassen werden. Zweitens soll man aber konkrete ergänzende Beziehungen zwischen den Organisationselementen aufnehmen und zusammenarbeiten. Und drittens soll man zielgerichtet Organisierungen auf allgemeiner Ebene mit ihren Versammlungen aufbauen. Diese drei Punkte sind heute kaum existent, sie umzusetzen ist meine Antwort auf die Frage „Was tun?“ im Jahr 2020.