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Die Moralismus-Falle

Von Vidar Lindström

Linke Politik hängt in der Moralismus-Falle fest. Die Ursachen dafür sind struktureller Natur; aufschlüsseln lässt sich dies sehr gut an den Beispielen Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg.

Ginge es nach zahlreichen Akteuren – wie der „Friedensbewegung“, die keine ist – hätte bereits vor Jahren jede Beziehung zu Russland eingestellt und viel härter auf dessen Krieg reagiert werden müssen. So in etwa propagiert das Fridays For Future Deutschland. Dabei scheinen die Moralisten vergessen zu haben, was wirklich Frieden schafft. Waffenlieferungen jedenfalls nicht, sie ziehen den Krieg nur in die Länge. Frieden wird vor allem durch ökonomische, politische und kulturelle Kooperation geschaffen und gefördert. Zu denken, dass Deutschland – als imperialistische Nation – durch eine aggressive Politik Frieden herstellen könne, ist ein Irrglaube und historisch nur allzu oft widerlegt worden. Ein Land kann nur aus sich heraus demokratischer werden, nicht durch Zwang von außen. Diesen Zwang von außen scheinen viele sich jetzt zu wünschen und für die einzige erfolgversprechende Option zu halten. Im Endergebnis fördert eine solche Politik vor allem den nationalen Chauvinismus.

Auch Russland ging einst den Weg der Demokratisierung. Die aggressive außenpolitische Strategie der USA, die korrupten Machtcliquen und die kaum konkurrenzfähige russische Wirtschaft, die regelmäßig in die Krise gerät, haben die autoritären Kräfte jedoch gestärkt und diesen Prozess beendet. Im Westen gibt es ebenfalls eine reaktionäre Trendwende, wie der immer krisenhafter und zugleich immer autoritärer werdende Neoliberalismus beweist. Lediglich sind hier die Nationalökonomien – zumindest in den imperialistischen Zentren – allerdings noch stark genug, um derartige Krisen sozial abfangen zu können, so dass Menschen zumindest überleben können, ohne Aufstände wie in Griechenland oder Frankreich anzufangen. Die Moralisten jedenfalls schlagen jetzt in dieselbe Kerbe wie manche NATO-Strategen und sind überzeugt, dass nur noch Zwang hilft – selbst wenn das gesamte russische Volk in den Ruin getrieben oder der Ukraine ein langwieriger Krieg aufgedrängt wird.

Während der Corona-Pandemie konnten wir sehen, wozu der zu politischer Analyse unfähige Moralismus führt. Durch moralischen Druck wird eine feindselige Atmosphäre geschaffen, um all diejenigen, die von den Wertvorstellungen des Bürgertums – und dieser Mist ist vor allem im Bürgertum beliebt – abweichen und sich deren Kontrolle entziehen, zu sanktionieren. Die gesamte Linke, bis auf die wenigen, immer gleichen Ausnahmen, ist in ein derart aggressives Verhalten verfallen, dass über einen langen Zeitraum hinweg jede abweichende Meinung von der Staatspropaganda (und das RKI als Staatsinstitut gehört dazu) mit unaufhörlichen Angriffen überzogen wurde. Wo man selbst die Wissenschaftsfeindlichkeit beispielsweise der Querdenker angegriffen hat, ist man selbst oft in einer ideologisierten Vorstellung von Wissenschaftlichkeit verblieben. Die Linke hat einmal mehr bewiesen, dass sie nicht auf der Seite der einfachen Menschen steht. Im ersten Jahr der Pandemie wurde so jede ernsthafte Opposition von links verhindert. Die notorische Ratlosigkeit der Linken gegenüber Krisen und der plötzliche Gehorsam gegenüber den Herrschenden haben ein Übriges dazu getan.

Dieses aggressive Grundmuster der Moralisten entspringt dem Bedürfnis, Geschehnisse zu kontrollieren, denen sie ohnmächtig gegenüberstehen. Man täuscht sich selbst Handlungsfähigkeit vor, und Störungen dieser Fake-Realität ärgern sie, weil es ihre mühsam hergestellte Ordnung durcheinanderbringt. Aus Grundgesetz-Ultras wurden Drosten-Ultras und jetzt Baerbock-Ultras. Irgendeiner muss stets die Meinung vorgeben, der sich unwidersprochen zu unterwerfen ist. Diese Angst vor der Realität konnte auch 2015 beobachtet werden, als Versuche, die Ursachen für Flucht und Vertreibung im globalen Kontext imperialistischer Ökonomie als Angriffspunkt gegen die herrschende Politik zu formulieren, mit dem Verweis auf das Leid der Flüchtenden abgetan wurde. Es muss geholfen werden, alles andere ist nebensächlich. Diese Fixierung auf einen Aktivismus ohne grundlegende Kritik hat dazu geführt, dass den deutschen Verantwortlichen für dieses Leid der Rücken gestärkt wurde. Zudem konnten diese staatliche Aufgaben an Ehrenamtliche delegieren, die den neoliberal schlanken Sozialstaat in ihrer Freizeit unentgeltlich kompensieren. Zynischerweise hat man sich nicht lumpen lassen, dies als „Sommer der Migration“ zu labeln.

Das aktivistischen Milieu liebt derartige Phrasen, weil man sich in einem um sich selbst drehenden Aktivismus alle paar Monate mit irgendeinem neuen Thema wichtig fühlen kann. Irgendwas muss der eigenen belanglosen Existenz immer wieder eine neue Bedeutung geben. Da macht sich gar bei Linken die eigene christliche Sozialisation bemerkbar, von der sie glauben, sich ihr entzogen zu haben. In solcherart Aktivismus muss niemand wirklich Konsequenzen auf sich nehmen oder auf dem Boden der Tatsachen agieren. Wer keinen Bock mehr hat, geht, und mit der eigenen Lebensrealität hat das meist auch nicht viel zu tun, warum also für irgendetwas Substanzielles kämpfen?

Den Klassiker kennen wir alle, mit 30 sind die meisten raus. Nach einer ach so rebellischen Adoleszenzphase, grüßt der Ernst des Lebens; Lohnarbeit und familiäre Verantwortung warten. Zumeist ist dies heutzutage eine Phase, in der postmoderne und idealistische Ideologien in die Linke getragen und linke Positionen verwässert werden. Selten wird etwas Nachhaltiges aufgebaut, etwas, das perspektivisch und strategisch gedacht wird. Strukturelle Ungerechtigkeiten sind meistens nur Themen, die andere betreffen, nie einen selbst. Dass dies nur allzu selten stimmt, zeigt der Blick in die Lebensrealität vieler Linker. Weil man da aber „eh nichts tun kann“, beschäftigt man sich wieder mit der Lebensrealität und den Ungerechtigkeiten, denen andere ausgesetzt sind. Das hat selten etwas mit Empathie oder Solidarität zu tun, dafür meistens etwas mit Ablenkung von der eigenen Ohnmacht und der moralischen Selbstvergewisserung, auf der richtigen Seite zu stehen.

So kommt es, dass Moralisten in ihrem Drang nach Ordnung regelmäßig den Staat anflehen, doch bitte endlich was zu unternehmen, gegen diese elendige Unordnung, gegen diese Verbrechen. Dabei ist offensichtlich, dass dies ein Ruf nach Führung und Härte, nach Autorität ist. Man weiß natürlich, dass die Polizei ein strukturell rassistischer Verein ist, der am liebsten auf Linke draufhaut, aber die sollen doch jetzt endlich mal diesen Querdenkern eine überziehen. Bei Liberalen wird diese Widersprüchlichkeit ganz offen ausgelebt, ohne je irgendetwas davon hinterfragt zu haben, unabhängig davon, wie offensichtlich der Widerspruch auch sein mag. Linksradikale Moralisten sind da meistens bedachter und pflegen ihre klammheimliche Freude am Unrecht, dass jetzt endlich mal anderen angetan wird. Ebenso will man nichts davon wissen, dass Deutschland, wie jede imperialistische Nation, zur Großmacht strebt, obwohl dies im historischen Gedächtnis seinen Platz hat. Was soll einen also davon abhalten, auf die Straße zu gehen und Flugverbotszonen oder militärischen Expansionismus, zumeist gekleidet in dieselben humanitären Phrasen, die insbesondere die NATO für ihre Kriegsverbrechen kultiviert hat, zu fordern, um die Ukrainer vor Russlands Krieg zu beschützen? Irgendjemand muss ja für Ruhe und Ordnung sorgen und das historische Gedächtnis ist besonders bei Liberalen ohnehin nur Verhandlungssache. Opportunismus wie eh und je.

Linke und Liberale verschmelzen, wie es schon bei den Antideutschen und den Anhängern der postmodernen Ideologien der Fall war, erneut zu einem Einheitsbrei, dessen Forderungen oftmals weitaus aggressiver sind, als das, was sich die deutsche Bourgeoise selbst als machbare Option ausdenkt. Wer diesen Weg geht, muss logischerweise auch seinen Counterpart bekämpfen. Antiimperialistische Linke, die seit eh und je vor diesen Konflikten warnen, stehen im Dauerfeuer der Kritik. Von der Historie solcher Konflikte will der Moralist nichts wissen, ebenso wenig vom Imperialismus überhaupt. Dennoch ist kaum verwunderlich, dass diejenigen, die seit Jahrzehnten antiimperialistische Position attackieren, plötzlich wieder von Imperialismus reden, weil Imperialismus hier plötzlich als starkes Schlagwort der Zurechtlegung der eigenen Ideologie dienlich ist, der Imperialismus ja „woanders“ auftritt und den Feind im Osten markiert. Den „Antiimps“ dichtet man kollektiv eine Russland-Nähe an, um eine grundlegende Kritik am Weltgefüge von vornherein zu diskreditieren. Dass Russland imperialistische Ambitionen hat, ist für die meisten Antiimperialisten so wenig überraschend wie die Nicht-Existenz des Weihnachtsmanns. Da Moralisten aber unfähig sind, irgend etwas außer einer Gut/Böse-Dichotomie zu erkennen, soll von der NATO nicht mehr als imperialistischem Akteur geredet werden. Wer es dennoch wagt, dem wird mit dem Vorwurf des „Whataboutism“ begegnet, welcher zum ideologischen Kampfbegriff für all diejenigen geworden ist, die nichts mehr begreifen wollen. Die Rolle des Guten muss eben auch besetzt werden, und wenngleich Linke zumeist noch nicht so weit gehen, jetzt offen die NATO in diese Position zu setzen (Ausnahmen dürften aktuell Beiträge der Rosa-Luxemburg-Stiftung sein, Teile von Fridays For Future und einige ehemalige antideutsche Gruppen), so tun sie es eben doch indirekt. Nicht umsonst wird jetzt von Deutschland genau der aggressive Kurs gegenüber Russland gefordert, den US-Präsident Biden bereits seit 2014 proklamiert. Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen sind plötzlich vielleicht doch nicht so schlecht – dass das nur die imperialistischen Ambitionen Deutschlands stärkt, drauf geschissen. Im Angesicht des Unrechts ist alles erlaubt.

Eine aktive Politik gegen die Aufrüstung und die Großmacht-Ambitionen ist also nicht zu erwarten. Denn wie wir in letzter Zeit lesen können, ist das ganze Gerede vom Hauptfeind, der im eigenen Land steht, einfach altbacken. Wem nützt solch eine Behauptung eigentlich, wenn nicht den Herrschenden in Deutschland, die für die ständige Ablenkung des Protestpotenzials von der eigenen Hemisphäre sicherlich dankbar sind. Glaubt wirklich wer, dass man auf das Geschehen in anderen Ländern real Einfluss nehmen kann? Wie eigentlich, durch Tweets und Instagram-Stories? Viel Spaß bei dieser Aktivismus-Simulation innerhalb der Medien des Klassenfeinds. Diese Art des Aktivismus hat mit dem der Moralisten gemein, dass sie handlungsunfähig ist und dem tatsächlichen Geschehen fern bleibt. Dass Moralisten und Social-Media-Helden oft deckungsgleich sind, ist wohl kaum Zufall.

Veränderung braucht ein handelndes Subjekt, und so, wie es in den letzten Jahrzehnten nur die Arbeiterklasse hätte sein können, die soziale Verbesserungen erkämpft, können es jetzt auch primär nur die Ukrainer und Russen sein, die den Frieden erkämpfen. (Die friedensfördernde Rolle des Internationalismus lassen wir hier mal außen vor.) Das Dilemma moralistischer Kleinbürger ist, dass sie selten selbst zu eben dem Subjekt gehören, dass tatsächlich handlungsfähig werden kann. In der Konsequenz wird Handlungsfähigkeit an den Staat delegiert oder auf die eigentlich handlungsfähigen Subjekte projiziert. Die sollen dann tun, was man selber gerne möchte, ohne jedoch zu berücksichtigen, was deren eigene Interessen sind. Aufrufe an selbige verschallen in der Regel im Nichts. Zugegeben, nicht nur der moralistische Teil der Linken steckt in diesem Dilemma. Diese Kontaktunfähigkeit ist weit verbreitet und verwandelt sich meistens in einen mehr oder weniger offenen (Metropolen-)Chauvinismus der moralischen Saubermänner und -frauen: Diese dummen Proleten, warum machen die nicht, was von ihnen verlangt wird? Insofern man bereit ist, sich im aktivistischen Milieu die eigene Ohnmacht einzugestehen, folgt diesem Eingeständnis oft ein Zynismus, der jegliche politische Analyse mangels Ansprechpartnern einstellt und direkt dazu übergeht, nur noch das soziale Gewissen des Systems zu mimen und erschaffenes Leid durch Hilfsangebote abzufedern. Dadurch werden sie selbst zum Frühwarnsystem der Herrschenden. Dabei wissen wir durch mehr als 150 Jahre Klassenkampf, dass Hilfe ohne eigenständige Analyse der strukturellen Ursachen und ohne strategisch gedachten Kampf dagegen zu eben jenem Daueraktivismus ohne Konsequenzen, dafür aber mit Burnout-Garantie führt.

Für die Herrschenden sind diese Umstände erfreulich. Sie müssen nicht mehr selbst die Verbrechen fordern, diese werden ihnen von den liberalen Moralisten regelrecht aufgezwungen; weist dann jemand auf entstandenes Unrecht hin, kann getrost auf das soziale Gewissen der Nation rückverwiesen werden, dessen Rolle linke Moralisten freiwillig übernommen haben. Ob gewollt oder nicht, schließlich stehen sie, das System schützend, an der Seite der Herrschenden. Demokratie und Meinungspluralismus sind eben doch die überlegenen Systeme. Wir handeln hier im Westen aus moralischer Überlegenheit und nennen das dann wertebasierte Politik.

Doch was soll man machen? Den Moralismus bekämpft man nicht, in dem man die Moralisten bekämpft, sondern dadurch, dass man eine Alternative zur Ohnmacht schafft. Das ist zwar ein eher frustrierender und meist langwieriger Weg, in dem die kleinen Siegesmomente noch rarer sind als beim Daueraktivismus, aber es gibt dazu keine Alternative. Die letzten Jahre haben all die gesellschaftlichen Konfliktfelder, den sich verschärfende Klassenkampf von oben, die Kriegshetze, den patriarchalen und rassistischen Rollback, die Klimakrise, die Wohnungsmisere, das alles vor uns ausgespuckt, so dass es nicht mehr ignoriert werden kann. Wir müssen mit eigener Kraft da rein gehen. In Anbetracht der ideologischen Angriffe auf uns ist ein zentraler Moment, der nicht außer Acht gelassen werden darf, die politische Bildung. Dazu bedarf es Institutionen und Medien jenseits der bürgerlichen, die selbst zu schaffen sind. Nur wer ein klares Verständnis der gegenwärtigen Situation hat, kann ein Programm und eine Strategie entwickeln, die wirkmächtig werden können. Grundlegende Veränderung braucht kluge und geduldige Strategien, die an den realen Belangen der Menschen ansetzen. Der Turn zur Postmoderne in der Linken, mit seinen immer kleiner abgegrenzten Subjektivitäten, weist leider grade in die entgegengesetzte Richtung. Wer Veränderung will, muss die Arbeiterklasse als einziges zur Veränderung fähiges politisches Subjekt stärken und organisieren. Ohne sie siegen Zynismus, Chauvinismus und Ohnmacht.