Von Pierre Rouge
Eine Geschichte über Selbsthass der zum Selbstmord führt. Eine Geschichte von unten.
Besuch bei meinen Eltern. „Ich muss auf eine Beerdigung fahren“, antwortet mir mein Vater auf die Frage, was er heute macht. „Oh scheiße, von wem?“ frage ich. „Ein alter Kollege von mir aus E. (Ort paar Dörfer weiter), den kennst du nicht mehr“. „Was ist passiert, war er krank?“ frage ich weiter. Mein Vater ist erst eine Weile still und sagt dann: „Ja auch, aber ich habe gehört, der hat sich umgebracht, hat sich mit Benzin übergossen und sich angezündet, in seinem Gewächshaus.“
Wenige Leute waren da, erzählt er später. Mein Vater ist kein Mensch, der negative Gefühle zeigt. Ich spüre seine Trauer dennoch. Er hatte mehr erwartet. Ein paar Kollegen kamen dennoch zusammen, fragten sich gegenseitig, wer noch so übrig ist, als wären sie im Krieg gewesen. Er erzählt von seinem Kollegen, mit dem er Jahre auf der Baustelle verbracht hat, Tag ein Tag aus. Melancholisch sei er immer schon gewesen, doch richtig schlimm wurde es erst, als er es „im Kreuz“ bekommen habe. So was hat auf der Baustelle nichts verloren. Wer jeden Tag diese körperliche Arbeit über sich ergehen lassen muss, kann keine Schwäche zeigen. „Geht schon, muss ja, kann man nichts machen“. Sätze, die nicht nur mein Vater wie ein Mantra sein ganzes Leben vor sich hersagen musste, um diese Verhältnisse auszuhalten, erst als Bauernkind und dann auf dem Bau. So redete man sich ein, dass alles gut ist, dass sich die Anstrengung lohnt und war stolz auf sein Werk. Mein Vater zeigt noch heute auf die Bauwerke in der Gegend, an denen er beteiligt war, wenn wir dran vorbeifahren, und erzählt was über die Arbeit dort.
Wer was arbeitet, nicht rummeckert und still ist, wird erfolgreich. Der kommt zu was, der kann sich was aufbauen und schauen, dass es die Kinder mal besser haben. Das ist die große Hoffnung gewesen. Denn die ganze Plackerei muss ja für irgendwas gut sein. Dem Idealbild kommen natürlich die Wenigsten nahe. Kaum einer wehrt sich gegen den Grundschullehrer, der die Kinder auf die Hauptschule schicken will, weil die Eltern ja auch nur Maurer und Putzfrauen sind. In den 80ern verdient man wenigstens noch gut und kann sich relativ viel leisten. Seit dem Mauerfall wird es aber unangenehmer auf dem Bau. Die meisten Baufirmen verabschieden sich vom Tarif, machen Werkverträge, das Sub-Unternehmertum macht sich breit. Das Kapital wird wieder hemmungslos entfesselt. Es muss schneller gehen. Man muss weiter fahren zu den Baustellen. Die Fahrt wird nicht mehr bezahlt, ist nun Privatvergnügen, auch wenn sie drei Stunden vom Tag ausmacht, die noch obendrauf kommen. Der Betriebsrat besteht aus Lakaien der Geschäftsführung, einer der mal sein Maul aufmacht, wechselt bald den Betrieb, wird fertig gemacht, fallengelassen, verraten. Das Versprechen, das sich die ganze Scheiße lohnt, geht immer weniger auf. Wer es bis zur Rente schafft, lebt dann knapp über Grundsicherungsniveau und ist ständig damit beschäftigt, zum Arzt zu fahren, weil der Körper kaputt ist. Eine Operation nach der anderen folgt und man stellt fest, dass man von seinem Ruhestand gar nicht mehr so viel hat, weil man eigentlich schon schwer beeinträchtigt ist. Meiner Mutter geht es nicht anders. Auch sie hat schon als Kind auf dem heimischen Hof gearbeitet und dann drei Kinder großgezogen und nebenher geputzt. Die klassische Bildungsverliererin als katholisches Mädchen vom Land, inklusive traumatischer Kindheit, aufgewachsen bei Eltern, die im Faschismus sozialisiert wurden. Die Liste an Operationen und anderen Therapiemaßnahmen wird aktuell immer länger. Beide Eltern erhielten zum Renteneintrittsalter einen Behindertenausweis. Das ist das Ergebnis eines durchschnittlichen ArbeiterInnenlebens in einem der reichsten Länder der Welt.
„Destruktivität ist das Ergebnis ungelebten Lebens. Menschen und gesellschaftliche Bedingungen, die das Leben zu unterdrücken suchen, erzeugen ein leidenschaftliches Verlangen nach Zerstörung, das sozusagen das Reservoir bildet, aus dem sich die jeweiligen Tendenzen nähren, die sich entweder gegen andere oder sich selbst richten.“ – Erich Fromm
Ein ungelebtes Leben ist es dann schon gewesen, denn wofür hat man sich denn geplagt? Neidisch schaut man auf den Rest seiner Generation, der in die Industrie gegangen ist, IG-Metall-Tarif bekommt, oder auf die „Drecks-Beamten“, die ja eh immer mehr kriegen. Alle bekommen was, wir nicht. Und dann wird man auch noch krank, wie der besagte Kollege meines Vaters. Sein ganzes Leben war er etwas, weil er sich abgerackert hat. Es kam nicht viel dabei rum, aber er war nicht so faul wie andere, die im Büro sitzen oder studieren. Das Sein verstimmt das Bewusstsein. Nun kam er also an einen Punkt, wo ihm das genommen wird, was sein Dasein ausgemacht hat: die harte körperliche Arbeit. Das war er. Und das war auf einmal weg. „Das Kreuz“ hat nicht mehr mitgemacht, es ging nicht mehr. Er hätte sich neu erfinden müssen, neuen Sinn in anderen Sachen finden. Das hat er nicht geschafft. Stattdessen verstärkte sich die Traurigkeit, die Wut auf die Welt und sich selbst. Diese Wut bricht sich dann Bahn in solch einem heftigen Ende. Ein unwürdiges Ende, dass nur so von Selbsthass strotzt. Der Hass hatte gute Gründe. Nur wurde er in die falsche Richtung gerichtet. Vielleicht wäre er noch da, hätte er es geschafft, seinen Hass gegen die Feinde zu richten, anstatt gegen sich selbst. Wahrscheinlich wäre so vieles besser, würden die Geächteten und Ausgebeuteten ihren Hass dahin richten, wo er hingehört: nach oben. Nicht auf die Teile der ArbeiterInnenklasse, die ein bisschen besser dastehen, nicht auf die Partnerin, nicht auf die Kinder, nicht auf alles, was schwächer ist. Und nicht auf sich selbst.