Emanuel Kapfinger, Berlin
Am 24. Februar wachte Europa mit einer Nachricht auf, die kaum jemand für möglich gehalten hatte: Es gebe „erstmals“ seit 1945 wieder Krieg auf europäischem Boden. Entsetzen ergriff die Menschen angesichts der Bilder des Schreckens: Durch die Ukraine rollende Panzerbataillone, zerbombte Wohnhäuser, in U-Bahn-Schächten ausharrende Menschen. Sie entfachten eine Welle der Empathie, die eine überwältigende Hilfsbereitschaft in der europäischen Bevölkerung hervorrief.
Am selben Tag noch sprangen aber auch die ideologischen Apparate an und speisten das Entsetzen, die Empathie und die Solidarität in eine Ideologie der „freien Welt“ ein. Es waren „wir“, die mit der Ukraine angegriffen wurden. Binnen weniger Stunden konstituierte sich eine dichte, von der Realität entrückte Ideologie-Blase, die mit harten moralischen Bandagen eine militärische Antwort der NATO einforderte. Bald kamen die ersten Stimmen auf, die die Wiederaufrüstung Deutschlands forderten, die am darauffolgenden Sonntag von der Regierung beschlossen und vom Parlament bejubelt wurde. Wer nun noch auf friedenspolitisch informiertem, bedachtsamem Handeln bestand oder gar die imperialistischen Bestrebungen des Westens kritisierte, den traf die Verurteilung, Unterstützer Putins zu sein und den Krieg mitentfacht zu haben.
Ein Angriff auf uns alle
Russlands Angriff auf die Ukraine wird von der Öffentlichkeit der europäischen Staaten als Angriff auf „uns“ empfunden und als Angriff auf die „freie Welt“ verurteilt. Obwohl die Ukraine zuvor eigentlich als einer dieser kaputten, postsowjetischen Staaten am östlichen Rande Europas galt, von dem unklar war, inwiefern er zum Westen gehört, empfinden seit dem Angriff die überwiegenden Teile der europäischen Bevölkerung die Ukraine als Teil der „freien Welt“.
Auf der anderen Seite wird nicht Russland, sondern Putin als der eigentliche Aggressor dargestellt: Putin marschiere in der Ukraine ein, Putin bombardiere ukrainische Wohnhäuser, Putin sei das Leben der ukrainischen Bevölkerung egal, Putin hasse und zerstöre eine „Demokratie“. Für das staatliche Handeln Russlands steht stellvertretend der „verrückte“ Autokrat Putin, der sein Volk in einen Krieg ziehe, den es gar nicht wolle.
Diese prowestliche und antirussische Ideologie mobilisiert seither große Teile der europäischen Bevölkerung zu einer doppelten ideologischen Praxis: zur Solidarität mit dem ukrainischen Staat, der gar nicht von seiner Bevölkerung unterschieden wird, und damit verkoppelt zur Verurteilung Russlands, oder eigentlich Putins, und dann doch wieder ganz Russlands.
Die Freiheit in der Ukraine verteidigen
Die Solidarität ist einesteils symbolisch: Sie wird auf Massendemonstrationen, im Hissen der ukrainischen Flagge auf öffentlichen Gebäuden und ihrer Darstellung in Facebook-Profilen, im Teilen des Hashtags #StandWithUkraine – sogar auf U-Bahn-Fahrplänen – bekundet. Zahlreiche Institutionen und Unternehmen äußern öffentlich, dass sie den Kampf der Ukraine „für Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit“ unterstützen. Die Solidarität ist aber auch materiell: In großer Anzahl engagieren sich Menschen in Spendenkampagnen, besorgen Medikamentenlieferungen, organisieren Flüchtlingstransporte.
Diese Solidarität hilft in ehrlicher Empathie den Menschen und ist zentral, um das Kriegsleid zu lindern. Zugleich ist sie etwas ganz anderes, denn sie ist nicht einfach nur durch die Empathie für das Leiden der Menschen motiviert, sondern weil die Ukrainer*innen zu „uns“ gehören, weil Europa, und damit in gewisser Weise auch „wir selbst“, angegriffen werden. Es sind ja diesmal „echte Flüchtlinge“ (Marc Felix Serrao in der NZZ), anders als zum Beispiel bei den Tausenden, die bei der Flucht übers Mittelmeer ertrinken.
„Wir“ sind mit der Ukraine solidarisch, weil „die Freiheit“ bedroht ist. Die Solidarität mit den konkreten Menschen hebt sich von sich selbst ab und wird zu ihrem Gegenteil, zur Solidarität mit den abstrakten Ideen der Freiheit und der ukrainischen Nation, gleichgültig, wie es den Menschen dabei geht. Dadurch ist die Solidarität zugleich sehr selektiv: Sie richtet sich nur an als „echte“ Ukrainer*innen geltende Menschen, nicht an Migrant*innen in der Ukraine und schon gar nicht an Muslima und people of color. Diese Willkommenskultur ist reale Solidarität, ist aber als solche zugleich eine Willkommensideologie.
Zwar fängt diese Ideologie damit an, mit dem Leid der Menschen in der Ukraine zu empfinden. Aber daraus zieht sie den eigenartigen Schluss, dass „die Freiheit“ in der Ukraine angegriffen wird und „wir“ mithelfen müssen, um sie zu verteidigen. Sie lädt das Leid der Ukrainer*innen mit der abstrakten Idee der Freiheit auf. Die Solidarität mit den Ukrainer*innen ist daher zynisch: Es geht um die betroffenen Menschen nur insofern, als es um „die Freiheit“ geht. Dabei ist diese „Freiheit“ nur das freundliche Antlitz der kapitalistischen Klassenherrschaft im Westen und der imperialistischen Vorherrschaft des Westens über den Rest der Welt.
Diese Zweischneidigkeit zeigt sich auch daran, dass man zur Empathie verpflichtet wird. So hat Gregor Gysi Sahra Wagenknecht ihre Empathielosigkeit vorgeworfen. Wem man keine Empathie ansieht, der wird als empathielos verurteilt. Die Empathie wird damit aber eine zur Schau gestellte Betroffenheit, die wiederum etwas anderes bedeutet, nämlich, dass die Europäer*innen sich wechselseitig ihrer Sensibilität und ihres moralischen Edelmuts versichern. Wer moralisch integer ist, der spürt Empathie – was tatsächlich heißt: der stellt Empathie öffentlich aus, gleich, was daraus folgt und wem sie wirklich hilft, und gleich, ob er sie wirklich spürt oder nicht.
Solidarität heißt Waffenlieferungen
Den militärischen Beistand hat die europäische Öffentlichkeit lange mit Nachdruck gefordert, bevor die Regierungen ihn in substanziellem Ausmaß beschlossen haben. Nun kann man mit vielen guten Argumenten gegen den militärischen Beistand sein, da er unter anderem die Gefahr eines Atomkriegs steigert. Doch diesen Argumenten wird mit Fragen begegnet: Du bist gegen Waffenlieferungen? Willst du also den Menschen nicht helfen? Willst du die Leute in der Ukraine sterben lassen? Soll es Schule machen, dass man sein Nachbarland überfallen kann, wenn einem die dortige Regierung nicht gefällt?
Es sind rhetorische Fragen, die keine Alternative zulassen. Man kann ja nicht antworten: Ja, ich will, dass die Leute sterben. Diese Fragen lassen nur eine einzige Antwort zu und sind daher vorweg schon entschieden: Solidarität heißt, Waffen zu liefern, eine Flugverbotszone einzurichten und die Ukraine in EU und NATO aufzunehmen. Die Ideologie setzt Solidarität also mit militärischem Beistand gleich und duldet keine Alternativen dazu.
Was aber, wenn die Waffenlieferungen gar keine Menschenleben retten, sondern nur das ukrainische Militär dazu befähigen, die militärische Auseinandersetzung gegen die russische Übermacht in die Länge zu ziehen? Um der Unabhängigkeit der ukrainischen Nation willen – eines ideologischen Konstrukts – und um der Souveränität des ukrainischen Staats willen – eines seit 2014 Krieg führenden, repressiven Herrschaftsapparats mit einer rechtsliberalen und sich offen faschistischer Kräfte bedienenden Regierung – ist diese merkwürdige Solidarität bereit, zig Menschenleben zu opfern. Man kann, wenn man eine Beziehung zu Waffenlieferungen an progressive Akteure herstellt – wie an die kurdische Autonomiebewegung – diskutieren, ob es staatsunabhängige Milizen gibt, an die Waffenlieferungen gehen, oder, inwieweit gezielte Waffenlieferungen an bestimmte gesellschaftliche Gruppen Leben oder Infrastruktur schützen könnten, auch, inwiefern unter gegenwärtigen Bedingungen solche Lieferungen am ukrainischen Staat vorbei überhaupt möglich sind. Aber um solche Feinheiten geht es dieser ideologischen Solidarität gar nicht, eben weil es ihr um Staat und Nation geht. Wer gegen den militärischen Beistand ist, dem wird sogleich vorgeworfen, ein Helfershelfer Putins zu sein und den Krieg mit zu ermöglichen.
„Durch nichts zu rechtfertigen“
Russland sei nämlich auf Gedeih und Verderb zu verurteilen. Nicht für den Angriff, sondern überhaupt. Das wird seither auf breiter Ebene praktisch durch Beziehungsabbrüche und Russenhass auch getan. Eine Vielzahl von Konzernen und zivilgesellschaftlichen Institutionen hat ihre Kooperationen mit russischen Akteuren abgebrochen. Aus der Bevölkerung heraus werden Russ*innen körperlich angegriffen, russische Waren boykottiert, die Behandlung russischer Patient*innen abgelehnt. Unternehmen, Zivilgesellschaft und Bevölkerung werden hier also kollektiv politisch aktiv und meinen, so an den Sanktionen gegen Russland teilzunehmen. Dass sich diese „Sanktionen“ gar nicht gegen den russischen Staat richten, sondern die russische Gesellschaft treffen, die man andererseits als „russisches Volk im Widerstand gegen den Autokraten Putin“ glorifiziert, dieser Widerspruch kümmert da nicht weiter. Was diese „Sanktionen“ daher tatsächlich vollbringen können, sind eher antiwestliche Ressentiments in Russland und ein Zusammenrücken des „Volkes“ mit der Staatsführung als ein Einlenken derselben in der Kriegsfrage.
Weil der Abbruch solcher Kooperationen offensichtlich kaum eine solche Wirkung auf die Kriegsfrage zeitigen wird, kann diese nur ein vordergründiges Motiv darstellen. Eigentlich geht es um Moral: Es gehört sich nun mal nicht, bei Russen zu kaufen oder mit Russen zu tun zu haben. Die Wucht dieser Moral bekommt zurzeit auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder zu spüren. Man muss diesen Menschen, der den ersten Krieg der Bundeswehr und Hartz IV zu verantworten hat, nicht mögen. Aber es lag sicher nicht in seiner Absicht, dass Russland in der Ukraine einmarschiert. Eigentlich geht es in der Kampagne gegen ihn (unter anderem ein mittlerweile angestrengtes Parteiordnungsverfahren) um Kontaktschuld: Gerhard Schröder gehört zu den Bösen, weil er mit ihnen befreundet ist. Dass Millionen deutsche Haushalte weiterhin mit russischem Gas heizen, scheint da nicht weiter aufzufallen.
Versucht man, Russland nicht einfach zu verurteilen, sondern sein Handeln aus seinen Interessen heraus zu erklären – und verweist dabei auch auf das vorherige Handeln der NATO, durch das sich Russland bedroht sah –, so wird man als „Putin-Versteher“ zur Rechenschaft gezogen. Man rechtfertige Putins „durch nichts zu rechtfertigenden“ Angriffskrieg. Das Anliegen, in friedenspolitischer Absicht nach einer Erklärung zu suchen, wird nicht als Erklärung, sondern als Rechtfertigung wahrgenommen – und damit als unverzeihlicher moralischer Lapsus.
Warum kann diese Erklärung nur durch die moralische Brille wahrgenommen werden? Weil in ihr das Handeln der NATO zu den Vorbedingungen des russischen Angriffs gerechnet wird. Doch die NATO ist innerhalb der aktuellen Ideologie per definitionem das Verteidigungsbündnis der freien Welt. Sie habe in ihr keine imperialistischen Interessen, sondern verteidige die Menschenrechte und die Freiheit. „Die NATO hat Putin nie bedroht“, sagte Friedrich Merz im Bundestag. Es ist der Kern „unserer“ kollektiven Identität, dass der Westen und damit die NATO eben nicht imperialistisch, sondern nur im Namen der Freiheit und des Friedens agiere. Ausgerechnet den Linken und den friedenspolitisch Aktiven wird hier die Mitschuld für den Krieg aufgeladen, und nicht denjenigen Hetzern im Westen, die die NATO unbedingt bis auf die Ukraine ausdehnen wollen und schon seit Monaten gegen Russland ideologisch mobil gemacht haben.
Ein neuer Burgfrieden?
Empathie und Solidarität wurden nach Kriegsbeginn nicht nur mit ihrem Gegenteil aufgeladen, sondern bald auch tatsächlich etwas anderes, nämlich ein Instrument für die ideologische Mobilisierung für die Aufrüstung Deutschlands und die Einstimmung auf mögliche zukünftige Kriege der NATO mit Russland. Am 27. Februar, nur drei Tage nach dem Angriff, hatte die Bundesregierung die erhebliche Aufrüstung der Bundeswehr beschlossen, durch die sie das drittstärkste Militär der Welt werden wird.
Es sind wieder rhetorische Fragen, durch die das alles legitimiert wurde: Du willst der Ukraine wirksam helfen? Also musst du sie militärisch supporten. Das können wir im Augenblick aber nicht. Du willst Deutschland und die Freiheit in Deutschland verteidigen? Auch das können wir nicht. Also müssen wir uns wehrfähig machen und aufrüsten.
Unmittelbar nach Kriegsbeginn hat sich in Deutschland ein politischer Wille entwickelt, der durch alle politischen Lager (außer vielleicht der Linkspartei) hindurchging und die Parteien sofort über ihre politischen Differenzen hinwegsehen ließ. Die größte Oppositionspartei CDU hat sofort erklärt, die Regierung bei dem gigantischen Aufrüstungsprogramm von 100 Mrd. €, einem zusätzlichen militärischen Sonderetat, zu unterstützen. Ihr Vorsitzender Friedrich Merz erklärte, er werde da „nicht im Kleinen herummäkeln“.
Das erinnert unselig an Kaiser Wilhelms II. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es ist in gewisser Hinsicht ein solcher politischer Burgfrieden. Allerdings stimmt die historische Analogie nur ungefähr: Der Burgfrieden betraf damals ja vor allem die SPD in der Opposition, die zuvor internationalistisch und auf Überwindung des Kapitalismus und damit auch der kaiserlichen Herrschaft ausgerichtet war. Von der CDU war dagegen eher nicht zu erwarten, dass sie sich gegen Aufrüstung einsetzen werde. Darüber hinaus ging es beim Burgfrieden um den Kriegspatriotismus Deutschlands, in der jetzigen Ideologie geht es um den militärischen Beitrag der europäischen Staaten zur NATO, sie ähnelt daher eher der Ideologie des Kalten Kriegs und der Ideologie des „Clash of Civilizations“ zwischen Islam und Abendland: hier die moralisch erhabene freie Welt, dort der dämonische Widersacher Russland.
Doch gerade diese Aufrüstung dreht an der Rüstungsspirale und steigert die Kriegsgefahr ungemein; sie ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Hochkonjunktur der prowestlichen Ideologie liefert dieser brandgefährlichen Politik eine von rechts bis links reichende lärmende Massenbasis. Auch wenn dieses Spektakel so laut tönt, so dicht ist, dass mäßigende, warnende Stimmen gegen den Krieg schon jetzt nur mehr schwer dagegen ankommen, ist nichts wichtiger, als sich antimilitaristisch und revolutionär zu organisieren, um das trotzdem zu schaffen!