Kategorien
Diskussion Imperialismus

Was ist Imperialismus?

Was ist Imperialismus und warum ist es wichtig, eine genaue Definition zu haben?

Halten wir einen Moment inne und überlegen, wie wir die Frage beantworten würden: Was ist Imperialismus? Wir sind eine antiimperialistische Bewegung, wir kämpfen gegen den Imperialismus und wenn wir auf der Straße angehalten und gefragt werden, wogegen wir zu kämpfen versuchen, was sollen wir dann sagen? Es ist sehr wahrscheinlich, dass jede/r AntiimperialistIn eine andere Definition geben würde, die nicht unbedingt mit der Definition der anderen AntiimperialistInnen übereinstimmt. Das mag ein einfaches Problem sein, aber es hat sehr tiefgreifende Konsequenzen: Wenn es keinen Konsens über das gemeinsame Verständnis des Problems gibt, dann kann es auch keinen Konsens über die Lösung geben. Mit anderen Worten, wenn wir uns nicht darüber einig sind, wogegen wir kämpfen, werden wir wahrscheinlich gegen unterschiedliche Dinge kämpfen, so dass es keine Einheit im Kampf gibt.

Wenn Menschen an Imperialismus denken, ist das erste, was ihnen in den Sinn kommt, militärische Intervention oder irgendeine Art von Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder. Mit „Einmischung“ meinen wir eine Verletzung der Souveränität in jedem Bereich, sei es militärisch, wirtschaftlich oder kulturell. Daher finden wir manchmal Begriffe wie: Kulturimperialismus, Wirtschaftsimperialismus usw. In diesem Sinne wird der Imperialismus als eine Art aggressive Außenpolitik bestimmter Länder dargestellt.

Manchmal begegnen wir Vorstellungen von Imperialismus im Sinne von Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Ländern. Diese Ideen gehen über die Vorstellung einer einfachen Außenpolitik hinaus und versuchen, den Imperialismus im Sinne von Machtbeziehungen zwischen den reichen und armen Ländern zu erklären.

Die häufigste Definition, die wir finden, ist die klassische Definition von Lenin. Er definiert den Imperialismus in fünf Punkten:

  • die Konzentration des Kapitals erzeugt nationale Monopole,
  • das Industrie- und Bankkapital verschmilzt zum Finanzkapital, wodurch die Finanzoligarchie entsteht,
  • der Export von Kapital ersetzt den Export von Waren,
  • die Bildung von internationalen Monopolen und
  • die territoriale Aufteilung der Welt zwischen den kapitalistischen Mächten.

Eine alternative Interpretation

Obwohl die obigen Ansätze nicht falsch sind und sie die wesentlichen Merkmale dessen, was Imperialismus ist erfassen, kann man sagen, dass es ihnen nicht gelingt, das Problem in seiner Gesamtheit anzugehen und das ganze Bild zu sehen. Wenn wir uns also auf einen oder wenige Aspekte des Imperialismus konzentrieren, können wir falsche Schlussfolgerungen ziehen, die kontraproduktiv sein können und unseren Kampf ineffektiv machen oder sogar unseren Absichten zuwiderlaufen.

Das Erreichen einer gemeinsamen Definition ist eine kollektive Arbeit aller AntiimperialistInnen. Wir wollen den ersten Impuls zu diesem Diskussionsprozess geben und eine Definition vorschlagen, die auf den neuesten akademischen Forschungen auf diesem Gebiet von Torkil Lauesen, Zak Cope und Donald Clelland, neben vielen anderen, basiert. Wir bauen auf der Tradition der Theorie des ungleichen Tausches, der Dependenztheorie, der Weltsystemanalyse und der Schule der Global Capitalism School auf.

Obwohl es sehr schwierig ist, ein so komplexes Konzept auf einen einzigen Satz zu reduzieren, möchten wir den folgenden vorschlagen:

Der Imperialismus ist ein hierarchisches System, das auf dem Werttransfer basiert, der seine ökonomische Infrastruktur bildet, die ihrerseits durch den ideologischen, politischen und militärischen Überbau reproduziert wird.“

Der Schlüssel zur Definition liegt in der Konzeptualisierung des Imperialismus als ein integrales Ganzes, dessen Elemente die einzelnen Staaten sind die gemeinsame Prozesse teilen – das heißt, es ist ein System. Einzelne Staaten produzieren Wert (wir können ihn auch Reichtum, ökonomischen Überschuss usw. nennen), der nicht notwendigerweise innerhalb ihrer Grenzen bleibt, sondern dank ökonomischer Mechanismen in andere Staaten fließt. Die Staaten in diesem System bilden eine Hierarchie entsprechend dieses Wertflusses, so dass sich die Staaten, die Wert produzieren und ihn nicht für sich nutzen, am unteren Ende der Hierarchie befinden, während die Staaten, die sich den von anderen Staaten geschaffenen Wert aneignen und für sich nutzen, an der Spitze stehen.

Es gibt auch andere Bezeichnungen für diese Einteilung, z.B.: Globaler Norden – Globaler Süden, Erste Welt – Zweite Welt – Dritte Welt, etc. In der Tradition der Dependenztheorie und der Weltsystemanalyse wird diese Art der Einteilung als Zentrum-Peripherie-Hierarchie bezeichnet und besteht aus drei Elementen:

  1. Peripherie: die Länder am unteren Ende der Hierarchie
  2. Zentrum: die Länder an der Spitze und
  3. Semi-Peripherie: Länder mit einem Zwischenstatus, die von der Wertschöpfung der Peripherie profitieren, aber gleichzeitig einen Teil davon an die Länder im Zentrum verlieren.

Die ökonomische Basis des Systems ist der Kapitalismus und seine Akkumulationslogik. Wenn wir über Kapitalismus sprechen, dann im Rahmen von einzelnen Staaten und in abstrakten ökonomischen Begriffen. In der Praxis ist der Imperialismus die real existierende Form des Kapitalismus. Aus diesem Grund kann der Imperialismus auch als globaler Kapitalismus bezeichnet werden.

Der Imperialismus im Sinne des Wertflusses von der Peripherie zum Zentrum des Systems, ist institutionalisiert und seine Institutionen wurden in jeder Epoche verändert und angepasst. So können wir historische Perioden der Entwicklung des Systems in die Perioden des klassischen Kolonialismus, des Neokolonialismus und des Neoliberalismus unterscheiden.

Der klassische Kolonialismus versuchte nicht-kapitalistische Territorien durch militärische Eroberung in das System einzugliedern, das System durch Gewalt und direkte Verwaltung der kolonialen Gebiete aufrechtzuerhalten und extreme Formen von Zwang, wie zum Beispiel der Sklaverei, anzuwenden um Werte aus den peripheren Arbeitskräften zu extrahieren.

Im Neokolonialismus wurde die direkte Gewaltanwendung durch die formale Unabhängigkeit der peripheren Regionen und deren faktische Abhängigkeit durch militärische „Hilfe“ und wirtschaftliche „Kooperation“ ersetzt.

Die aktuelle Ära des Neoliberalismus basiert auf Institutionen, die über der Souveränität der Staaten stehen und Marktmechanismen kontrollieren: IWF, Weltbank, etc.

Was die Integrität dieser wirtschaftlichen Basis garantiert, ist der Überbau des Systems. Der Überbau manifestiert sich in der militärischen, politischen und ideologischen Politik. Während militärische Gewalt und politische Beziehungen das Gleichgewicht des ökonomischen Systems der Ausplünderung aufrechterhalten, verleiht die Ideologie ihm Legitimität und baut das moralische System auf, um die Stereotypen aufrechtzuerhalten, die es ermöglichen, dass der Status quo nicht in Frage gestellt wird.

Was meinen wir mit Gleichgewicht im System? Die Länder der Peripherie befinden sich in einer Situation, die sie zu ständiger Unterentwicklung verdammt. Eine Situation, die sie ändern wollen. Um sie ändern zu können, müssen sie das Wirtschaftsmodell ändern, zu einem der Logik des Systems widersprechendem Modell. Eine solche Veränderung und mögliche Entkopplung kann zu Systemrkisen und zur Blockade im Prozess der Akkumulation von Kapital und Reichtum führen. Beispiele dieser Art sind in Ländern zu sehen, die sich der Systemlogik widersetzen, wie die Demokratische Volksrepublik Korea, Kuba, Venezuela usw.

In der semi-peripheren Zone haben wir Staaten, die in der Hierarchie des Systems aufsteigen wollen und dabei die Länder des Zentrums und deren Hegemonie herausfordern. Heute haben wir das Beispiel von China und Russland, deren Entwicklung eine Gefahr für die Interessen z.B. der USA darstellt. In der Vergangenheit drohte die UdSSR, die wirtschaftliche Infrastruktur des Systems selbst zu verändern.

Während die Länder am unteren Ende darum kämpfen, ihre Position innerhalb der Hierarchie zu verbessern, kämpfen die Länder im Zentrum darum, ihre dominante Position zu erhalten. Ein Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten, die mit allen Mitteln versuchen, ihre hegemoniale Position zu sichern.

In all diesen vorangegangenen Beispielen können wir sehen, wie militärische Intervention, politische Einmischung, wirtschaftlicher Druck und ihre ideologische Rechtfertigung dazu dienen, Veränderungen in der Logik des Systems zu verhindern und das „Gleichgewicht“ zu bewahren, welches das Wohlergehen der wenigen auf Kosten des Elends der vielen garantiert.

Anstatt den Imperialismus als eine Ansammlung von Staaten in Form von mehr oder weniger autonomen Einheiten zu verstehen, schlagen wir daher vor, ihn als ein ganzheitliches System mit gemeinsamen Prozessen zu analysieren.

Die Konsequenzen unserer Interpretation

Wenn wir unseren Ansatz mit den anderen Vorstellungen über Imperialismus vergleichen, können wir einige wichtige Schlussfolgerungen ziehen, welche die Strategie des Kampfes beeinflussen.

Wenn wir über Imperialismus im ausschließlichen Sinne einer aggressiven und einmischenden Außenpolitik sprechen, wird er gewöhnlich in den Kontext eines bestimmten Landes oder einer bestimmten Macht gestellt, zum Beispiel: „amerikanischer Imperialismus“, „französischer Imperialismus“, „englischer Imperialismus“… Wenn es sich um eine Politik handelt und wir alle unsere Kräfte einsetzen, um sie zu stoppen, können wir dann sagen, dass das Ende dieser Politik das Ende des Imperialismus bedeutet? Nach unserer Sicht, nein. Aus unserer Sicht ist die aggressive Politik ein Mittel, um die Position in der Hierarchie zu halten, deshalb würde das Ende dieser Politik einfach bedeuten, dass eine andere Macht die Chance hat, einzugreifen und die „Beute“ zu machen.

Genauso wenn wir den Imperialismus nur als ein Abhängigkeitsverhältnis betrachten. Können wir dann annehmen, dass die Achtung der Souveränität des abhängigen Landes dem Imperialismus ein Ende setzen würde? Auch hier: nein. Frühere Epochen zeigen uns, dass dies nicht der Fall sein kann. Die Welle des antikolonialen Kampfes und des Kampfes für die nationale Befreiung hat zwar eine ungeheure Emanzipation der unterdrückten Völker gebracht, wusste aber die Logik der kapitalistischen Akkumulation nicht zu besiegen und geriet wieder in die Position der Abhängigkeit. Der Imperialismus passte sich den neuen Umständen an und fand einen Weg, das „Gleichgewicht“ wiederherzustellen.

Über Lenins Definition können wir sagen, dass sie zu einer bestimmten historischen Epoche gehört und nicht alle Wege der imperialistischen Entwicklung bis heute widerspiegelt.

Für eine gemeinsame Strategie

Um unsere Perspektive in die Praxis umzusetzen, wäre es wichtig, über die Methode der Analyse zu sprechen. Die marxistische Tradition bietet uns ein sehr mächtiges Werkzeug: die Dialektik. Basierend auf Maos Arbeit über den Widerspruch hat der dänische antiimperialistische Akademiker Torkil Lauesen in seinem Werk „Der Hauptwiderspruch“ einen Weg zur Entwicklung einer Strategie, durch die Analyse von Widersprüchen innerhalb des Systems vorgestellt.

Erstens, was ist ein Widerspruch? Vereinfacht kann man sagen, dass es sich um zwei voneinander abhängige Teile handelt, die im Gegensatz zueinander stehen.

Die Prozesse im System werden durch Widersprüche entwickelt. Wenn wir zum Beispiel über die Beziehungen zwischen denen, die den Wert produzieren, und denen, die ihn sich aneignen, nachdenken, können wir Widersprüche auf verschiedenen Ebenen identifizieren: zwischen Staaten auf regionaler oder globaler Ebene, zwischen Regionen innerhalb eines Staates, zwischen Klassen innerhalb einer Gesellschaft, usw.

Darüber hinaus können wir in der gegenwärtigen neoliberalen Ära die Widersprüche zwischen dem Staat und der Akkumulation (das Bedürfnis der Menschen, den Wohlfahrtsstaat aufrechtzuerhalten, und das Bedürfnis der Kapitalisten, ihn zu beseitigen, um die Akkumulation von Reichtum zu erleichtern), zwischen dem Wirtschaftswachstum und den natürlichen Grenzen (das Bedürfnis, die Produktion und die Märkte auszuweiten, um die Profite zu steigern, auf der einen Seite und die begrenzten Ressourcen des Planeten auf der anderen Seite) finden.

Die Widersprüche sind zahlreich, aber nur einer ist dominant. Wenn also der Imperialismus ein System ist, dann ergeben sich alle Widersprüche aus seiner Struktur. In diesem Sinne erscheint der wichtigste und dominante Widerspruch in der kapitalistischen Akkumulationslogik. Seine Folgen sind die Konkurrenz zwischen den Ländern des Zentrums um den Zugang zu Ressourcen und neuen Märkten sowie die Blockierung der Entwicklung der Peripherie (verursacht durch den Werttransfer).

Mit anderen Worten, alle Probleme, die wir heute beobachten: Armut, Kriege, ökologische Katastrophen, Diskriminierung und Flucht, sind alle feste Bestandteile und gleichzeitig Folgen der kapitalistischen Akkumulationslogik. Sie werden unweigerlich wieder auftauchen, wenn ihr Ursprung, der Hauptwiderspruch des Imperialismus, nicht beseitigt wird. Indem er beseitigt wird, wird auch der Imperialismus beseitigt.

Das Nicht-Erkennen der Hierarchie der Widersprüche innerhalb des Systems, kann unsere Kampfstrategie so beeinflussen, dass wir ohne uns dessen bewusst zu sein, am Ende eine Politik, Gruppen oder Bewegungen unterstützen, die den Imperialismus stärken, anstatt ihn zu schwächen. Die häufigste Falle ist der sogenannte „dritte Weg“ oder „weder-noch“, der sich auf die sekundären Widersprüche konzentriert, während er die primären stärkt. Beispiele für solche Positionen finden sich in Haltungen wie „Weder Assad noch die NATO“, „Weder Maduro/Lukaschenko/Ortega/(nennen Sie Ihren Lieblings-Diktator) noch die Opposition“, usw. Abgesehen davon, dass sie die Opfer mit den Henkern verwechseln, ignorieren diejenigen, die auf diese Weise argumentieren, auch die Marginalität ihrer eigenen Stärke und ihre mangelnde Fähigkeit, ein relevanter Akteur zu werden, um ihr ideales Ziel zu verwirklichen. Auf diese Weise wird ihre Haltung zu einer indirekten Unterstützung der systemischen Kräfte.

Deshalb ist es bei der Analyse der Widersprüche das Wichtigste:

  • den lokalen Kampf in einen globalen Kontext zu stellen, in Bezug auf Prozesse und Akteure weltweit,
  • unseren Platz in diesen Prozessen zu verstehen und wie wir den Kampf stärken können und
  • eine klare Strategie zu haben mit dem Ziel, den Imperialismus zu schwächen.

Transnationaler Fokus

Das imperialistische System bzw. der globale Kapitalismus befindet sich in einer systemischen Krise. Das gegenwärtige System der Akkumulation hat die Grenzen des Wachstums erreicht und ist von seinen eigenen Widersprüchen bedroht. Die Folge kann entweder Transformation oder Zusammenbruch sein. Was wir nicht wissen ist, ob das Endergebnis ein neues System der Ausplünderung oder ein gerechteres System sein wird. Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass ein besseres System nicht von selbst erscheinen wird. Es muss aufgebaut werden und dafür brauchen wir eine Bewegung.

Welche Art von Bewegung wird in der Lage sein, eine neue Welt aufzubauen? Das erste Hindernis, das es zu überwinden gilt, ist die Vorstellung, dass der Umfang des Kampfes lokal und national sein muss. Der Imperialismus ist globaler Kapitalismus, er ist ein System, das die ganze Welt umfasst und die Grenzen nicht respektiert. Grenzen sind kein Hindernis für das Kapital, sondern nur für die Menschen. Deshalb muss der Fokus der neuen Bewegung von Anfang an global sein. Die Bewegung muss transnational sein. Der antiimperialistische Kampf kann nicht den Zielen des lokalen Kampfes unterworfen werden, da das „Lokale“ die direkte Folge der globalen Prozesse ist.

Das zweite Hindernis ist die Identifizierung von Gruppen und Bewegungen mit einem antisystemischen Charakter. Nicht alle, die sich selbst als AntiimperialistInnen bezeichnen, schwächen den Imperialismus, genauso wie viele Bewegungen, die sich nicht mit dem Antiimperialismus identifizieren, zur Schwächung des imperialistischen Systems beitragen können (bewusst oder unbewusst). Deshalb muss die neue Bewegung antisystemisch sein und alle Arten von Bewegungen einschließen, die darauf abzielen, der Logik der Kapitalakkumulation ein Ende zu setzen.


Der Text wurde von Vidar Lindstrøm aus dem Englischen übersetzt. Erstmalig wurde er auf spanisch von der Frente Antiimperialista Internacionalista (FAI) veröffentlicht.

Original: https://anti-imperialist.net/2020/11/04/what-is-imperialism/