Eine Infantilisierung der Gesellschaft in den kapitalistischen Metropolen wurde oft beklagt (oder gefeiert) und ist kaum zu leugnen. Verkindlichung und kindisches Gebahren bei Erwachsenen zieht sich durch den Alltag, die politische Ebene, die Bildung sowie andere gesellschaftlich relevante Bereiche, was Aufmerksamkeitsspanne, Frustrationstoleranz, Eigenständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Ausdrucksformen, ein Absehen vom eigenen Ich, Abstraktionsvermögen, intellektuelle Redlichkeit, Sprache und die Akzeptanz langer Sätze anbelangt. Es gilt, die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Reste der proletarischen Bewegung, auf Linke und Postlinke zu diskutieren, ihre konkreten Konsequenzen im Gefüge der Herrschaft nachzuzeichnen und im Sinne des Aufbaus Gegenmaßnahmen zu erörtern. Genau hierzu soll eine kurze Artikel-Reihe, deren ersten Teil dieser Text ist, einen Beitrag leisten.
Zwei Erzählungen über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft prägten die letzten drei Jahrzehnte, nachdem die Geschichte angeblich mit dem Endsieg des Kapitalismus ihr Ende gefunden hatte – beide sind falsch: das neoliberale „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und das sozialdemokratisch-fürsorgende „Du bist nichts als ein Opfer der Gesellschaft“. Ersteres ist nur wirklich attraktiv für diejenigen, die sich als Gewinner im System der Konkurrenz und der Profitwirtschaft sehen. In der Opfer-Identität andererseits können sich leider auch viele dauerhaft einrichten, die zu der großen Mehrheit der Unterdrückten, Ausgebeuteten oder Ausgeschlossenen gehören. Beiden Sichtweisen ist gemein, dass sie nicht zu einer Umwälzung der Verhältnisse beitragen. Die eine läuft auf Rechtfertigung hinaus, indem sie die Verantwortung für Erfolg oder Mißerfolg im kapitalistischen Rattenrennen dem Individuum zuschreibt. Die andere zielt ab auf Verwaltung des Elends, Fürsorge und größere (zumindest symbolische) Gerechtigkeit, ohne die Grundlage der Mißstände in Frage zu stellen oder gar anzugehen. Wo sie sich politisch äußert, möchte sie allenfalls wahrgenommene Ungerechtigkeiten innerhalb des Systems, Verletzungen oder Privilegienungleichgewichte in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rücken – und immer wieder durch sprachliche Säuberungsaktionen den Benachteiligten, Ermordeten, Erniedrigten zu symbolischer Satisfaktion verhelfen.
Die geschundene Sklavin im 21. Jahrhundert soll ein Anrecht darauf bekommen, selbst zu bestimmen, wie sie bezeichnet wird und in ihrer Identität wahrgenommen werden soll. An ihrem Sklavinnendasein ändert sich so nichts. Ihre Emanzipation findet nicht statt, sondern wird durch Mitleid und Schulterklopfen ersetzt. Im Vordergrund steht die Forderung nach „Anerkennung der Identität“ bzw. „Respekt“. Das ist schön für die herrschende Klasse, denn symbolische Respekterweisungen kosten nichts. Identitätspolitik befriedet, ohne die Profite zu schmälern. Zudem sorgt diese Art der Politik für die dringend benötigte Spaltung unter den Beherrschten. Je kleiner die „Stämme“, denen sich die Insassen des Kapitalismus angehörig fühlen, je weiter fortgeschritten die Zersplitterung, Abgrenzung und Feindschaft, umso unwahrscheinlicher werden Allianzen der Unterdrückten – z. B. anhand ökonomischer Interessen als kämpfende Klasse. Und das identitäre Angebot scheint verführerisch zu sein, denn die Marktsubjekte, -objekte und Träger der Ware Arbeitskraft nehmen sich oft nicht gerne als das wahr, was sie im Kapitalismus sind. Niemand sieht sich gerne als Objekt oder Charaktermaske. Wir erleben gerade im neuen Kleinbürgertum und bei den Postlinken jede Menge konformistische Zombies, welche sich und anderen vormachen, einzigartig zu sein. Die oft an den Tag gelegte Brutalität und Selbstgerechtigkeit dieser so empfindsamen, zarten und verletzlichen Wesen spiegelt deutlich den dahinterstehenden knallharten Konkurrenzkampf im Kapitalismus. Der Kapitalismus saugt seine Roboter nicht nur aus, er stellt ihnen auch Ideologien zur Verfügung, die das Elend erträglich und ertragbar machen sollen. Wenn die Identität darin besteht, benachteiligt und marginalisiert zu sein, gefährdet die Aufhebung der Kränkung den vorgestellten Kern des eigenen Wesens. Es gilt daher, das eigene Elend nicht aufzuheben, sondern zu perpetuieren.
Infantilisierung als Herrschaftsinstrument
Es wäre durchaus wichtig für Leute, zu verstehen, warum ihnen im Kapitalismus geschieht, was ihnen geschieht. Entsprechend ist es den Herrschenden willkommen, wenn die Beherrschten den Kapitalismus nicht verstehen, wenn sie beispielsweise ihre Zuflucht im Nationalismus oder in anderweitig Identitärem suchen. Verantwortung und gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit, wirklicher emanzipatorischer Kampf sind Bestandtteile revolutionärer Politik. Hierzu braucht es mündige und selbstbewußte revolutionäre Subjekte. Die Beherrschten wie Kinder zu behandeln – und als unmündige Kinder zu sehen – ist seit jeher ein Mittel der Herrschenden (siehe die rassistisch als kindlich verleumdeten kolonialisierter Völker – der „elterlichen Sorge“ der Kolonialherren bedürftig). Der Herrscher oder seine Organe treten hier als Patriarchen auf und trennen die Gesellschaft in Gestalter der Welt und Unmündige. Und der Patriarch (z. B. „Vater Staat“ oder die Regierung) soll‘s dann richten. Selbstermächtigung wird ersetzt durch Appell an die Autorität. Es ist klar, wem es nützt, wenn Teile der Linken sich nun selbst infantilisieren.
Bei der Schaffung perfekter KonsumentInnen und (fast) perfekter ProduzentInnen ist der herrschenden Klasse auch eine gewisse „Kindlichkeit“ des Proletariats hochwillkommen. Bei aller Unzufriedenheit bleibt so das Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit zutiefst verankert. Der Hang zu einfachen Welterklärungen (inklusive Verschwörungsmythen und Sündenböcken) hält infantilisierte ArbeiterInnen desinformiert, lenkbar und beschäftigt. Auch der Glaube der Beherrschten an die „Natürlichkeit“ der herrschenden Ordnung wird durch naive Kindlichkeit geschützt.
Aus all dem ergibt sich, dass ein klassenkämpferisches Proletariat jedwede Infantilisierung strikt meiden und ihr aktiv entgegenwirken muss, wo sie sich auszubreiten droht.
Dies soll nun ganz sicher kein Plädoyer gegen Leichtigkeit und für Humorlosigkeit sein. Im Gegenteil: Infantilisierte Anhängerinnen der postmodernen Identitätspolitik sind nicht ohne Grund für ihren Bierernst und ihre Humorlosigkeit verschrieen. Wer nicht ernst zu nehmen ist, trachtet dies oft mit zur Schau gestellter Gewichtigkeit und staatsmännischem Ernst zu kaschieren. Darum sollte es einer ArbeiterInnenbewegung niemals gehen. Um was es sehr wohl gehen sollte ist die Schaffung von autonomen Strukturen der Solidarität, der gegenseitigen sozialen Unterstützung und vor allem der politischen Bildung und Willensbildung. Um einen echten politischen (und das heißt: erwachsenen) Diskurs über Grüppchen und Blasen hinaus. Dies alles konnte das Proletariat schon einmal ganz gut. Vor 120 oder 150 Jahren.
Im nächsten Teil geht es u.a. um die Dialektik des Opfer-Seins und des Identitären, Tribalismus und Emotionen, Reformismus und den Kampf um Reformen sowie um die Zerstörung von Kollektivität und autonomer Interessensvertretung.