Gegen die eingeschränkte marxistischen Perspektive
Von: Riccardo Altieri / Bernd Hüttner (21.01.2021)
Dass sich das Autonomie-Magazin nach seiner Reihe zu „proletarischen Welten“ wieder dem Thema „Arbeiteridentität“ und „Klassenherkunft vieler Linker“, und indirekt, der Rolle von Intellektuellen in der (radikalen) Linken widmet, ist gut. In dem Beitrag von Pierre Rogue vom 16.1.2021 werden aber einige Thesen vertreten, die so nicht stehen bleiben können. Die in dem Beitrag vertretenen Ansichten tauchen so auch in anderen, sich marxistisch dünkenden Kritiken am sog. Klassismus-Ansatz auf (David Pape in der jW, redical M).
Ausdrücklich positiv ist es, dass der Klassismus-Ansatz jetzt anscheinend so ernst genommen wird, dass er auch kritisiert wird, oder eher: kritisiert werden muss. Die neueste Kritik (Kováts/Land 2021) erschien erst, nachdem wir diesen Beitrag bereits fertiggestellt hatten. Dasselbe gilt für die Debatte zwischen Viola Nordsieck und Bernhard Pirkl in jungle world vom 21.1. 21. Die Kritik von Kováts und Land führte immerhin dazu, dass etwas Unterhaltung aufkam, weil Marian Kirwel den Text zum Anlass nahm, eine satirische Anleitung für Pseudo-Marxist*innen zu schreiben, die den antiklassistischen Aktivismus schlecht reden wollen. Einiges ist vielleicht nicht nachvollziehbar, falls jemensch nicht so tief in der marxistischen Szene drin steckt wie Marian, aber vielleicht hat die eine oder der andere doch Spaß dran. Wir hatten ihn.
In vielen dieser, in unseren Augen dogmatischen, wenn nicht unbrauchbaren „marxistischen“ Kritiken, die auch Marian karikiert, zeigt sich eine Unfähigkeit mit einer der zentralen Herausforderungen der Gegenwart umzugehen: mit Vielfalt, und wie auf Basis dieser Vielfalt politische Bündnisse zu schließen wären.
Es gibt in diesen Texten oft die Konstruktion einer Entgegensetzung von Intellektuellen und Arbeiter*innen, die auf vielen Ebenen falsch ist. Zum einen sind viele Menschen mit akademischer Ausbildung sehr wohl Arbeiter*innen oder prekär oder sogar arm, und zum anderen könnten nach dieser Vorstellung „Arbeiter*“ keine Intellektuellen sein, was selbst eine klassistische Sichtweise ist.
Berührt werden in diesen Kritiken u.a. die Themen Identitätspolitik, Solidarität und immer wieder wird, vor allem von Männern, behauptet, die Anhänger*innen des Klassismus-Ansatzes würden „jammern“ und nur ihren individuellen „Aufstieg“ suchen. Auf diese Punkte würden wir im Folgenden eingehen und uns auf diese konzentrieren. Es gäbe auch noch andere.
Wer spricht/darf sprechen?
Sahra Rausch (2020) schreibt:
„Darin liegt die eigentliche Absurdität – nämlich, dass die meisten erst mit dem Klassenaufstieg das Vokabular erlernen, um ihr Herkunftsmilieu und ihren sozialen Aufstieg beschreiben zu können. Erst mit dem gegenwärtigen, akademisch-geschulten Blick auf die Vergangenheit verknüpfen sich Emotionen mit dem Erlebten.“
und benennt damit, dass nicht alle gleichen Zugang zu Sprechpositionen und zu Publikationsmöglichkeiten haben. By the way ist das weder im Marxismus noch in der Klassismusdebatte noch überhaupt irgendwo so. Meist sind es bürgerlich sozialisierte, akademisch geprägte Leute, die sprechen, die vorkommen, deren Meinungen gehört werden und relevant sind (das Autonomie-Magazin ist da ein Gegenbeispiel, really).
Auf die folgend diskutierten Kritiken am Klassismus-Ansatz könnte auf zweierlei Art reagiert werden. Zum einen könnten sie konterkariert /verneint werden, zum anderen könnte gesagt werden, „aber das machen oder sind andere doch auch“. Beides wäre richtig.
Antiklassismus sei Identitätspolitik
Immer wieder wird gesagt, Antiklassismus sei Identitätspolitik oder postmodern. Ja, Antiklassismus ist Identitätspolitik, denn er will widerständige, diverse Identitäten stärken. Menschen, die ihre Lage erkennen, Kraft und Mut geben. Kraft, ihre Lage zu verändern, zu kämpfen!
„Die persönliche Demütigung, alles ›richtig‹ gemacht zu haben,
aber dennoch nicht ›dazu‹ zu gehören, zieht sich als roter Faden
durch die Erfahrung des ‚Aufstiegs‘„
Mustafa Saeed/ Pseudonym
Zweitens ist auch „Arbeiterkampf“ Identitätspolitik. Schon der Begriff „Arbeiter“ rekurriert ja auch auf ein Bild, mit dem sich Andere, Gleichgesinnte identifizieren sollen, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Das geschieht in der Arbeiter*innenklasse als heterogenem Ort des Aufeinandertreffens aller Arbeiter*innen, ganz gleich, welche Umstände exakt ihre Lebensrealität ausmachen.
Und ja, Antiklassismus ist insofern postmodern, als er von der Konstruiertheit von Verhältnissen ausgeht, Sprache eine große Bedeutung gibt und den Gegensatz von Arbeit und Kapital nicht als Hauptwiderspruch ansieht, sondern von der Verschränktheit mehrerer Herrschaftsverhältnisse ausgeht. In einer modernen Klassenpolitik sind diese und Identitätspolitik kein Widerspruch, sondern werden zusammen gedacht (Candeias 2021). Es gibt schwule Arbeiter, migrantische Akademikerinnen und vieles mehr. Nicht zuletzt basiert auch „Arbeiterbewegung“ auf Identitätspolitik. Die Arbeiterbewegung musste auch das Selbstbewusstsein ihrer „Mitglieder“ stärken, bildete eigene Strukturen, von Arbeiterkultur über Wohnungsbau bis zu Parteien aus.
Klasse ist eben „nicht nur eine ökonomische, sondern auch kulturelle Formation“ (Edward P. Thompson, 1963, zitiert nach Candeias 2021).
Es geht immer darum, die eigene Sichtweise und Betroffenheit in die Welt und in die Öffentlichkeit zu bringen, dafür zu kämpfen, dass die eigenen Anliegen gehört, ernst genommen und ggf. abgeschafft werden. Das war und ist in der antirassistischen Bewegung so und es war so auch in der ersten und zweiten Frauenbewegung; und, ganz nebenbei, auch in der (historischen) Arbeiter*bewegung.
Die radikale Linke heute täte gut daran, sich mit individuellen Prägungen zu beschäftigen, statt den Klassismus-Ansatz zu kritisieren.
„Umso wichtiger ist es, sich beim Kampf gegen strukturelle Ungleichheiten zu vergegenwärtigen, dass die Vorstellungsräume der Handelnden dabei eine wichtige Rolle spielen, und diese – bei aller Trägheit – prinzipiell veränderbar sind.„
Markus Tumeltshamer
Antiklassismus sei individualisierend (die „jammern ja immer“)
Sicher geht es dem Antiklassismus auch um persönliche Biographien, die Reflektion von Prägungen und deren Ursachen, insofern sehr darum, den „Untertan in sich“ zu erkennen. Scham über die eigene Herkunft muss überwunden werden. Der Mut und die Bereitschaft, sich mitzuteilen und sich zu organisieren, aufgebaut und gestärkt werden. Dabei sind die marxistischen „Kritiken“ leider keinerlei Hilfe. Im Gegenteil, schade eigentlich.
Kollektivität oder auch der von den Marxist*innen so vehement geforderte Klassenkampf brauchen Identität als Fundament, gerade wenn linke Politik nicht eine Jugendbewegung bleiben soll.
Verschwiegen wird in allen „Kritiken“ die Organisierung zum Thema. Zum Antiklassismus gibt es Referate an mehreren Unis (Köln, Marburg, Münster, München), eine Antiklassistische Assoziation, einige weitere Gruppen, Blogs und z.B. hier eine von Francis Seeck zusammengetragene umfangreiche Liste mit Ressourcen (PDF) sowie eine Unmenge an Vorträgen zum Thema auf Youtube, von denen, by the way, die meisten betonen, dass es sehr wohl um die Veränderung von Strukturen, Umverteilung und Organisierung geht.
Schreiben Marxisten nicht auch gerne und oft über böse Kapitalisten, Nazis und prügelnde Bullen? Aber dann „jammern“ sie selbstverständlich nicht.
Intersektionalität und Marxismus
Frappierend ist der immer wiederkehrende Vorwurf, die Anhänger*innen des Klassismus-Ansatzes hätten zu wenig Marx gelesen oder würden ihn falsch verstehen oder anwenden. Der Klassismus-Ansatz ist (auch) marxistisch, aber eben nicht nur. Er bezieht sich auf den ganzen Reichtum emanzipatorischer Bewegungen und „Theorien“ – und geht vielmehr von der Existenz mehrerer, miteinander verschränkter und sich gegenseitig verstärkenden Herrschaftsverhältnissen aus – diese Perspektive wird heute oftmals „Intersektionaliät“ gennant . Die triple opression genannte Sichtweise, die der Intersektionalität sehr ähnlich ist, wurde schon zu Beginn der 1990er in der autonomen Linken debattiert und erschienen 1993 in Buchform. Im Dezember 1997 publizierte Christoph Spehr den Text Befreiungstheorien im Elchtest, der online verfügbar ist und einen guten Überblick gibt. Der Text wurde dann überarbeitet und erschien in der Zeitschrift Forum Wissenschaft vom Juli 1998 nochmals.(1)
Dass es weit mehr Befreiungstheorien als „den Marxismus“ gibt, ist an vielen Marxist*innen vorbei gegangen, was im 21. Jahrhundert nur mit patriarchalen Scheuklappen oder einem ökonomistisch verengten Blick zu erklären ist.
OK, wenn es postmodern ist, auf die Existenz anderer Befreiungstheorien hinzuweisen, dann schockt uns der Vorwurf jetzt auch nicht. Dann sind wir eben postmodern.
Mythos Klassenkampf?
Der Operaismus hat gezeigt, dass es Arbeiterkampf und Kampf gegen die Arbeit gibt. Aber was tun eigentlich die Gewerkschaften oder die Klassenlinke gegen Klassismus? Oder ist „der Arbeiterbewegung“, zumindest ihren hegemonialen Ausprägungen in all ihrem Standortnationalismus, ihrem männlich-patriarchalen Produktstolz usw. nicht auch das „Herab“blicken auf die Unterschichten („Lumpenproletariat“), auf die arbeitslosen „Schmarotzer“ mit eingeschrieben? Klassismus ist auch, und gerade ein Phänomen der „Arbeitswelt„
Die antiklassistische Bewegung wäre gerne (und ist in unseren Augen) ein Bündnispartner eines aufgeklärten Linksradikalismus und eines linken Feminismus. Alle, die gegen Klassismus kämpfen sind, wie ihr vom Autonomie-Magazin-Blog in eurer Unterzeile schreibt, für Autonomie und Selbstermächtigung. Nicht alle sind für Kommunismus. OK.
Die Bemerkungen zu Klassenreisenden im Artikel von Pierre Rouge können wir nur unterstützen. Sie erinnern an das tolle, gleichnamige Buch von Brigitte Theißl und Betina Aumair (Wien 2020), ein Buch voller faszinierender Berichte. Das Vermitteln kann eine Gabe sein, das „nirgends dazugehören“ aber auch eine große Last (vgl. das Zitat Saaed, das so sinngemäß in sehr vielen Berichten auftaucht). Das „allein zurecht kommen“ kann zu Resignation führen oder zu Stolz auf das bisher erreichte.
Hinzu zu fügen wäre noch: In der langen Geschichte der kommunistischen, sozialdemokratischen und anarchistischen Linken waren viele „prominente“ Stimmen Klassenreisende, aber in exakt anderer Richtung. Sie verrieten ihre „bürgerliche“ Klassenherkunft und widmeten ihr Leben den Kämpfen um Befreiung.
Riccardo Altieri / Bernd Hüttner leben in Nordbayern bzw. Bremen. Sie sind Teil der Debatte um Klassismus. Ihr im Sommer 2020 erschienenes Buch „Klassismus und Wissenschaft“ gibt es demnächst in zweiter, korrigierter Auflage.
Literatur und Links
Mario Candeias: Crashkurs Klassenanalyse – eine Einleitung, in ders. (Hrsg.): Klassentheorie. Von Making und Remaking, Argument Verlag Hamburg 2021
Sahra Rausch: Akademisches Außenseitertum: Mit Vulgarität gegen die Trägheit des akademischen Systems in: Riccardo Altieri, Bernd Hüttner (Hg.): Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien, Marburg 2020
Karl-Heinz Roth: Die Intelligenz und die „soziale Frage“ in Grundrisse 18, Sommer 2006,
Mustafa Saeed (Pseudonym): Gemeinsam einsam. Vom erfolgreichen Bildungsaufstieg als Person of Color aus Arbeiterfamilien, und wie es danach weitergeht in: Riccardo Altieri, Bernd Hüttner (Hg.): Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien, Marburg 2020
(1) Überarbeitete Literaturliste dazu (Stand 2005)
Markus Tumeltshamer: Vorstellungsräume und Milieuwechsel, in: Riccardo Altieri, Bernd Hüttner (Hg.): Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien, Marburg 2020