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Die politische Krise des Neoliberalismus

Der folgende Beitrag ist ein Auszug aus dem 2018 bei Kersplebedeb erschienen Buch The Global Perspective – Reflections on Imperialism and Resistance von Torkil Lauesen. Es beschäftigt sich mit der Entwicklungsgeschichte des globalen Kapitalismus/Imperialismus, speziellen Formen der internationalen Ausbeutung, der daraus resultierenden ungleichen Entwicklung und der Frage, wie der Widerstand dagegen aussehen könnte.

Der Beitrag selbst beschäftigt sich mit der aktuellen Strukturkrise des globalen Kapitalismus, seiner Vorgeschichte und der fehlenden Alternativen des Systems zu seiner eigenen Rettung.

Der Ausschnitt wurde von Vidar Lindstrøm aus dem Englischen übersetzt und mit freundlicher Genehmigung des Autors hier veröffentlicht.


In den 1980er und 90er Jahren brachte der Neoliberalismus dem Kapital Profite und der Arbeiterklasse im Globalen Norden billige Waren. Er wurde von den traditionellen Parteien der Arbeiterklasse unterstützt. Tony Blair und New Labour waren ein Vorbild für die sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa. In Nordamerika, Westeuropa und Japan herrschte ein breiter politischer Konsens, der in Institutionen und Abkommen wie der EU, der WTO, der NAFTA usw. zum Ausdruck kam. Der Aufstieg des Neoliberalismus fand mit der Finanzkrise von 2007 ein jähes Ende. Er verlor nicht nur seinen Schwung, sondern stieß auch auf Widerstand in Form von nationalistischen Bewegungen im Globalen Norden.

Drei Jahrzehnte des Outsourcings und der Privatisierung wirkten sich schließlich auf die Löhne im Globalen Norden aus, und der Konsum stieg nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor. Die niedrigen Löhne im Globalen Süden reichten nicht aus, um die Gewinneinbußen zu kompensieren. Da es an produktiven Investitionsmöglichkeiten mangelte, wurde verstärkt in Aktien, Devisen, Land und Immobilien investiert. Dies ließ die Gewinne zunächst in die Höhe schnellen. Der sogenannte Kasinokapitalismus wuchs exponentiell auf Kosten des produktiven Kapitalismus, doch das Finanzkapital schuf eine Blase, die mit dem Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes platzte und die Banken mit sich riss.

Die ersten Opfer der Krise waren die am wenigsten flexiblen Arbeiter in der industriellen Produktion, aber bald bekam auch die Mittelschicht die Auswirkungen zu spüren. Das neoliberale Märchen, das sogar von sozialdemokratischen Befürwortern unterstützt wurde, nahm plötzlich eine böse Wendung. Die Möglichkeiten des Staates waren begrenzt, da seine Macht durch die globale neoliberale Elite untergraben worden war. Die traditionellen, in den Staat integrierten Arbeiterorganisationen waren ebenfalls nicht in der Lage, auf die Situation zu reagieren.

In den 1970er Jahren wurde noch von der Regulierung des transnationalen Kapitals gesprochen. Als die Krise 2007 ausbrach, versuchten alle, auch die Sozialdemokraten, das Kapital anzulocken, indem sie möglichst wenig Regulierung versprachen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Sozialdemokratie nicht mehr als politische Kraft gesehen wird, die sich dem Kapital entgegenstellt. Dies ist einer der Gründe, warum sich viele Menschen im Globalen Norden, die sich vom Neoliberalismus bedroht fühlen, an die politische Rechte wenden. Für sie liegt die Antwort auf die Probleme des Neoliberalismus in der Loyalität gegenüber der Nation und der Verteidigung eines national definierten Sozialstaats.

Wenn die Menschen den Verlust ihrer Privilegien fürchten, wenden sie sich oft der Rechten zu. Die Krise von 2007 hat dies bestätigt. Die Tea-Party-Bewegung in den USA und rechtspopulistische Parteien in Europa nutzten die Gelegenheit mit nostalgischen Appellen an eine Ära der nationalen Souveränität, in der die fatalen Folgen des Neoliberalismus nicht hätten eintreten können: die Auslagerung von Arbeitsplätzen, die Verschlechterung der Lebensbedingungen, der Abbau des Sozialstaats und die Ankunft von viel zu vielen Ausländern.

Dadurch geriet das politische System stark unter Druck. Die parlamentarische Politik war ein wichtiges Instrument im Rahmen der Vereinbarung über die Teilung der Macht zwischen dem Kapital und der Arbeiterklasse, die die Politik in den Ländern des globalen Nordens seit mehr als einem Jahrhundert kennzeichnet. Wenn innerhalb dieses Systems Forderungen erhoben werden, denen die herrschenden Parteien unmöglich nachgeben können – beispielsweise die Wiederherstellung der Kontrolle über die Wirtschaft –, gerät auch dieses in eine Krise mit ungewissem Ausgang. Die traditionellen Parteien aller Couleur – sowohl die konservativen als auch die sozialdemokratischen – suchen verzweifelt nach Möglichkeiten, die Kluft zwischen den Forderungen des Neoliberalismus und dem Aufkommen des Nationalismus zu überbrücken. Bislang waren sie nicht sehr erfolgreich. Das Brexit-Referendum und der überraschende Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen zeigen, wie tief die neoliberale Krise geworden ist.

Wir müssen uns über den Rechtspopulismus im Klaren sein: Sein Widerstand gegen die neoliberale Ordnung ist nicht antikapitalistisch. Der moderne Nationalstaat ist selbst ein Produkt des Kapitalismus. Doch als dem Kapital die Grenzen des Nationalstaates zu eng wurden, entschied es sich für transnationale Organisationen wie die EU. Der Rechtspopulismus stellt den Kapitalismus nicht infrage, aber er stürzt das Kapital in einen Zustand der Verwirrung.

„Amerika zuerst“, sagt Donald Trump, „Großbritannien zuerst“, sagen die Befürworter des Brexits, „Frankreich zuerst“, sagt Marine Le Pen, „Russland zuerst“, sagt Wladimir Putin. In den letzten vierzig Jahren wurde der Imperialismus, getreu den Grundsätzen des Neoliberalismus, hauptsächlich von den Kräften des Marktes angetrieben, doch angesichts der starken Betonung der nationalen Souveränität könnten wir eine Rückkehr zum staatlich gelenkten Imperialismus erleben. In naher Zukunft könnten einzelne Staaten wieder um die imperialistische Vorherrschaft wetteifern.

Es gibt natürlich einen Unterschied zwischen kleineren und größeren Ländern. Die Volkswirtschaften der meisten kleinen Länder sind in hohem Maße von der Globalisierung abhängig geworden. Eine Rückkehr zum staatlich gelenkten Imperialismus würde ihre Rolle in den internationalen Beziehungen sicherlich schwächen. Der staatlich gelenkte Imperialismus ist auch eine viel weniger effektive und viel riskantere Form des Imperialismus. Für Rechtspopulisten wird es sehr schwierig sein, den alten Nationalstaat wiederherzustellen; die Industrie wird nicht in den Globalen Norden zurückkehren, Zollschranken werden nur die Preise auf dem heimischen Markt erhöhen, die Rückkehr zum keynesianischen Wohlfahrtskapitalismus ist ein Ding der Unmöglichkeit – und doch stellt allein die Sehnsucht danach ein Problem für den Neoliberalismus dar.

Einige Fraktionen des Kapitals bereiten sich bereits auf mehr Protektionismus vor. Der Vorstandsvorsitzende von General Electric, Jeff Immelt, hat in einer Rede im Mai 2016 angedeutet, wie sich das Kapital auf die kommenden politischen Herausforderungen vorbereitet:

Als ich 1982 zu GE kam, waren 80 Prozent unseres Umsatzes in den USA; in diesem Jahr werden 70 Prozent unseres Umsatzes global sein. … [G]lobalisierung wird angegriffen wie nie zuvor. Das gilt nicht nur für die USA, sondern überall. … Die Zukunft der EU ist eine offene Frage. In Asien und Afrika nehmen die protektionistischen Schranken zu. China richtet seine Wirtschaft neu aus, um nachhaltiger und integrativer zu werden.

Die Globalisierung wird für Arbeitslosigkeit und Lohnungleichheit verantwortlich gemacht. … Jedes Land will mehr Arbeitsplätze und wird seinen eigenen Vorteil suchen. … Die Globalisierung, mit der ich aufgewachsen bin, und die auf Handel und globaler Integration basiert, verändert sich also. Mit der Globalisierung ist es Zeit für einen mutigen Schwenk. GE macht 80 Milliarden Dollar Umsatz außerhalb der USA, daher ist globales Wachstum für unseren Erfolg entscheidend. Angesichts eines protektionistischen globalen Umfelds müssen sich die Unternehmen in der Welt selbst zurechtfinden. Wir müssen die Wettbewerbsbedingungen ausgleichen, ohne dass die Regierung eingreift. Dies erfordert einen dramatischen Wandel.

Wir werden uns lokalisieren. In Zukunft wird nachhaltiges Wachstum eine lokale Fähigkeit innerhalb einer globalen Präsenz erfordern. GE hat 420 Fabriken auf der ganzen Welt, was uns eine enorme Flexibilität verleiht. Früher hatten wir einen Standort für die Herstellung von Lokomotiven, heute haben wir mehrere globale Standorte, die uns den Zugang zum Markt ermöglichen. Eine Lokalisierungsstrategie lässt sich nicht durch protektionistische Politik aushebeln. … Unser Ziel ist es, zu produzieren, was wir wollen und wo wir wollen. … Durch diese mutigen Maßnahmen … bin ich zuversichtlich, dass wir weiter wachsen können. Unser weltweiter Umsatz hat sich seit 2000 versechsfacht, und wir wollen, dass das so weitergeht.“1

Die globale Situation ist komplex und instabil. Die wirtschaftliche Macht liegt bei der globalisierten Produktion und einem Finanzsektor, dessen Legitimität infrage gestellt ist. Die politische Ordnung ist bedroht. Die führende Rolle der Triade zeigt Auflösungserscheinungen. Russland ist bestrebt, wieder ein globaler Akteur zu sein, und China hat sich sowohl zu einem wirtschaftlichen als auch zu einem politischen Schwergewicht entwickelt. Unterdessen werden sich die neuen Proletarier des Globalen Südens zunehmend ihrer eigenen Macht bewusst. Die Regime dort, die sich als unfähig erwiesen haben, ihre politische Unabhängigkeit in wirtschaftliche Souveränität umzuwandeln, haben die Unterstützung der Bevölkerung verloren und verlassen sich zunehmend auf autoritäre Maßnahmen, um an der Macht zu bleiben. Die kommenden Jahre werden nichts weniger als dramatisch sein.

Eine kommende Revolution?

Wir haben über das Problem der Überproduktion im Kapitalismus gesprochen. Historisch gesehen hat der Kapitalismus dieses Problem durch Expansion gelöst. Die Schaffung neuer Proletarier im Globalen Süden war das letzte große Beispiel dafür. Doch eine solche Expansion polarisiert. Versprechungen, dass der Kapitalismus es den Armen ermöglichen werde, zu den Reichen aufzuschließen, sind reine Propaganda. Die Polarisierung der Welt ist ein Produkt des Kapitalismus, und sie wird nicht verschwinden, bevor der Kapitalismus verschwindet. Sie wird auf unterschiedliche Weise aufrechterhalten, je nach Zeit und Ort. Es gibt immer noch die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, d. h. Raub und Plünderung in Reinkultur. Es gibt den Kapitalexport und die Rückführung von Superprofiten. Es gibt den ungleichen Tausch. Und es gibt die Preisbildung in den globalen Produktionsketten. Ein Mechanismus ersetzt nicht den anderen, sie existieren alle gleichzeitig; neue Mechanismen erweitern lediglich die Bandbreite der Ausbeutung.

Wie andere Systeme in der Geschichte hatte auch der Kapitalismus einen Anfang und wird ein Ende haben. Gegenwärtig befindet er sich in einer tiefen strukturellen Krise.2 Eine normale Rezession ist durch eine U-Kurve gekennzeichnet: Nach dem anfänglichen Rückgang wird die Wirtschaft angepasst und es kommt zu einem Aufschwung. Eine Strukturkrise ist schwerwiegender: Ihre Überwindung verlangt eine viel tiefgreifendere Umgestaltung des Systems. Dies erfordert eine breite Unterstützung durch die Bevölkerung. Wenn es nicht gelingt, die wichtigsten Bevölkerungsschichten zu gewinnen, kann die Krise nicht überwunden werden. Die Schwere der gegenwärtigen Krise zeigt sich daran, dass sie, im Gegensatz zur Krise der 1970er Jahre, nicht durch politischen Druck von unten verursacht wurde. Die Krise ist entstanden, weil die Art und Weise, wie das System Kapital akkumuliert, in eine Sackgasse geraten ist. Es wird für das Kapital schwierig sein, in den kommenden Jahrzehnten eine wachsende Profitrate aufrechtzuerhalten. Erinnern wir uns an die drei Hauptfaktoren, die die Profitrate beeinflussen: Löhne, externe Faktoren und Steuern.

Löhne: Je niedriger der Lohn, desto höher die Profitrate. Eines der wichtigsten Instrumente des Kapitals, um die Löhne niedrig zu halten, ist die Schaffung von Wettbewerb unter den Arbeitern, sowohl auf individueller als auch auf internationaler Ebene. In einem Wirtschaftsboom kann das Kapital Kompromisse mit der Arbeiterklasse eingehen und die Löhne erhöhen, um Unruhen auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden. In einer Wirtschaftskrise müssen die Löhne gesenkt werden. Um dem Druck zu entgehen, die Löhne in den imperialistischen Ländern ständig zu erhöhen, hat das Kapital seine Produktion teilweise in den Globalen Süden verlagert. Doch seit der Finanzkrise von 2007 bringt dies nicht mehr die Gewinne, die dies zu Beginn erzielte. Ein Grund dafür ist die Konkurrenz zwischen verschiedenen Fraktionen des Kapitals. Heute haben alle Unternehmen ihre Produktion in den Süden verlagert, so dass keine von ihnen mehr einen Wettbewerbsvorteil hat. Ein weiterer Grund ist die zunehmende Unruhe auf dem Arbeitsmarkt des Globalen Südens. Die neuen Proletarier wollen auch höhere Löhne. Die Konzentration der Arbeiter in den Fabriken wird zu politischer Organisierung und Forderungen nach Gewerkschaften führen, egal wie sehr das Kapital und seine politischen Verbündeten versuchen, dies zu verhindern. Dass die Löhne steigen, ist bereits offensichtlich: 2005 lag der Durchschnittslohn eines Industriearbeiters in China bei 0,75 US-Dollar pro Stunde, 2011 waren es 2,25 US-Dollar.3 Das Kapital kann dies nicht durch Lohnkürzungen im Globalen Norden kompensieren. Die Arbeiter in den imperialistischen Ländern würden das nicht kampflos hinnehmen.

Externe Faktoren: Externe Faktoren sind die mit der Produktion verbundenen Kosten, die das Kapital anderen aufbürdet. Industrieabfälle gelangen seit Jahrhunderten in die Erde, ins Wasser und in die Luft. Heute ist dies zu einem ernsten Problem geworden. Die Verschmutzung hat Folgen für unsere Gesundheit. Der Klimawandel verursacht Naturkatastrophen. Im Globalen Norden war das Kapital manchmal gezwungen, die Verantwortung für die ökologischen Folgen der Produktion zu übernehmen und die damit verbundenen Kosten zu zahlen, anstatt die Rechnung auf die Steuerzahler abzuwälzen. Im Globalen Süden hingegen sind die ökologischen Anforderungen an das Kapital nach wie vor deutlich geringer. Das wird aber nicht ewig so bleiben: Weder die Bevölkerung des Globalen Südens noch ihre politischen Führer können das Problem noch lange vernachlässigen. Außerdem kennt die Umweltzerstörung keine Grenzen. Der Klimawandel, die Verschmutzung der Meere usw. sind globale Probleme.

Steuern: Als im Globalen Süden steuerfreie Produktionszonen eingerichtet wurden, konnte das Kapital die relativ hohen Steuern vermeiden, die es im Globalen Norden zu zahlen hatte. Die erhöhte Mobilität des Kapitals half diesem auch, Steuern (auf mehr oder weniger legale Weise) zu vermeiden. Doch diese Art der Steuervermeidung neigt sich dem Ende zu. Der Staat hat steigende Kosten für Sicherheit, Wohlfahrt und Verwaltung. Auch das Wettrüsten geht weiter. Das Ende des Kalten Krieges hat nicht zu einer Friedensdividende geführt. In Bezug auf das US-Militär hat Anthony Cordesman geschrieben: „Wenn die bisherigen Kosten der Kriege in Afghanistan und im Irak/Syrien in konstanten Dollars ausgewiesen werden, selbst die vergleichsweise niedrige Schätzung von 2 Billionen Dollar bis 2018 diese Kriege … mehr als fünfmal teurer machen würde als den Ersten Weltkrieg, … mehr als fünfmal teurer als den Koreakrieg, … fast 2,5-mal teurer als den Vietnamkrieg … [und] mehr als 18-mal teurer als den ersten Golfkrieg 1991“.4 Das Ausmaß der Situation zeigt sich daran, dass die einzige Supermacht der Welt, die USA, Probleme hat, ihre Kriege zu finanzieren. Die Kriege im Irak beispielsweise wurden hauptsächlich von Kuwait und Saudi Arabien bezahlt. Trotz des Abbaus des Sozialstaats steigen im Globalen Norden die staatlichen Kosten für die Wohlfahrt. Dies betrifft alle Bereiche, von der Bildung über das Gesundheitswesen bis hin zur Altenpflege und das Rentensystem – Leistungen, für die die Menschen hart gekämpft haben und die nur unter großen politischen Risiken aufgegeben werden können. In den 1960er Jahren glaubten die Staatsbeamten, dass die Kosten für den Sozialstaat sinken würden, da beispielsweise die Investitionen in die öffentliche Gesundheit dazu führen würden, dass die Menschen weniger krank werden – aber neue Technologien, neue Behandlungen und neue Medikamente haben dennoch zu einem Anstieg der Kosten geführt. Im Jahr 2016 war das öffentliche Nettokapital in den USA, Japan und Großbritannien negativ. In Frankreich und Deutschland war es positiv, aber nur knapp. Die Erklärung dafür ist, dass diejenigen, die den größten Nutzen aus dem Neoliberalismus ziehen, die transnationalen Konzerne, keinen nennenswerten Beitrag zu den Staatshaushalten leisten. Wenn aber die Steuern erhöht werden, steht das Kapital gleich vor zwei Problemen: Es muss nicht nur höhere Unternehmenssteuern zahlen, sondern eine höhere Einkommenssteuer führt auch zu Forderungen nach höheren Löhnen. Jedes einzelne Land des Globalen Nordens hat Probleme mit steigenden Haushaltsdefiziten und Staatsschulden. Die Verschuldung hat das Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren deutlich übertroffen und ist von durchschnittlich 200 Prozent des BIP im Jahr 2002 auf 225 Prozent im Jahr 2015 angestiegen.5

Wir sehen nun, warum es unwahrscheinlich ist, dass das globale Kapital weiterhin genug Mehrwert generieren wird, um seine Gewinne zu sichern. Es wird dies versuchen, aber dadurch wäre es gezwungen, seinen Kompromiss mit den ehemals gefährlichen Klassen aufzugeben. Auch die Umweltprobleme werden sich beschleunigen. Es ist unwahrscheinlich, dass die derzeitige Strukturkrise überwunden wird. Die nächsten Jahrzehnte werden von starken wirtschaftlichen Schwankungen, Depressionen und sozialen Konflikten geprägt sein.

Das Ende des Kapitalismus wurde schon oft vorhergesagt. Es wurde in den 1870er Jahren, in den 1930er Jahren und in den 1970er Jahren angekündigt, aber bisher ist der Kapitalismus immer wieder auf die Beine gekommen. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Könnte zum Beispiel im Süden nicht eine neue Arbeiteraristokratie entstehen und den neuen Markt schaffen, den der Kapitalismus so dringend braucht? Teile der Arbeiterklasse und der Mittelschicht, sowohl in der Industrie als auch im Management, nehmen im Globalen Süden zwar privilegierte Positionen ein, aber ihre Löhne betragen nur einen Bruchteil der im Globalen Norden gezahlten. Zusammen mit anderen im Globalen Süden werden sie eine globale Umverteilung des Reichtums fordern. Wie wir gesehen haben, sind die Löhne der chinesischen Industriearbeiter in den letzten Jahren gestiegen. Dies stand in direktem Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2007. Chinas Exporte gingen zurück und die chinesische Regierung musste den Inlandsmarkt stimulieren. Dies schadete dem transnationalen und dem chinesischen Kapital, aber die Kommunistische Partei Chinas räumt der Stärke der Nationalökonomie Vorrang vor den Interessen des Kapitals ein. In den meisten anderen Ländern des Globalen Südens stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar. Es ist schwierig, politische Entscheidungen zu treffen, die sich den Forderungen des Neoliberalismus widersetzen. Außerdem würde eine allgemeine Lohnerhöhung im Globalen Süden zwar wahrscheinlich neue Märkte schaffen, aber Märkte und Profite im Globalen Norden beeinträchtigen und die für die fortgesetzte Akkumulation notwendige globale Arbeitsarbitrage gefährden.

Eine weitere Möglichkeit für das Kapital, die Krise zu überwinden, besteht darin, eine neue Welle der Proletarisierung zu entfesseln. Das hat in den letzten zweihundert Jahren sehr gut funktioniert. Das Problem ist, dass dies nicht mehr funktioniert, wenn es niemanden mehr gibt, der proletarisiert werden kann. Zwar gibt es immer noch Bauern, aber ihre Zahl ist geschrumpft.6 Die größte Quelle für neue Proletarier, China, wird bald die gesamte Nation proletarisiert haben. Die verbleibenden Randregionen in Asien und Afrika verfügen nicht über den starken Staatsapparat, die politische Stabilität oder die Bevölkerungsgröße, die für eine weitere bedeutende Welle der Proletarisierung erforderlich sind.

Die Behauptung, dass steigende Löhne im Süden das Fortbestehen des Kapitalismus als globales System sichern und dass China gerade die USA als Hegemonialmacht ablöst, übersieht den grundlegenden Widerspruch der kapitalistischen Akkumulation. Man kann nicht beides haben: einerseits niedrige Löhne, die Profite generieren, und andererseits einen florierenden Markt, der sicherstellt, dass diese Profite durch Verkäufe realisiert werden können. Der Kapitalismus kann seinen eigenen Markt nicht vollständig versorgen, er benötigt einen zusätzlichen Input an Wert von außen, um reibungslos zu funktionieren. Das kapitalistische China wird mit demselben Widerspruch konfrontiert sein, den Europa und Nordamerika durch imperialistische Ausbeutung gelöst haben, aber es verfügt über keine Peripherie, die es ausbeuten kann, um dem Problem zu entgehen. China wird den Zerfall des kapitalistischen Systems als Ganzes nicht verhindern können. Das Beste, was es tun kann, ist zu versuchen, seinen Platz in einem zukünftigen Weltsystem zu sichern, indem es einen sozialistischen Weg einschlägt.

Eine weitere Möglichkeit wäre die Verlagerung der landwirtschaftlichen Produktion aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden, ähnlich der Verlagerung der industriellen Produktion. Die niedrigen Preise für Land und Arbeit im Agrarsektor des Globalen Südens könnten eine Quelle für gewinnbringende Investitionen sein. Wir haben bereits massive Landkäufe in Indien, Brasilien und verschiedenen afrikanischen Ländern erlebt. Eine massive Umstellung der landwirtschaftlichen Produktion würde jedoch auch massive politische Probleme verursachen. Sie würde sowohl im Globalen Norden als auch im Globalen Süden auf heftigen Widerstand stoßen. Im Süden gibt es bereits Millionen von landlosen Bauern, von denen viele in die Slums der Großstädte abwandern. Im Norden haben die Agrarlobbys erheblichen politischen Einfluss; sie würden die Abschaffung des Agrarsektors nicht akzeptieren. Schwere politische Auseinandersetzungen wären unausweichlich.

Der Neoliberalismus war notwendig, um den Kapitalismus zu retten, als dieser sowohl durch die Befreiungskämpfe im Globalen Süden als auch durch Forderungen nach höheren Löhnen im Globalen Norden unter Druck geriet. Der Triumph des Neoliberalismus bedeutete auch eine enorme Niederlage für die globale Linke, einschließlich ihres reformistischen Lagers. Jede Hoffnung, das System von innen heraus zu verändern, starb. Niemand wagte mehr, die Legitimität des kapitalistischen Systems infrage zu stellen. Wie der klassische Liberalismus ist auch der Neoliberalismus ein Lippenbekenntnis zur Gleichheit vor dem Gesetz und auf dem Markt. Theoretisch soll jeder die gleichen Chancen auf Erfolg haben. Unterdessen nimmt die Ungleichheit zu. Es stimmt einfach nicht, dass jeder reich werden kann, wenn er nur mit seinem inneren Kapitalisten in Kontakt kommt und sein Geld investiert. Genau das haben Millionen von Kleinsparern getan, bevor sie in der Krise von 2007 ihre Häuser, Renten und Aktien verloren haben. Es stimmt auch nicht, dass es immer einen Trickle-down-Effekt gibt, wenn die Reichen noch reicher werden. Das war in der neoliberalen Ära nicht der Fall. Es überrascht nicht, dass es weltweit zu Massenprotesten gegen den Neoliberalismus gekommen ist, insbesondere in Lateinamerika, aber auch in China, Indien und Südafrika. Selbst in europäischen Ländern wie Griechenland und Spanien ist der Neoliberalismus heute weitgehend diskreditiert.

Auch in Nordafrika und dem Nahen Osten steht der Neoliberalismus unter Beschuss. Bis in die 1970er Jahre gaben die nationalistischen Regime in dieser Region den Menschen Grund zum Optimismus. Eine bessere Zukunft mit besseren Lebensbedingungen schien vor ihnen zu liegen. Doch mit dem Neoliberalismus wurden die Regime zunehmend korrupt und verloren die Unterstützung der Bevölkerung. Vetternwirtschaft wurde zum wichtigsten Prinzip des Regierens. Religiöse Bewegungen wurden zur neuen Opposition und versprachen ein besseres Leben im Hier und Jetzt sowie im Jenseits. Die ständigen politischen Unruhen beweisen, dass es ein revolutionäres Potenzial gibt, aber die Linke ist kaum präsent. Unterdessen nutzen die NATO-Mitgliedstaaten die Unruhen, um Rechnungen mit alten Feinden zu begleichen. Die Region ist gespalten in Kräfte, die sich gegen die imperialistischen Länder stellen, und solche, die mit ihnen verbündet sind. Fundamentalistische religiöse Bewegungen wie ISIS lehnen jeglichen westlichen Einfluss ab. Liberale, pro-westliche Kreise wollen das europäische Modell nachahmen, aber sie haben keine Verbindung zu den Massen, die sehr wohl wissen, dass sie dadurch arm werden würden. Die progressiven kurdischen Kräfte haben einen gewissen Einfluss, laufen aber Gefahr, zum Spielball des Imperialismus zu werden, indem sich die Großmächte an einem Tag mit ihnen verbünden, um sie am nächsten Tag zu opfern. Viele Menschen haben das politische Chaos satt und sehen ihre einzige Chance auf eine bessere Zukunft darin, nach Europa auszuwandern – wo sie nicht willkommen sind. Die sozialen, politischen, ethnischen und religiösen Spannungen geraten immer mehr außer Kontrolle. Der Ausgang ist ungewiss.

Eine dreifache Krise

Es scheint, dass wir uns auf dem Weg zu einer dreifachen Krise befinden, einer ökonomischen, ökologischen und politischen.

Ökonomisch, weil die Arbeiterklassen des globalen Südens höhere Löhne fordern werden, während dem Kapitalismus die neuen Peripherien ausgehen. Die sinkende Profitrate des produktiven Kapitals wird die Investitionen und damit die Akkumulation bremsen.

Ökologisch, weil jede glaubwürdige wissenschaftliche Studie uns sagt, dass wir auf eine Katastrophe in Form von Naturkatastrophen, Dürren und schrumpfenden Ernten zusteuern. Der Norden hat einen Großteil seiner industriellen Produktion in den Süden verlagert, aber niemand wird den ökologischen und klimatischen Folgen entgehen.

Politisch, weil die Krise die wichtigsten politischen Akteure des Nordens in Unordnung bringt. Sowohl das Kapital als auch die Arbeiterklasse sind in ihren Versuchen, das System zu retten, gespalten. Es gibt Fraktionen des Kapitals, die mit der neoliberalen Globalisierung weitermachen und alles ändern wollen, damit alles beim Alten bleibt. Andere Fraktionen wollen zu einer nationalstaatlichen Form der Kapitalakkumulation, zu autoritärer Herrschaft und Krieg zurückkehren, um sich den Löwenanteil an der globalen Beute zu sichern. Und dann gibt es noch jene Fraktionen, die die Produktion ganz aufgegeben haben und sich ausschließlich auf die Finanzspekulation konzentrieren. In der Arbeiterklasse gibt es Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Es überrascht nicht, dass ihre Reaktionen auf die Krise unterschiedlich ausfallen, und es gibt eine starke Polarisierung zwischen national orientierten und klassenorientierten Reaktionen.

Alle drei Aspekte der Krise sind eng miteinander verwoben und stellen eine ernsthafte Bedrohung für das kapitalistische System dar. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es keine brauchbaren Alternativen zu geben, aber eine neue Weltordnung wird aus den heftigen Kämpfen zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kräften hervorgehen.


1Murray (2016)

2Der folgende Absatz baut auf Wallerstein (2013): 133-142 auf.

3Capistran (2013)

4Cordesman (2017)

5Jones (2016)

6Neubauer (2004): 39