Der intergalaktische Korrespondent der Prolos, Maximus Galakticus, befindet sich derzeit auf dem Planeten Terra Secondo. Von dort berichtet er uns über die philosophische Entwicklung der Gesellschaft auf dem Planeten.
Die Gesetze der Gravitation sind auf unserem Planeten weitgehendst bekannt und anerkannt. Die Erdanziehungskräfte bewirken, dass wir uns nicht alle in den Weltraum verflüchtigen und der Apfel meist nicht weit vom Stamm fällt. Sie ist der Grund, warum es für uns ein „oben“ und ein „unten“ gibt.
Die Menschheit hat gelernt mit der Schwerkraft zu leben. Es gibt Sportarten mit dem Ziel durch Muskelkraft die Erdanziehung zeitweise zu überwinden (Hochsprung) und Freizeitbeschäftigungen, die sich die Erdanziehung zunutze machen, indem man sich in schwindelnde Tiefen stürzt und der Aufprall durch ein Gummiseil verhindert wird (Bungee-Jumping).
Geeignete Körper die senkrecht „stehen“ (90°) sind statisch stabil, wenn nicht eine externe Kraft auf sie einwirkt. Körper die horizontal „liegen“ ebenfalls. Körper die eine Neigung aufweisen werden, je nach Neigungsgrad, immer instabiler. Ab einem gewissen Neigungsgrad fallen sie um. Schon ab einer geringen Abweichung von der Senkrechten beginnt die Instabilität. Es ist also ein qualitativer Unterschied zwischen einem 90° Winkel und einer 89° Neigung, obwohl die Quantität gering ist. Dasselbe gilt für die Horizontale. Auf einer Ebene mit einem „Gefälle“ von 0° würde eine Kugel im Ruhezustand verharren. Ist das Gefälle > 0 setzt sie sich in Bewegung (sofern sie ihre Trägheit überwinden kann). Dasselbe gilt für Wasser. Diese Tatsache macht man sich im Straßen-, Platz- und Wegebau zunutze. Flächen werden dort mit einem Gefälle von mindesten 1,5° versehen, damit das Wasser abfließt. Es besteht also ebenfalls ein qualitativer Unterschied zwischen 0° und > 0°. Umgekehrt macht es keinen Sinn das Gefälle zu steil einzubauen, weil die Fläche sich dann nicht mehr zum Abstellen von Dingen eignet. Auch hier schlägt die Quantität irgendwann in Qualität um. Diese Tatsache ist allen Bauschaffenden bewusst, weswegen Messgeräte wie Wasserwaage, Winkelmesser oder Kreuzlinienlaser unerlässliche Werkzeuge auf jeder Baustelle sind.
Aber auch der Alltagsmensch hat aus der Erfahrung heraus eine Kenntnis von diesen Gegebenheiten. In der Praxis macht es keinen Sinn wertvolle Vasen auf stark geneigten Flächen (Schrägen) abzustellen.
Ohne genaue Kenntnis der Newtonschen Physik, der Einsteinschen Relativitätstheorie oder gar der Quantenfeldtheorie ist es den meisten Menschen möglich die herrschenden Naturgesetze in ihren Auswirkungen in tauglicher Weise zu erkennen und täglich anzuwenden. Die praktische Erfahrung verfeinert sich durch theoretisches Wissen so, dass es der Menschheit heute möglich ist komplizierteste Konstruktionen zu errichten und unter Anwendung der Naturgesetze diese scheinbar zu überwinden (stählerne Flugzeuge kreuzen den Himmel).
Diese Tatsachen sind auf unserem schönen Planeten Erde relativ unbestritten, weil täglich gelebte Praxis.
Anders auf dem weit entfernten Planeten Terra Secondo, der mit unserm natürlich nicht das Geringste zu tun hat, obwohl dort weitgehendst die gleichen Naturgesetze herrschen. Dort hat sich schon in der Frühzeit der Zivilisation der dortigen Lebewesen die Religion des sogenannte Spitzoismus gebildet. Der Spitzoismus besagt im Kern, dass alles Hohe gut ist und alles Niedere schlecht. Ihr Gott, das höchste Wesen, lebt in allem was hoch ist. In den Bergen, hinter den Wolken, in den Wipfeln der Bäume. Das verachtungswürdige „Niedrigste Wesen“ haust in den Wasserlöchern, den Höhlen, den Gebirgstälern. Deshalb sind die, die in den Bergen wohnen, die Edlen und die, welche die Ebenen bevölkern, die Elenden. Weil die Edlen Gott nahe sind, sind sie zum Herrschen geboren und die Niederen sind da, um ihnen zu dienen. So war es jahrtausendelang Gesetz auf Terra Secondo.
Doch das Wissen um die Wirklichkeit der Dinge entwickelt sich auch auf dem Planeten Terra Secondo und man erkannte, dass in den Bergen, hinter den Wolken und in den Wipfeln der Bäume kein Gott anzutreffen war. Die Geistesbewegung der sogenannte „Erkenntnis“ brachte die alte Ordnung ins Wanken und delegitimierte das alte Herrschaftssystem. Die Unteren (ein Bündnis aus Niederländern und Angehörigen der Mittelgebirge), durch die Erkenntnis entfesselt, übernahmen die Macht.
Doch das jahrtausendealte Denken war so leicht nicht zu besiegen. Das Denken, dass das Obere gut und das Untere schlecht ist, legte sein religiöses Gewandt ab und kleidete sich in eine „Wissenschaftlichkeit“ die als Theorie der Niveauismus bekannt wurden. Mit allerlei „wissenschaftlichen“ Taschenspielertricks versuchte der Niveauismus zu beweisen, dass die Bergvölker von Natur aus besser waren als die Niederländer. Damit wurde weiter die Macht der Bergvölker und die Ausbeutung der Niederländer begründet.
Die Mittelgebirgler jedoch entwickelten eine eigene Ideologie, den Egoismus, die im individuellen Streben nach Glück und der hemmungslosen Ausbeutung der anderen die Erfüllung des Lebens sah. (Später wurde diese weiterentwickelt zum Neoegoismus, mit der Option ganze Völker ins Unglück zu stürzen, wenn es nur zum eigenen Vorteil gereicht.) Dazu kam ihnen der Niveauismus grade recht um die Niederländer zu deklassieren und, je nach Höhenniveau, nochmal zu spalten, denn selbst große Teile der Niederländer hatten das Denken des Niveauismus verinnerlicht und blickten voller Verachtung auf diejenigen, die noch niedriger lebten als sie.
Dennoch war der Damm gebrochen. In den Niederlanden traten Denker und Revolutionäre auf, welche die Theorie des Niveauismus widerlegten, die prinzipielle Gleichberechtigung aller Individuen proklamierten und die Anhänger des Niveauismus in arge Bedrängnis brachten. Der Egalitarismus gewann immer mehr Anhänger in den unteren Massen.
Dem war mit plumpen Niveauismus und Egoismus nicht beizukommen.
Da die „Oberen 10.000“ nach wie vor die Macht über die Bildungseinrichtungen hatten änderten sie ihre Taktik und nutzte scheinbar liberale philosophische und soziologische Modelle um die unteren Massen zu verwirren.
Dazu kam ihnen die Denkschule des Imaginationismus gerade recht. Der Imaginationismus besagt, dass die Welt als solche nur in unseren Gedanken Wirklichkeit wird, dass sich das Sein allein aus dem Bewusstsein ableitet. Den Begrifflichkeiten, und nicht den Dingen, allein Wahrheit zukommt. Sie stellten endlich die Welt von den Füßen auf den Kopf. Der Egosensualismus wiederum stellt das subjektive Empfinden über die objektive Wahrheit. Nicht den Dingen an sich kommt Wirklichkeit zu, sondern wie wir sie empfinden. Die Möglichkeit die Wahrheit zu erkennen stellt der Vagismus grundsätzlich in Frage. Manche behaupten weiter, dass es eine objektive Wahrheit nicht gäbe.
Diese Ideen beseelen die sogenannte Supramodisten und ihre Kritik am Modismus, welcher tatsächlich eklatante Schattenseiten hatte und durch das Wirtschaftssystem des Egoismus zu einer Geisel aller Lebewesen auf Terra Secondo geworden ist. Diese Supramodisten geben sich superkritisch und antiautoritär indem sie „starre Ideologien“ ablehnen, „hierarchische Kategorien“ abbauen, „tradierte Verhaltensmuster hinterfragen“ und „Schubladendenken“ bekämpfen wollen. Sie fordern „Ambivalenz und Uneindeutigkeit“ in den „Überlegungen und Schlussfolgerungen“, wollen „ergebnis- und deutungsoffen“ arbeiten, „Handlungsspielräume eröffnen“, zu einer „produktiven Verunsicherung“ beitragen und „verstören“. Dadurch ergäben sich „zahlreiche Konstellationen“ und „ermöglichen vielfältiges, variables Handeln“. Verstörend mindestens.
All diese Worthülsen verströmen so viel liberalen Geist, dass sie von den jungen Studierenden begierig aufgesogen werden und alle sich beeilen in diesem Duktus Erlerntes nachzuplappern, um sich als weltoffener, kritischer Freigeist publikumswirksam zu produzieren.
Die Ideen des Imaginationismus und Egosensualismus verleiten die Blablaisten in ihrer Hybris zu der Behauptung, allein durch Veränderung der Sprache könne eine andere Wirklichkeit geschaffen werden. Alle „Kategorisierungen“ sind lediglich „konstruiert“ und können demnach auch wieder beliebig „dekonstruiert“ werden. Für die Anhänger des Vagismus sind alle Dinge nur „graduell“ verschieden. Die Möglichkeit des Umschlags von Quantität in Qualität scheint sich ihnen nicht zu erschließen.
Allein in der Veränderung der Sprache sehen die Blablaisten das Allheilmittel zur Veränderung der Verhältnisse. Das ist bequem, denn so muss man sich nicht mehr im aufreibenden Massenkampf abmühen und kann die Welt einfach von der Studierstube aus verbessern. Die „Oberen 10.000“ nahmen dies dankbar zu Kenntnis und ließen den Verfechtern dieser Lehren demzufolge auch gutdotierte Lehrstühle an den neu entstehenden Bildungsstätten zukommen. Von diesen sind jedoch viele eingestürzt, weil die fortschrittlichen Professoren im Bündnis mit verbalradikalen Studierenden, ganz im Sinne des Vagismus, erfolgreich die Verwendung von Wasserwaagen beim Bau der Lehrgebäude verhindert haben. „Die Wasserwaage ist ein Symbol von Zuschreibungen und konstruierten Eindeutigkeiten, die“, so ein Kommuniqué, „nicht zugelassen werden darf und aufs Schärfste bekämpft werden muss.“ Überhaupt seien die Worte „Waagrechte“ und „Senkrechte“ fortan geächtet, weil es eine „absolute“ Senkrechte oder Waagrechte nicht gäbe, sich viel mehr alles in der „relativen Schräge“ befände. Die Worte „oben“ und „unten“ als auch „hoch“ und „tief“ seien niveauistisch, letztlich seien alle „kategorischen Eindeutigkeiten“ sprachlich durch „mittele“ zu ersetzen, so die Flugschrift weiter. Was „oben“ und „unten“ sei könne jeder auf Terra Secondo Lebende individuell für sich selber bestimmen. Der „Dualismus der Schwerkraft“, die auf Terra Secondo genauso wirksam ist wie auf der Erde, sei „nur konstruiert um die Höhenhierarchie zu naturalisieren und die Unterwerfungsverhältnisse zu manifestieren.“ Alles sei nur eine Verschwörung „grauer, verfallender Gestalten“.
Derlei Flugschriften erreichten jedoch nie die unteren Ebenen. Sätze wie: „Nur wenn in den Konstruktionsmechanismen der Höhenidentität zugleich die Kontingenz dieser Konstruktion impliziert ist, ist der Gedanke der „Konstruiertheit“ per se nützlich für das politische Projekt, den Horizont möglicher Konfigurationen der Höhenidentität zu erweitern.“, wurden selbst von den Anhängern dieser Theorien selten gelesen, geschweige denn verstanden.
So kam es, dass auf Terra Secondo allen Widernissen zum Trotz, nach wie vor Gebäude mit der notwendigen Standfestigkeit entstanden.
Wenn die Begrifflichkeiten verschwänden, so der gutgemeinte Vorschlag der Blablaisten, verschwänden auch Niveauismus und Massenkampf, weil sie schlichtweg unaussprechlich geworden wären. Der Erfolg der Kampagne war daran abzulesen, dass die Studierten und Bessergestellten von Terra Secondo schließlich nicht mehr wussten wo oben und unten war. Die unteren Massen jedoch drückte die Wirklichkeit der Verhältnisse derart, dass sie sich keine Sekunde ihres beschissenen Lebens Illusionen über ihre Lage machten. Auch die „Oberen 10.000“ vergaßen keinen Moment welche Verhältnisse ihnen, ihre „ungeheure Leichtigkeit des Seins“ bescherte.
Ein gebäudeherstellendes Wesen resümiert:
„Da hat man jahrelang Abgaben gezahlt, damit andere studieren können und dann muss man feststellen, dass die oben und unten nicht unterscheiden können.“
Dass auch vom Massenkampf nicht mehr zu sprechen war, begeisterte die „Oberen 10.000“ so, dass sie die Subventionen für die Bildungseinrichtung, die derartige Gelehrigkeit an den Tag legten, noch einmal erhöhten.
Die Beschenkten hatten nun genug Muse sich ihrerseits mannigfaltige Euphemismen auszudenken „um die bestehenden schlechten Verhältnisse zu verbessern“. Hatte jemand Schaden an Körper oder Geist, so war er einfach „anders talent“. Sozial Unterprivilegierte waren „Opfer von Massismus“. Den Übeln beizukommen wäre mit „Konkurrenzgleichheit“ und „Dabeisein“ – in Verhältnissen, die gleiche Chancen und allgemeines Teilhaben von vornherein ausschlossen (wegen Egoismus und so). Und die wichtigste Frage sowieso wäre, wo man da „dabei ist“ und ob dies überhaupt erstrebenswert ist. Aber Hauptsache „schönreden“.
Und wo von unten und oben nicht zu sprechen ist, da ist auch kein Massenkampf. Ganz im Sinne der „Oberen 10.000“ auf Terra Secondo (die man als solche sowieso nicht mehr benennen konnte, wg. „zu knapper Kritik“ und weil sowieso alle „mittele“ sind).
Und wenn es die Anhänger des Egalitarismus nicht schaffen die Nebelschwaden zu vertreiben, dann leben die Bewohner auf Terra Secondo hirntot weiter bis ans Ende ihrer Tage.
Zum Glück herrschen auf dem Planet Erde ganz andere Verhältnisse. Dank der Gravitation wissen wir natürlich alle wo oben und unten ist.
Johanna:
Und es sind zwei Sprachen oben und unten
Und zwei Maße zu messen
Und was Menschengesicht trägt
Kennt sich nicht mehr. (…)
Die aber unten sind, werden unten gehalten
Damit die oben sind, oben bleiben.
Bertolt Brecht, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“