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Antifa-Roman

6 | Direktor Millner

Die kleine Gruppe von Schülern läuft über den Schulhof zum Schulleiter. Sie könnte unterschiedlicher kaum sein.

Elena Poso trägt Jeans, eine helle Bluse und Turnschuhe. In ihrer Unscheinbarkeit könnte sie Marcs Schwester sein. Nur ihre Geschichte ist anders. Sie ist adoptiert. Elena ist eher sehr ruhig, aber immer irgendwie angespannt. Als ob in ihrem Inneren ein erfrorener Schrei auf seinen Ausbruch wartet.

Petra Ahrens ist die „Mutter Theresa“ der 10a. Der sozialste und hilfsbereiteste Mensch der Klasse. Ohne sie wäre Vera vermutlich bereits vor zwei Jahre sitzen geblieben. Petra lässt alle abschreiben, hilft bei den Hausaufgaben oder erledigt sie sogar manchmal für andere. Zwei Hausarbeiten hat sie für Vera schon geschrieben. Das Mädchen ist groß, dünn, Klassenbeste und Kettenraucherin. Obwohl ihre Eltern nicht über ein hohes Einkommen verfügen, achtet sie sehr auf ihr Äußeres. Die braunen Haare sind immer ordentlich frisiert, die Schuhe geputzt und die Kleidung tadellos. Petra hat nur ein großes Manko: Sie ist sehr ängstlich, mit starker Tendenz zur Panik. Ein Nervenbündel mit treuer Seele.

Marlene Todetto ist das Gegenteil von Petra: rundliche Figur, angstfrei, mit dem dunklen Teint einer typischen Süditalienerin. So tritt sie auch auf: Wie eine filmreife „Mama“ aus einem sizilianischen Bergdorf. Marlene spricht laut und viel. Ihr Selbstbewusstsein ist unerschütterlich, die tiefbraunen Augen strahlen Stärke aus. Nur wer sie am Klavier hört, blickt in ein feinfühliges Gemüt, entdeckt einen sanften Menschen mit großem Herzen.

Vera führt den Trupp an. „Wir fragen den Direktor, wann die Schmierereien verschwinden. Wenn der Mist heute nicht wegkommt, sagen wir ihm, dass er uns Geld geben soll, damit wir die Parolen übermalen. Was denkt ihr?“

Alle stimmen schweigend zu. Sie erreichen über die Treppe den zweiten Stock. Direktor Millner sitzt ahnungslos in seinem Büro. Er hat keine Ahnung, was die Schülergruppe von ihm will. Seine Laune ist gut, und er lässt sie vorbehaltlos herein.

„Willkommen“, ruft er freundlich. Besuche dieser Art gibt es öfter. Meist geht es um die Verlegung einer Klassenarbeit oder die Genehmigung eines besonderen Orts für eine Klassenfahrt. Ihn wundert lediglich, dass so viele Schüler in sein Büro strömen. Normalerweise ist es Aufgabe des Klassensprechers, solche Dinge zu regeln. Aus den Gesichtern der sechs wird er nicht schlau. Spontan entscheidet er sich für die Rolle des ‚lieben Onkels‘, lehnt sich zurück und fragt mit ruhiger Stimme: „Was habt ihr denn auf dem Herzen?“

Vera übernimmt. „Es geht um die Nazi-Schmierereien an unserer Schule. Wir wollen wissen, wann die entfernt werden.“

Direktor Millner hatte gerade mit Hausmeister Weitzel gesprochen und ihm mitgeteilt, dass er die Parolen entfernen solle, wenn er Zeit dafür habe. Aber der Bepflanzung der Schulbeete habe er in jedem Fall Vorrang einzuräumen: „Die Blümchen sind der Spiegel unserer Schule, unsere Visitenkarte für die Eltern. Ein paar Schmierfinken sollen uns in unserem Tagesablauf nicht stören“, hatte er ihm am Telefon gesagt.

Der Hausmeister stimmte zu, denn im Grunde findet Weitzel die Parolen gar nicht so übel. Im Gegenteil stimmt der grau bekittelte Lakai ihnen sogar zu. Wie oft haben ihm die Schüler der oberen Klassen schon bei Anordnungen widersprochen? Gerade die Coolen mit den Longboards sind immer besonders frech. Die kann er sowieso nicht besonders leiden, die mit ihrem blöden Ghetto-Gehabe und dem ständigen „Ei Mann, was geht?“. Er steht eher auf Zucht, Ordnung, Flanellhemden und Socken in Sandalen. Deshalb liebt er auch seinen Job als Hausmeister. Er bekommt genau gesagt, was zu tun ist. Das gefällt ihm. Das versteht er. Das entspricht seinem Wesen. Eigenes Denken ist nicht so sein Ding. Weitzel ist eher der Empfängertyp: „Ja, Herr Millner. Wird sofort erledigt.“ Wenn sein Gehirn überhaupt aktiv ist, dann auf unterem Mainstreamniveau. Weitzel ist nebenbei AfD-Mitglied. Ein Geheimnis, das er sehr gut hütet.

Die Ausländer, die hasse ich ja nun wirklich. Eigentlich fallen die ja in dem bunten Haufen von Schülern gar nicht besonders auf. Die sind auch nicht aufmüpfiger als die anderen. Wenn ich ehrlich bin. Aber die müssen weg. Alle raus. Ausweisen. Nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Und die Wohnungen. Und die Frauen. Außerdem klauen die. Bekommen alle Hartz IV und arbeiten nix. Weiß man ja. Aber die Weiber von denen hier an der Schule machen mich wahnsinnig. Eine hammermäßiger als die andere. Und Geschmack haben die: bunte Nägel, hohe Schuhe, enge Blusen, knackige Hintern. Geil!

In seinen Fantasien himmeln sie ihn an. Während er an einem Cocktailstrohhalm zieht, öffnen sie wollüstig ihre Knöpfe …

Doch wenn er dann die Augen aufschlägt, sitzt er, Erich Weitzel, Hausmeister der Leibnizschule, nur einsam in seiner Einliegerwohnung mit vergilbter Raufasertapete, in der Hand ein schales Bier. Die ‚geilen Weiber‘ sind für ihn weiter weg als irgendein bewohnbarer Planet in einem noch unbekannten Sternensystem. Das weiß er. Und deshalb hasst er sie. Deswegen will er sie nicht mehr sehen. Die dummen Schlampen. Und überhaupt das ganze faule Flüchtlingspack. Alles Sozialbetrüger. Also stimmt er auch den Schmierereien zu. Deutschland uns Deutschen! denkt er dumpf.

Die ungenaue Anweisung des Direktors gibt ihm praktisch unendlich viel Zeit, die Parolen nicht zu übertünchen. Er kann sie im Prinzip so lange stehen lassen, wie er will. Irgendeine Arbeit wird nämlich immer vorgehen.