Von Pierre Rouge
Zur Zeit erscheinen immer mehr Bücher zum Thema Klassismus, die betonen, wie schwer es Leute in dieser Gesellschaft haben, die von unten kommen. Soweit so gut. Geschrieben sind diese Bücher auch oft von Leuten, die es am eigenen Leib erfahren haben, wie es etwa ist, als erstes Familienmitglied eine Universität von innen zu sehen. Und immer wieder wird betont, dass man als armer Mensch in dieser Gesellschaft unterdrückt und diskriminiert wird. So wird das Unterdrückungsverhältnis Klassismus auf eine Stufe mit Rassismus und Sexismus gestellt. Und wie man das in postmodernen, identitätspolitischen Zeiten so macht, wird auch für die weißen ArbeiterInnenkinder eine passende Theorie gezimmert, die ihnen im Diskurs das Recht gibt, auch was sagen zu dürfen. Wer sich jetzt schon aufregt, sollte unbedingt weiterlesen.
Die angesprochenen Bücher haben ja recht darin, die Diskriminierung Armer als wichtiges Thema aufzugreifen. Wer von unten kommt, weiß was gemeint ist. Diese Gesellschaft ist natürlich nicht für uns gemacht. Das Schulsystem sieht schon gar nicht vor, dass Leute wie wir auf der Uni landen. Doch einigen passiert das dann aus verschiedenen Gründen trotzdem. Sie finden sich mit Anfang 20 in einer fremden Welt wieder, umgeben von Bürgerkindern, die sich wie die Fische im Wasser bewegen, während man sich selbst fragt: Kommilitone? Was soll das denn sein? Gleichzeitig ist man umgeben von vielen, die von klein auf gelernt haben, ihr Maul aufzureißen, sich in den Mittelpunkt zu stellen und sich durchzusetzen. Wir dagegen wurden oft von Untertanen großgezogen, die einem das nicht auffallen und ruhig sein mitgegeben haben. Das steckt tief in uns. Auch wenn wir oft besseres zu sagen hätten, lassen wir die anderen reden, weil sie einfach selbstbewusster auftreten. Im Umgang mit Behörden sind wir lieber kleinlaut, bevor wir noch mehr Stress bekommen. Wir haben nämlich von klein auf auch gelernt, dass Kämpfen nichts bringt. Da muss man halt irgendwie durch, heißt es. Und daheim, wenn es denn eines gibt, kann einem auch niemand mehr helfen. Man lernt eben früh allein klarzukommen. Doch das muss überhaupt nichts schlechtes sein.
Es gibt aber auch Aspekte der Arbeiterherkunft, die einen überhaupt nicht benachteiligen. Dadurch, dass man eben viel früher keine Hilfe mehr von seinen Eltern erwarten kann, lernt man Selbstständigkeit und Autonomie. Man durchschaut relativ schnell, wer wirklich was drauf hat und bei wem sich hinter einem Titel oder Rang nichts verbirgt. Denn da wo man herkommt, ist man tendenziell echter und verzichtet auf aufgeblasenes Auftreten. Außerdem ist man freier darin, sich in der Welt der Bürger zu bewegen. Während Bürgerkinder von ihren Eltern genervt werden, was ihren Status angeht und warum sie keinen Bausparvertrag haben, ist man in Arbeiterfamilien meist erst einmal froh wenn das Kind versorgt ist. Ein besonderer Vorteil ist auch einfach beide Welten zu kennen. Es wird viel über „zwischen den Stühlen sitzen“ geschrieben und wie schlimm das sei, aber niemand sagt, welche Vorteile das eigentlich bringt. Gerade im linken Milieu bekommt man immer wieder mit, welche kruden Vorstellungen Bürgerkinder über dieses ominöse Proletariat haben. Man versteht recht schnell warum eben viele von unten auch wenig mit der bürgerlichen Linken anfangen können. Es ist doch kein Nachteil sich gut in der Gesellschaft auszukennen und Zusammenhänge besser verstehen zu können. Es ist eine enorm wichtige Fähigkeit, sich besser in andere hineinversetzen zu können, als die Kinder von Reichen. Gerade als RevolutionärIn ist es die perfekte Mischung. Und keiner sagt, dass man seine Herkunft verraten muss. Die Herausforderung besteht doch darin, linke Inhalte auch dort verbreiten zu können, wo man herkommt. In einer Sprache, die dort auch verstanden wird. Dafür sind Klassenreisende die ExpertInnen schlechthin. Wer darauf keine Lust hat und sich halt lieber einem bürgerlichen Gehabe hingibt, gut, aber Unterdrückung sieht anders aus. Bei manchen Klassismus- kritischen Texten hat man das Gefühl, die Leute verarbeiten einfach nur ihr Aufwachsen, bedauern es sehr, keine Bürgerkinder zu sein und machen daraus eine politische Theorie.
Denn worum geht es denn eigentlich? Wollen wir als Linke einfach, dass man besser auf die Armen eingeht und es ihnen leichter macht in dieser Gesellschaft aufzusteigen? Geht es darum, dass sich Arbeiterkinder auf der Uni wohler fühlen? Oder wollen wir einen Klassenkampf führen, der in der Armut an sich das Problem sieht und durch den Leute von unten ermuntert werden, damit aufzuhören, Untertanen zu sein? Was sind denn die Potentiale in der ArbeiterInnenklasse, wo wir ansetzen können? Konzentrieren wir uns lieber auf die Frage, wie wir was an den Verhältnissen rütteln und uns organisieren können. Dafür können Klassenreisende das passende Wissen in eine Linke hineintragen, die eben sehr bürgerlich ist. Es geht doch darum, die Untertanensozialisation zu durchbrechen, sich selbst zu ermächtigen und laut zu werden. Da hilft kein Beschweren, wie schwer man es hat(te), vor allem nicht von Leuten, die ja immerhin einen Aufstieg hingelegt haben und AkademikerInnen geworden sind. Es geht darum den Untertan in dir selbst zu töten und ihn auch da zu bekämpfen wo er herkommt: Im Herkunftsmilieu. Dort ist allen klar, dass sie es schwer haben. Jedes mal wenn wieder der Satz kommt, man könne da einfach nichts machen, müssen wir widersprechen. Jedes mal wenn versucht wird, auf die loszugehen, die noch weiter unten sind, müssen wir da sein und Alternativen anbieten. Denn nur so überzeugt man Menschen. Das nächste Buch darüber schreiben, wie schlimm es war als Arbeiterkind aufzuwachsen und festzustellen, dass Arme tatsächlich Nachteile im Kapitalismus haben, bringt da reichlich wenig.