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Antifa-Roman

9 | Geschichtsunterricht zum Anfassen

Die Taschenleerung nach Unterrichtsende ist ernüchternd. Ihr zusammengeworfenes Geld reicht nicht für den Kauf von Farben und Pinseln. Vera schleppt schließlich alle zu ihrer Mutter. „Sie wird uns helfen, glaubt mir!“

Mutter und Tochter leben in einer geräumigen Dachwohnung im Dichterviertel. Frau Swanka leitet eine eigene Schneiderei im Erdgeschoss. Ihren Vater hat Vera nicht kennengelernt und ihre Mutter spricht auch nie über ihn. Die beiden Frauen hängen sehr aneinander, ihr Verhältnis ist vertrauensvoll und warm.

Marc räkelt sich in einem bequemen Sessel. Die anderen sitzen im Wohnzimmer verteilt. Er ist das erste Mal hier. In den Räumen stehen Pflanzen, die Möbeln sind aus naturbelassenem Holz gezimmert. Alles wirkt heimelig und freundlich, Pastelltöne unterstützen die Gemütlichkeit. An der Dachschräge hängen Tücher und eine riesige Weltkarte. Frau Swanka betritt den Raum.

„Hallo“, ruft sie in die Runde. „Schön, dass ihr hier seid. Was wollt ihr trinken? Tee, Saft oder Wasser?“

Sie einigen sich auf Apfelsaft und Mineralwasser, um Apfelschorle zu mischen.

Frau Swanka ist Marc auf Anhieb sympathisch. Die Mitvierzigerin strahlt Vertrauen und Ruhe aus, eine Mischung aus Camperin und PR-Managerin. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass Stefan sie hingerissen betrachtet.

Als sie aus der Küche zurückkehrt und das Tablett auf den Tisch stellt, sagt Vera: „Die Schule ist vollgesprüht mit Naziparolen. Wir wollen sie übermalen, aber unser Geld reicht nicht.“

„Ist das nicht Aufgabe der Schule?“

„Eigentlich schon“, antwortet Marc, „aber wir waren bereits beim Direktor. Der stellte klar, dass das keine Priorität für ihn habe. Die Parolen kämen schon irgendwann weg, meinte er, aber er sagte nicht, wann.“

„Wir müssen wohl selber ran!“, wirft Petra ein. Für diesen Satz hat sie ihren ganzen Mut zusammengenommen. Hier in der Wohnung fühlt sie sich wohl und geborgen. Ihre Unsicherheit ist in der warmen Umgebung fast verschwunden.

„Genau“, pflichtet Elena ihr bei. „Das Wegmachen ist offensichtlich unser Job.“

Veras Mutter steht auf.

„Seid ihr wirklich so entschlossen?“

„Ja!“, rufen sie im Chor.

„Na dann nichts wie los. Wir fahren zum Baumarkt und kaufen ein. Wer kommt mit?“

Vera und Marc erheben sich. „Und ihr anderen macht schon mal Kakao. Wir bringen Kuchen mit. In 20 Minuten sind wir wieder da.“

Die drei schauen sich fragend an.

„Ihr findet alles in der Küche“, sagt Vera. „Einfach suchen. Viel Erfolg.“

Mit diesen Worten verschwinden sie durch die Tür.

Im Baumarkt strebt Veras Mutter direkt auf Rollen und Wandfarbe zu, während Marc bei den Spraydosen stehenbleibt.

„Ich glaube, hier finden wir alles.“

Frau Swanka bleibt ebenfalls stehen.

„Ihr wollt die Parolen mit Spraydosen wegmachen?“

„Damit kann man sie unleserlich machen“, sagt Vera.

„Wie groß sind sie denn?“

„Etwa so hoch wie ich“, antwortet Marc.

„Meist kann man dann aber noch etwas lesen“, wendet Veras Mutter ein. „Flächendeckende Farbe ist da gründlicher.“

„Marc, du musst wissen, meine Mutter ist Profi.“

„Ich merk‘s schon.“ Er wendet sich wieder an sie. „Klingt fast, als hätten sie so was früher auch gemacht.“

Sie lächelt. „Allerdings. Nazis gab es auch in meiner Jugend.“

„Farbe und Rollen sind zwar altmodisch, aber vielleicht die bessere Wahl.“

Marc murrt etwas, aber er fügt sich.

Sie kaufen Abstreifgitter, Rollen und gelbe Wandfarbe. Außerdem besorgen sie noch Kuchen für einen gemütlichen Nachmittag.

Zu siebt sitzen sie schließlich alle im Wohnzimmer und halten dampfende Tassen in den Händen. Es riecht nach Gebäck und frischer Sahne. Marc ist völlig entspannt und schlürft genüsslich seinen Kakao. Frau Swanka erzählt von ihren Mitarbeiterinnen in der Schneiderei. Die Frauen kommen aus Afghanistan, Syrien, der Türkei und Eritrea. Ihre Gründe, nach Deutschland zu fliehen, sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst.

„Die Hauptgründe sind meistens Krieg, Armut, Verfolgung oder der Klimawandel“, erzählt sie. „Keine Frau wäre hergekommen, wenn Sie nicht gezwungen gewesen wäre. Wenn ihr möchtet, kann ich euch die Geschichte meiner jüngsten Angestellten erzählen. Yasemin Dülgen stammt aus einem Ort namens Hakkari im kurdischen Teil der Türkei.“

„Ermorden da nicht gerade die Türken ganz viele?“, fragt Petra.

„Woher weißt du denn so was?“, fragt Marlene.

„Weil ich manchmal Zeitung lese.“

„Sehr gut“, lobt Veras Mutter. „Wissen ist wichtig. Sonst versteht man nämlich nichts in der Welt.“

„Ich fänd‘s toll, wenn Sie erzählen würden“, sagt Marc. Vera wirft ihm einen warmen Blick zu. Verlegen pustet er in seine Tasse.

„Zuerst lassen wir mal das Sie weg. Ich heiße übrigens Annette.“

Alle nicken.

„Also, Yasemin lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Ihr Mann Mîrhat musste aus der Türkei fliehen, nachdem ihn die türkische Armee verdächtigt hatte, die Kurdische Arbeiterpartei, die PKK, zu unterstützen. Die Soldaten hatten ihn verhaftet und schrecklich gefoltert. Drei Wochen lang wartete Yasemin mit anderen Frauen vor der Militärkaserne auf die Freilassung ihres Mannes. Irgendwann kam er dann überraschend frei.“

Sechs Augenpaare sind auf Veras Mutter gerichtet.

„Und dann?“, flüstert Elena.

„Er torkelte auf sie zu. Die Klamotten hingen in Fetzen an ihm. Seine Wangen waren eingefallen. Getrocknetes Blut verklebte seine Haare. Kurz vor ihr brach er zusammen. Yasemin und die anderen Frauen trugen ihn weg. Seine Arme waren geschwollen, sein Rücken mit Verbrennungen übersät, sein Atem rasselte. Er glühte vor Fieber und stank entsetzlich. Bis heute hat er nicht erzählt, was die Soldaten in der Kaserne mit ihm gemacht hatten. Aber sie ahnt es. Manchmal betrachtet sie ihn nachts, wenn er sich unruhig hin und her wälzt. Dann streichelt sie sanft seine Narben und überlegt, was sie ihr wohl erzählen können …“

Marc und die anderen hören gebannt zu. Eine echte Geschichtsstunde.

Elena schenkt Kakao nach.

„Könnten Sie bitte weiter erzählen?“, fragt sie. „Ich kann das alles kaum glauben.“

Stefan nickt. „Ganz schön krass, was Sie da sagen. Und das ist alles wahr?“

„Ja, leider. Im Prinzip war das ihr Fluchtgrund. Als Mîrhat nach ein paar Tagen wieder bei Sinnen war, sagte er seiner Frau, dass sie die Türkei verlassen müssten. Er würde ab jetzt immer wieder und wieder geholt. Für ihn gebe es jetzt nur noch die Möglichkeit, sich der PKK anzuschließen, also in den Untergrund zu gehen, oder ins Exil. Wenn er mit der PKK in die Berge ginge, wäre Yasemin ständigen Repressalien ausgesetzt. Wenn er umkäme, müsste sie ihr Kind alleine groß ziehen. Yasemin war damals im siebten Monat schwanger.“

Vera unterbricht sie. „Ich mache nochmal Kakao. Ich kenne die Geschichte ja auch schon.“

„Mîrhat wollte unbedingt sein Kind aufwachsen sehen. Yasemin stimmte der Flucht damals weinend zu. Ihr Haus, ihre Stadt, ihre Freunde, und ihre Familie zu verlassen, bedeutete für sie, sich die eigene Nabelschnur zu durchtrennen. Aber sie hatten keine andere Wahl.“

Der Kakao in den Händen der Jugendlichen ist ausgetrunken. In der Küche klappert Vera. Sonst ist kein Ton zu hören.

„Für den gefolterten Mîrhat war die Reise eine Qual, seine Brandwunden entzündeten sich und eiterten. Aber auch die hochschwangere Yasemin litt. Sie hatten damals umgehend politisches Asyl beantragt, aber noch immer ist das Verfahren anhängig und ihr Aufenthalt in Deutschland nicht legalisiert. Ihr Sohn ist mittlerweile sieben Jahre alt. Er wurde in Dortmund geboren.“

Annette hält kurz inne. Petra ist mittlerweile aufgestanden und steht am Fenster und raucht. Alle warten auf die Fortsetzung der Geschichte.

„Die deutschen Behörden wollen seit Jahren Mîrhats Geburtsurkunde sehen. Aber die Geburtsurkunde kann er nicht bekommen. Das türkische Militär fahndet nach ihm, weil er seinen Wehrdienst ableisten soll. Aber solange er in der Türkei gesucht wird, bekommt er keine Geburtsurkunde, denn die müsste er persönlich in Hakkari abholen. Das ist ihm natürlich zu riskant. Ein Teufelskreis. Seine Frau Yasemin darf eigentlich in Deutschland gar nicht arbeiten, aber die Familie braucht unbedingt Geld. Yasemin muss arbeiten. Deshalb habe ich sie trotzdem angestellt, auch wenn das eigentlich nicht legal ist. Yasemin hat mir von Anfang an die Wahrheit erzählt. Damit kennt ihr auch meine Meinung zu Ausländerfeindlichkeit und deutscher Bürokratie.“

Elena blickt schüchtern von ihrer Tasse auf. „Während meiner ganzen zehn Schuljahre habe ich vom Osmanischen Reich, von Konstantinopel und den Türken vor Wien gehört. Aber von Kurden war da nie die Rede.“

„Das ist typisch für die Schule“, entgegnet Annette. „Manchmal frage ich mich wirklich, was ihr da eigentlich lernt!“

„Das frage ich mich jeden Tag“, wirft Vera ein und lacht. „Das Leben lehrt einen doch so viel mehr.“

„Trotzdem solltet ihr alle das Abitur machen“, antwortet Annette. „Der Abschluss wird euch in Zukunft Türen öffnen. Allein deshalb bin ich unbedingt dafür, dass ihr diese nervigen Sinnlosigkeiten durchhaltet.“

„Erzähl uns doch noch ein bisschen von Mîrhat und seiner Familie“, bittet Marc. „Warum wurde er überhaupt verhaftet und gefoltert?

Die Jugendlichen nicken wieder und nehmen sich noch ein Stück Kuchen. Die Geschichtsstunde geht weiter. Sie sitzen auf gemütlichen Kissen und hören Annette zu.

„Mîrhat holt seine Frau oft in der Schneiderei ab. Manchmal bleiben beide auf eine Tasse Tee und erzählen von ihrem Leben in Kurdistan. Er hat in der Türkei mit der PKK sympathisiert, war aber nie aktiv für die Partei unterwegs. Nur einmal hat er jemandem geholfen, so wie er jedem in der Situation geholfen hätte. Doch dieses eine Mal änderte sein Leben schlagartig. Aber er würde es jederzeit wieder tun, wird er nicht müde zu betonen“, sagt Veras Mutter.

Mîrhat hatte sich eines Mittags nach der Nachtschicht schlafen gelegt, als ihn Schüsse weckten. Das war nicht ungewöhnlich in Hakkari. Die kurdische Stadt ist bis heute immer wieder Zentrum von Zusammenstößen zwischen Kurden und türkischen Soldaten. Die feuernden Gewehre klangen sehr nah. Mîrhat ging automatisch in Deckung. Plötzlich hörte er ein Geräusch auf seinem Balkon. Es klang wie ein Sack Kartoffeln, der auf den Boden geworfen wurde. Als er nachsah, lag vor ihm ein ohnmächtiger PKK-Kämpfer. Blut pulsierte aus einer Beinwunde. Mîrhat zog ihn die Wohnung. Eine Kugel hatte seinen Oberschenkel verletzt.

Mîrhat fragte nicht nach. Er stoppte die Blutung und versorgte die Wunde mit dem, was er im Verbandskasten fand. Als Yasemin kurz darauf von der Arbeit kam, wusste sie sofort Bescheid. Zuerst erschrak sie über Gewehr und Blut, aber dann packte sie mit an. In der nächsten Nacht musste Mîrhat wieder arbeiten gehen. Yasemin hielt Wache am Krankenbett. Die Kalaschnikow hatten sie unter das Bett geschoben.

Vera kommt mit einem Tablett und einer neuen Kanne Kakao aus der Küche.

„Fertig mit der Geschichte?“

„Nein!“, sagt Marlene. „Aber stör‘ jetzt nicht. Es ist spannend!“

Auf dem Heimweg in den frühen Morgenstunden sprach ein Unbekannter Mîrhat auf der Straße an. Er fragte nach Feuer. Wie so oft wimmelte es in der Stadt von Polizei und Armee. Der Fremde war freundlich und lud Mîrhat auf einen Tee in ein kleines Café ein. Als er sicher war, dass sie niemand hören konnte, kam er zur Sache.

„Danke für die Aufnahme meines Genossen.“

Mîrhat sah ihn völlig perplex an und schwieg. Der Unbekannte sprach weiter. „Wir waren zusammen auf dem Dach während der Schießerei. Als ein Schuss Omar am Bein traf, ging ich in Deckung. Ich wollte ihm helfen, aber der Balkon war für mich unerreichbar. Dann sah ich, dass du ihn in einen Raum gezogen hast. Ich wartete und beobachtete deinen Hauseingang. Doch niemand kam. Offenbar hattest du weder Militär noch Polizei verständigt. Ich nahm also an, dass er bei dir sicher war.“

Mîrhat nickt. „Ja, bei mir ist er sicher. Es geht ihm schon besser.“

„Wann kann er wieder laufen?“

„Ein paar Tage braucht er bestimmt noch. Aber wieso vertraust du mir?“

„Ein Feind hätte sofort die Polizei verständigt. Oder Omar gleich selbst erschossen.“

„Wie geht es nun weiter?“

„In zwei Tagen wird eine Frau kommen. Sie heißt Kezban.“ Der Fremde nippt an seinem Tee. „Aber du bist nun in Gefahr. Und deine Frau auch. Wenn der türkische Staat Wind von deiner Hilfe bekommt, dann holen sie dich ab. Und das heißt Verhör und Folter.“

Mîrhat sah den Fremden erschrocken an.

„Die Organisation vergisst nicht, wenn Leute ihr helfen! Sie ist da, wenn du Hilfe brauchst“, sagte der Unbekannte. „Aber für euch gibt es eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Ihr geht zur Guerilla in die Berge oder ihr verlasst das Land.“

Mîrhat klappte die Kinnlade herunter. Als er nach seinem Tee greift, warf er das Teeglas um.

„Ich will aber nicht weg.“

„Die Folter ist hart. Glaube nicht, dass du sie durchhältst. Das schafft kaum jemand. Vielleicht kommst du mit einer Lüge durch, mit einer glaubhaften Lüge. Sie sollte so nah wie möglich den Tatsachen entsprechen. Du könntest behaupten, dass Omar am Arm verletzt war und dich bedroht hätte. In der Nacht sei er dann abgehauen. Aus Angst hast du niemandem etwas davon gesagt. So was in der Art.“

Der Fremde schaute Mîrhat direkt in die Augen.

„Sie werden kommen. Glaub mir. Selbst wenn du alles wahrheitsgemäß sagen würdest. Die machen dich fertig. Das sind Faschisten. Du hast keine Chance. Es tut mir leid. Du kannst jetzt nur noch uns vertrauen. Für das Militär bist du nun vogelfrei …“

Im Wohnzimmer herrscht Schweigen. Petra steht noch immer am Fenster und raucht. Elena ist fassungslos.

„Den Rest der Geschichte kennt ihr“, sagt Veras Mutter. „Aber auch nach Mîrhats Entlassung war das Drama noch nicht vorbei.“

„Wieso?“, will Stefan wissen. „Was kommt denn nun noch?“

Annette blickt in die Runde. „Ihr könnt euch natürlich nicht vorstellen, was Folter für Spuren hinterlässt. Mîrhat lag nach seiner Entlassung eine Woche wie betäubt zu Hause. Fieberträume verfolgten ihn, er zitterte bei jedem Geräusch. Der einst fröhliche Mann hatte sich in ein Häufchen Elend verwandelt. Seine Wunden heilten nach und nach, aber die Narben auf seinem Körper und in seiner Seele blieben. Langsam begann der Hass in ihm zu wachsen. Die erlittene Scham wandelte sich in Wut. Das Gefühl der totalen Hilflosigkeit und die Erinnerungen an die Folter wurden seine ständigen Begleiter. Die Brandmale symbolisierten die erlittene Erniedrigung.“

Sie stockt und überlegt, ob sie überhaupt weitersprechen soll.

„Ich habe mal Berichte aus dem Folterlager bei Hakkari gelesen. Sie lassen Gefangene auf allen Vieren auf ausgestreuten Steinen herumkriechen, schieben ihnen Stangen in den After und pinkeln in ihr Essen.“

„Das ist ja furchtbar“, sagt Stefan. Die anderen schauen erschrocken.

„Sie zwingen Kurden, stundenlang auf einem Bein zu stehen und immer wieder die türkische Nationalhymne zu singen. Wer umfällt, wird geschlagen. Hass wurde dadurch Mîrhats ständiger Begleiter. Die Folter hatte seine Unbedarftheit zerstört. Er wurde gegen alle misstrauisch.“

„Aber das ist doch kein Leben“, wirft Marc ein.

„Da hast du Recht. Yasemin tat alles, um ihren Mann nicht in das Eiswasser der Gefühllosigkeit und der Wut abtauchen zu lassen. Sie redeten viel, und Mîrhat begann eine Traumatherapie. Das rettete seine Menschlichkeit vor dem Zerfall. Bei dem Weg zurück ins Leben half auch sein kleiner Sohn.“

Sie macht eine Pause.

„Doch ich kann euch sagen, Mîrhat kann noch heute auf Knopfdruck seinen ungeheuren Hass gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit aktivieren. Dann verwandelt sich der liebe Mann in eine wutschnaubende Bestie. Ich habe es einmal erlebt, wie er einen Typen angriff, der eine Frau schlug …“

Marc hört Veras Mutter beeindruckt zu. Sein Kopf arbeitet.

Was ist Annette bloß für eine Frau? Sie wirkt stark und selbständig, aber irgendwie auch weich und zerbrechlich. Vielleicht hat Vera von ihr diese kompromisslose und klare Art geerbt. Allerdings kann ich mir bei Annette einen Wutausbruch nur schwer vorstellen. Im Gegensatz zu Vera! Ich weiß noch, wie sie diesem Affen Volker ihr Deutschbuch ins Gesicht geworfen hat, als der einen Polenwitz erzählte. Dabei brüllte sie: „Polenwitz, Judenwitz, Auschwitz“. Volker war danach ziemlich still. Die Stelle auf seiner Wange leuchtete fast eine Woche lang rot.

Marc schaut Vera an. Sie lächelt die ganze Zeit, während ihre Mutter erzählt. Sie ist stolz auf sie. Dabei wippte sie leicht in ihrem Schaukelstuhl und streichelte dem pechschwarzen Kater auf ihren Knien den Bauch.

Ich glaube, wenn sie mich so am Bauch kraulen würde, dann müsste ich auch schnurren. Schade, dass ich kein Kater bin!

Bei dem Gedanken strahlt Marc in sich hinein.

Verdammt! Ich bin echt verliebt.