Die isolierte Linke und ihr zutiefst gestörtes Verhältnis zum Zuhören.
Linke haben keinen Mangel an Sendungsbewußtsein. Schließlich sind sie im Besitz wertvollen Wissens, mit dem sie andere beglücken wollen. Sie haben ihre Programme, vielleicht einen Kanon heiliger Schriften oder wenigstens ein Gruppennarrativ. Linke müssen nur Aufmerksamkeit für ihre Inhalte generieren – durch auflagenstarke Flugblätter, Aufkleber, Reden auf Kundgebungen oder durch Veranstaltungen. Jemandem wirklich zuhören müssen sie eigentlich nie. Wozu auch?
Was Linke durchaus kennen ist taktisches Zuhören. Wie schwafelnde NarzisstInnen wissen sie, dass leider auch andere manchmal zu Wort kommen müssen. Dies stellt aber nur eine Zwangspause im eigenen Monolog dar. Zuhören ist dabei keine Aufnahme und Würdigung von Inhalten, sondern diese unangenehme (Nicht-)Tätigkeit, mit der man sich in Gesprächen die Gelegenheit zum Weiterreden erkaufen muss.
Wie es um das Proletariat bestellt ist, was Angehörige der ArbeiterInnenklasse so umtreibt, wissen Linke aus Büchern, schlauen Artikeln und Theorieschulungen. Dies gilt umso mehr, je weiter Linke von ihrer Herkunft oder Lebensrealität her vom Proletariat entfernt sind. ProletarierInnen tatsächlich zuzuhören haben Linke also gar nicht nötig. Das Proletariat soll ja gefälligst den linken Gruppen, Sekten und Parteien lauschen. Es mag nur irgendwie nicht!
Eine Bevölkerung oder ihre Teile wirklich zu verstehen ist für viele Linke mittlerweile obsolet. Vorurteile, Unterstellungen und Projektionen – manchmal in abstrakte „Analysen“ gekleidet – ersetzen Realitätsbezug und Verstehen. All dies gilt insbesondere für die AnhängerInnen postmoderner Kulte, aber auch die klassenbewusste Linke hat oft ein massives Problem mit dem Zuhören. Es zeichnet sich außerdem ab, dass immer mehr Versatzstücke aus idealistischen „kritischen“ Theorien und postmodernen Ideologien in die Linke hineinschwappen. Dies trübt natürlich nicht nur den Blick erheblich, sondern sorgt für Wirkungslosigkeit, Selbstbezug, unfreiwilliges Stützen neoliberaler Ideologie sowie Spaltung bis hin zur Atomisierung.
Viele, die sich selbst als radikale Linke bezeichnen, verstecken sich in ihren autonomen Zentren, Infoläden und Büros vor der Gesellschaft und gehen allenfalls mit Verlautbarungen und Kundgebungen nach außen. Dass sie auf diese Weise immer weniger Gehör finden, schmerzt. Kein Wunder, dass etliche Linke schon deswegen nur noch mit Angehörigen der eigenen Blase verkehren. Sie erfinden lieber Zustimmung oder goutieren die Zustimmung aus ihrer winzigen Bubble, als sich mit dem oft anstrengenden Patchwork-Bewusstsein der Mehrheit der ProletarierInnen abzugeben.
Manche fantasieren auch eigene Bedeutung und Wirkmächtigkeit, indem sie bedeutsamen Einfluss auf Gewerkschaften imaginieren, obwohl ein solcher nicht besteht, oder indem sie die nächste Kleinkundgebung als wichtigen Schritt zur revolutionären Massenmobilisierung behandeln. Was andere „Gespräche mit NachbarInnen und KollegInnen“ nennen, gerät solchen Linken zum „Kontakt mit den Massen“ – auch hierbei findet man dann wieder das Problem des rein taktischen Zuhörens, um schließlich die eigene Botschaft anbringen zu können.
Ein Kernproblem bei linken ProletarierInnen scheint zu sein, sich (trotz objektiver Zugehörigkeit) nicht als Teil des Proletariats zu sehen, sondern eher als ein Angehöriger einer dem Proletariat äußerlichen und gegenüberstehenden Organisation. Das Interesse vieler Linker an proletarischen „Außenstehenden“ erschöpft sich in deren Verwertbarkeit als Manövriermasse oder zu vereinnahmende Objekte. Damit einher geht dann ein allgemeines Desinteresse an Erfahrungen, Fakten, Zahlen, Daten, neuen Informationen – außer, diese können für Propagandazwecke genutzt werden. Was hierdurch sorgsam gepflegt wird ist die eigene Ignoranz.
Eine eigenständige Perspektive von Menschen, welche die Linke anspricht, ist nicht vorgesehen.
Man lernt den anderen nicht kennen und will das auch nicht. So manche linke Gruppierung behauptet, die Nöte, Zwänge und Wünsche anderer Menschen bereits zu kennen und zwar im Zweifelsfall besser, als diese selber es tun. Daher rührt dann auch die behauptete Legitimation des Sprechens für die anderen und an ihrer Stelle.Wenn man gar nicht fragen braucht, was andere wollen, weil man bereits weiß, was sie wollen sollen, nährt dies Avantgarde-Anmaßungen und die Illusion von Größe und Bedeutung.
Viele Linke sind zudem offenbar ExpertInnen in der Kunst des Gedankenlesens. Wenn sie etwa die Position einer Kollegin zur Migration kennen, wissen sie auch, ob diese Kollegin Rassistin, homophob oder transfeindlich ist. Natürlich ist dies nur eine Projektion des eigenen schlichten Dogmatismus (Heuristik ist zulässig und sinnvoll, aber kein Ersatz für das Zuhören). Eine solche Linke will natürlich auch nicht erfahren, wie sie von außen wahrgenommen wird. Sie will sich Kritik und Reflexion ersparen. Eine derartige Linke wird notwendigerweise isoliert bleiben.
Die kognitive Dissonanz, die entsteht, wenn eine solche Linke sich mit Indizien für die eigene Wirkungslosigkeit und Isolation konfrontiert sieht, wird reduziert durch Gruppendynamik, Dauergeschäftigkeit, tribalistische Fehden und Aggressionen, Selbstbetrug, Flucht in den Wahn und die Methode „Mehr vom Selben“. Die nächste eingeworfene Münze führt bestimmt zum Jackpot.
Die Ignoranz des identitären Kultes
Für die AnhängerInnen postmoderner Ideologien, die mittlerweile in den Mainstream-Medien genauso zu finden sind wie bei „woken“ Studierenden, ist Nicht-Zuhören geradezu eine Tugend. Schließlich hat jeder, welcher der jeweiligen Orthodoxie auch nur punktuell widerspricht, nicht einfach eine legitime abweichende Auffassung, sondern betreibt – böswillig oder ahnungslos – unverzeihliches wrongthink. Mit solchen HäretikerInnen wird nicht argumentativ gerungen, sondern sie müssen ausgesondert und unschädlich gemacht werden.
Die Richtigkeit (und natürlich moralische Überlegenheit) des eigenen Standpunktes wird einfach behauptet und als Konsens bzw. unumstößliche Wahrheit dargestellt, der nur Irre oder Kriminelle widersprechen. Es ist kein Zufall, dass solche gleichsam objektiven „Wahrheiten“ und das gleichzeitige Bestehen auf der Subjektivität von Realität und Wahrheit in der postmodernen Bewegung nebeneinander funktionieren. Das Recht, sich zu widersprechen und Subjektivität zu generalisieren heißt in der Praxis nämlich auch: Ein Regelwerk für einen selbst, ein anderes Regelwerk für alle anderen
Es ist ebenfalls kein Zufall, dass zentrale Glaubenssätze wie Mantras ständig wiederholt werden. Dies ersetzt eine Begründung oder eine Verteidigung in der Diskussion. Zudem signalisiert es Zugehörigkeit, schafft Gemeinschaft und ist reizvoll für die große Mehrheit, die natürlich niemals die Werke der MeisterInnen der Postmoderne oder der Critical Race Theory usw. lesen möchte, aber dennoch das richtige sagen will.
Ein weiterer Kunstgriff bei der Vermeidung von echten Diskursen ist: Man argumentiert mit vermeintlichen Autoritäten, einem angeblichen „Stand der Wissenschaft“ oder ähnlichem aus dem selbstreferentiellem Sumpf der postmodernen Bullshit-Studies.
Dissens aus der Linken wird damit abgetan, dass das Gegenüber uninformiert ist, das Licht noch nicht gesehen hat, oder vielleicht über 40 ist und eh bald stirbt. Zu diskutieren gibt es – auch und gerade mit Linken – nichts, höchstens zu missionieren. Es geht bei diesen Ansätzen also nicht um Dialog oder Diskurs, sondern um Erziehung. Der erzieherische Stil scheint dabei dem 19. Jahrhundert entlehnt: Autoritär und direktiv.
Währung und Ziel im postmodernen Geschäft ist Aufmerksamkeit für sich selbst. Daher ist es wichtig, ständig zu reden und (individuell) möglichst viel Platz einzunehmen im öffentlichen Diskurs. Dass eine kleinkindhafte postmoderne „Linke“ vom Proletariat nicht ernstgenommen wird, macht nichts. Im Gegenteil ist es Beleg für den Erfolg der eigenen kleinbürgerlichen Distinktionsbemühungen. Widerspruch aus dem Proletariat zeigt dann nur die Verkommenheit der ArbeiterInnenklasse, die höchstens bedauert und verachtet werden kann. An sich heranlassen müssen postmoderne Identitäre Widerspruch ohnehin nicht. Er hat in ihren Safe Spaces nichts zu suchen und ihre „Diversität“ besteht aus vollkommener Uniformität.
Trotz der Forderung, „gelebter Erfahrung“ und Berichten über Gefühle zuzuhören (sofern diese von als marginalisiert eingeordneten Menschen stammen): Dies gilt in Wirklichkeit nur, wenn die sich Äußernden sich im Sinne der postmodernen Identitätspolitik äußern. Einer schwarzen Trans-Frau muss nicht mehr zugehört werden wenn sie dieser Ideologie widerspricht. Mehr noch: Es besteht dann geradezu die Verpflichtung, sie mit allen Mitteln zum Schweigen zu bringen und ihr jedwede Plattform zu entziehen.
Standpunkte, bei denen Identitäre eine Abweichung identifizieren, müssen nicht einmal verstanden werden; sie können als bösartiger Schwachsinn abgetan werden. Eine solide Begründung, warum etwas Schwachsinn ist, wird man vergeblich suchen. Lustig wird es, wenn das als „Schwachsinn“ gebrandmarkte sich empirisch belegen lässt. Einen Grund, die eigenen Standpunkte und Herangehensweisen nach einer Widerlegung zu überprüfen, sehen postmoderne IdeologInnen allerdings nicht. Der Anspruch, logisch zu denken oder gar zu lernen gilt jedenfalls in Teilen der linken identitären Szene als unerhörte Zumutung.
Freilich sollte wirklich niemand gezwungen sein, einen bereits ausreichend argumentativ oder empirisch widerlegten Unfug jedes mal aufs Neue zu überdenken. Hier aber haben wir es mit etwas anderem zu tun. Ein Credo ersetzt begründete Ansichten, übernommene Meinungen ersetzen erarbeitete Erkenntnis und eine Selbstimmunisierung gegen neue Argumente und Informationen rundet das Ganze ab. Für Linke aber sollte gelten: Wenn die spezielle Relativitätstheorie z.B. die eigenen Gefühle verletzt oder man sie für rassistisch hält, hat man sie damit noch nicht widerlegt. Wenn man mit seinen Emotionen nicht auf erwachsene Art umgehen kann, liegt die Lösung für dieses Problem nicht in dem Versuch, alle anderen zu kontrollieren.
Wenn klassenkämperische Linke dieser destruktiven Ideologie das erste mal begegnen, sind sie in der Regel geneigt, eine politische Diskussion führen zu wollen. Solche Versuche bescheren regelmäßig frustrierende Erfahrungen. Die Brutalität einer sonst so zartbesaiteten identitären „Linken“ erweist sich bei missglückten Gesprächsversuchen als erschreckend und abschreckend.
Man entzieht sich den postmodernen Zumutungen und Anmaßungen nur, indem man klarstellt: Das mag deine Religion sein. Die gilt aber nicht für mich und du wirst mich nicht kontrollieren.
Der Verzicht auf innerlinken Diskurs ist der Verzicht auf Entwicklung und einen dialektischen Prozess des ideologischen Wachsens. Aufgekündigt wird der Diskurs aber von allen, die keinen Austausch von Argumenten fordern, sondern nichts als bedingungslose Kapitulation akzeptieren.
Traurig ist, dass sowohl das Konzept der Intersektionalität als auch linke Identitätspolitik zunächst wichtige und progressive Konzepte darstellten, die reale Probleme wirklich adressierten. Diese Konzepte und viele tatsächlichen Problemen lassen sich Dank der postmdernen Doktrin nicht mehr auf bedeutungsvolle Weise diskutieren. Woke Hexenjagden machen es für radikale Linke, für Transpersonen und viele andere immer schwerer, gesellschaftliche Probleme zu thematisieren bzw. sich in bestimmten Bereichen für Diskussionsbeiträge Gehör zu verschaffen.
Antworten der Linken?
Natürlich gibt es auch Situationen, in denen es Sinn macht, mal nur zuzuhören. Wenn aber der andere verlangt , dass ihm jedes mal und ausschließlich nur zugehört werden soll und er den Dialog verweigert, sollte unsere Antwort ein „Fick Dich!“ sein.
Es geschieht immer öfter, dass revolutionäre Linke mit identitätspolitischen IdeologInnen verwechselt bzw. zusammengeworfen werden. Dies gilt es unbedingt zu vermeiden. Der postmoderne Kult zersetzt nicht nur liberale und akademische Teile der Linken (links im weitesten – bürgerlichen – Sinne), er sorgt auch dafür, dass „links“ bereits von Teilen des Proletariats mit einem unzurechnungsfähigen infantilen Haufen gleichgesetzt und folglich abgelehnt wird. Eine Linke sollte nicht mit einer erfundenen Bevölkerung, einem ausgedachten Proletariat interagieren wollen, sondern in der wirklichen Gesellschaft agieren. Natürlich ist es aber bequemer, sich in der Miniaturwelt einer Szene als BlockwartIn oder HexenjägerIn zu betätigen oder andere Linke mit Otternasen zu bewerfen, weil sie eine völlig falsche Meinung über den 10. Parteitag der KPdSU haben.
Bei konkreten Kämpfen (im Betrieb, im Stadtteil usw.) ist es wichtig, die KollegInnen oder NachbarInnen tatsächlich einzubeziehen, statt sie als Manövriermasse und Subalterne zu betrachten. Linke überzeugen in solchen echten Kämpfen nicht durch Gesinnungs-Checks und den Versuch, die eigene Ideologie sofort und völlig durchzusetzen, sondern auch und zuerst durch ihr eigenes Handeln. Die Erfahrungswelt und Lebensrealität des Gegenübers muss unbedingt beachtet werden. Politisches Zuhören ist meist aktives Zuhören. Dafür ist Empathie nötig – eine Eigenschaft, die sich Angehörige postmoderner Kulte gezielt abtrainieren.
Wir radikale Linke sind keine Sittenwächter (oder sollten uns nicht als solche aufspielen). Kämpfe haben ein Ziel – und dieses Ziel sollte nicht sein, andere zur Ordnung zu rufen, ihnen autoritär zu begegnen oder den Dialog abzubrechen, um auch einmal ein klein wenig Macht auszuüben, um sich wenigstens einmal über andere zu stellen. „Linke“, die bei erster Gelegenheit den inneren kleinen puritanischen Spießer rauslassen, sind für eine revolutionäre Bewegung nicht zu gebrauchen. Ein sicheres Zeichen, dass es sich um Pseudo-Linke handelt ist, wenn die Betreffenden in ihren Grüppchen oder ihrer Szene noch die kleinste vermeintliche Verfehlung aufspüren wollen oder gar konstruieren, aber das dort Skandalisierte an der Uni, in der Familie oder auf dem Amt usw. wie selbstverständlich hinnehmen. Die notwendige ständige Selbstreflexion von revolutionären Individuen, Gruppen und Bewegungen wird hierdurch nicht gefördert, sondern extrem behindert. Menschen ändern sich eher durch eigene Erfahrungen als durch Bevormundung. Die Revolution macht man nicht, wenn alle Studierenden endlich „rein genug“ sind und dann großzügig das Proletariat anführen, sondern als revolutionäre ProletarierIn mit dem Proletariat, so, wie es nun einmal real existiert.
Eine narzisstische Linke hat keine Zukunft. Zu einer revolutionären Haltung gehören Bescheidenheit und sogar Demut. Diese Eigenschaften schließen zuversichtliches Selbstvertrauen natürlich nicht aus, sondern gehen mit ihm einher. Wer einem Guevara, Marcos oder Durruti unterstellt, ihre öffentlichen Bekundungen von Bescheidenheit und Demut seien taktisch motiviert, hat etwas Wesentliches nicht verstanden. Das „Fragend schreiten wir voran“ der EZLN ist keine Finte, sondern eine wesentliche Voraussetzung für ihren relativen Erfolg. Sich im Volke oder im Proletariat wirklich „wie ein Fisch im Wasser“ zu bewegen geht nämlich nicht als Fake.
Diesem Artikel ging der Artikel „Alles fällt vom Himmel“ voraus.