Auf ihrem Rückweg beobachtet René die Gruppe. Er erinnert sich, wie oft er früher nach Aktionen nach Hause lief.
Euer Adrenalinpegel senkt sich nun langsam. Aber der Stress für euch fängt erst an. Denn ab jetzt denkt ihr an den kommenden Tag. Und das wird richtig anstrengend. Jeder kann sich denken, dass ihr die Täter seid. Darauf wird irgendeine Reaktion folgen, entweder von Direktor Millner, Lehrer Lemper oder den Rechten.
Bisher hatten sich die sechs Schüler dazu noch nichts überlegt. Aber als sie bei Vera ankommen, fällt Petra sofort mit der Tür ins Haus.
„Wie sollen wir uns eigentlich morgen verhalten?“ Ihre Stimme klingt aufgeregt. „Ich muss das genau wissen, denn sonst verplappere ich mich bestimmt vor Angst!“
„Jetzt lass uns erst einmal ankommen“, beruhigt Stefan sie. „Erstmal was zu trinken für alle.“
Er verschwindet mit Vera in der Küche. Sie laden Gläser, Erdnüsse, Wasserflaschen und ein paar Kekse auf ein Tablett und gehen zurück ins Wohnzimmer. Kaum ist eingeschenkt, plappert Petra sofort los.
„Also was nun? Was muss ich machen? Und vor allem: Was darf ich nicht machen?“
„Naja, was sollen wir schon machen? Nichts, würde ich sagen.“ Marlene wirkt völlig entspannt.
„Aber wenn uns jemand fragt? Oder wenn wir zu Millner müssen?“ Petra nestelt an ihrem Tabaksbeutel. Wieder lauert die Panik in ihrem Tonfall.
„Wir zucken mit den Achseln, wissen von nichts, sagen aber, dass wir uns freuen, dass der Mist weg ist“, schlägt Vera vor. „Die Wahrheit ist doch: Wir können nichts machen. Also machen wir auch nichts. Sagen nichts. Kommentieren nichts. Provozieren nichts. Sollen die doch kommen und uns fragen. Aber wir geben auch nichts zu. Wir sagen einfach gar nichts!“
„Aber gut finden sollten wir die Aktion schon. Immerhin haben wir ja damit gedroht, das zu tun.“ Für Elena scheint die Sache klar zu sein.
Stefan nickt. „Ich kann mich Elena nur anschließen. Wir brüsten uns nicht mit der Sache, aber wir bezeugen unsere Zustimmung. Nach dem Wirbel heute Morgen ist das glaubwürdig. Aber wenn uns jemand direkt fragt, streiten wir alles ab. Allerdings, ohne uns verhören zu lassen.“
„Wie meinst du das?“ Petra hat die erste Zigarette im Mund und geht zum Fenster.
„Wenn dich jemand fragt: Petra, hast du das übermalt? Dann sagst du: Nein! Wenn aber jemand dich fragt, was du gestern gemacht hast, dann fragst du zurück: Ist das hier ein Verhör oder was? Falls ja, hast du das Recht, die Aussage zu verweigern.“
So geht es noch eine Weile hin und her. Nach ein paar Stunden verabschieden sich die Freunde und gehen nach Hause. Nur Marc bleibt noch. Er will nicht weg. Er fühlt sich wohl in Veras Nähe und in der Wohnung. Die beiden sitzen auf dem Sofa. Marc lässt seinen Blick schweifen. Er stoppt bei Veras braunen Augen.
„Deine Nummer bei Lemper war ziemlich beeindruckend“, sagt er. „Das wollte ich dir schon den ganzen Tag sagen. Aber er wird dich dafür büßen lassen!“
„Sitzt du jetzt also nur hier, um mir zu sagen, dass ich dich beeindruckt habe?“
Marc ist es plötzlich sehr warm. Er ist eigentlich nur geblieben, weil er sich hier so behaglich fühlt. Und weil er sich in Vera verliebt hat. Aber das will er ihr nicht sagen. Noch nicht.
„Weißt du, ich fühle mich hier wohl. Diese Wohnung, deine Mutter und du, ihr strahlt Harmonie und Wärme aus. Ich kenne so etwas nicht.“
Ihm wird heißer. Er hat den Eindruck, dass ihm gleich Schweißperlen auf die Stirn treten.
„Meine Mutter und ich streiten uns oft, aber ich könnte mir keine bessere vorstellen. Ich finde auch, wir haben es hier echt gut.“
„Wo ist eigentlich dein Vater?“ will Marc wissen. Puh, endlich ein unverbindliches Thema, denkt er schwitzend. Nervös nestelt er an seinem Kragen.
„Abgehauen. Sofort als er erfuhr, dass meine Mutter von ihm schwanger ist. Sie fand ihn per Rechtsanwalt erst zwei Jahre nach meiner Geburt. Er wurde dazu verurteilt, Alimente zu zahlen. Er ist mittlerweile Arzt und kann es sich problemlos leisten. Trotzdem gibt es ständig Ärger wegen der Zahlungen. Ich habe ihn nie kennen gelernt und will es auch gar nicht. Ich glaube, er ist ein großer Wichser.“
„Hört sich so an. Wann kommt eigentlich deine Mutter wieder?“
„Meine Mutter ist bei ihrem Freund. Er wohnt nicht weit weg von hier. Meist kommt sie dann nicht mehr nach Hause. Warum fragst du?“
Marc weiß es auch nicht so recht. „Naja, vielleicht sieht sie es ja nicht so gerne, wenn du nach 22:00 Uhr noch männlichen Besuch hast.“
Vera lacht. „Meine Mutter ist da sehr tolerant. Ich bin 16 und dürfte ja vom Gesetz her sogar schon heiraten! Warum soll ich da nicht auch Besuch haben dürfen? Wann wirst du denn zu Hause erwartet?“
„Meine Mutter und ich haben eine Vereinbarung. Wenn mein Vater nicht da ist, dann muss ich ihr nur kurz sagen, dass ich nicht mehr komme. Wenn er da ist, muss ich um elf zurück sein. Wochenenden werden verschieden geregelt, je nachdem, was anliegt.“
„Ist dein Vater heute da?“
„Nein, er ist diese Woche in Bern auf einer Tagung.“
„Dann ruf deine Mutter an, dass du nicht mehr kommst. Ich würde mir wünschen, dass wir jetzt eine Weile hier sitzen können.“
Sie legt ihm ihre Hand auf die seine.
„Wenn du willst, kannst du im Bett meiner Mutter schlafen. Sie hat nichts dagegen.“
Marc ist verblüfft. Vera ist wirklich offensiv. Sie spricht direkt an, was er bisher nur ahnte. Ihre Hand brennt in seiner.
„Ich geh dann mal zu meinem Smartphone.“
Es steckt immer noch ausgeschaltet in seiner Jacke im Flur. Dankbar steht er auf und wischt seine schweißnasse Hand an der Hose ab. Er ist verunsichert.
„Okay“, flüstert sie und zieht die Beine lächelnd unter ihr Kinn.
Was soll ich denn meiner Mutter überhaupt sagen? „Ach Mama, ich sitze hier mit einem Mädchen, in das ich mich verliebt habe und möchte bei ihr übernachten. Deshalb komme ich heute nicht. Wiedersehen!“ Das ist unmöglich. Das kann ich meiner Mutter nicht sagen. Schon gar nicht in Veras Gegenwart.
Das Display leuchtet beim Start auf. Zwei WhatsApp-Nachrichten vom Klassenchat, sonst nichts.
Ganz schön kompliziert diese Gefühle. Und dann ist Vera mir auch noch einen Schritt voraus. Während ich da auf dem Sofa sitze und vor mich hin träume, schlägt sie vor, dass ich hierbleiben soll. Es ist fast so, als hätte sie mir direkt ins Herz geschaut. Das macht mir Angst. Aber es ist auch schön.
Mechanisch tippt Marc auf seinem Handy herum. Die Stimme seiner Mutter reißt ihn aus seiner Gefühlswelt.
„Hier Brenda!“
Reflexartig drückt Marc das Kreuz durch.
„Hallo Mama, ich bin es, Marc. Ich werde nicht nach Hause kommen. Ich übernachte bei einem Klassenkameraden. … Was? Ähem … Äh … Vera. Nein, sie ist nicht meine neue Freundin … Wir wollen nur noch ein bisschen chillen und der letzte Bus ist auch schon weg. … Nein, mach dir keine Sorgen. … Nein, Mama, hör jetzt auf. …. Ja, ich weiß … Gute Nacht. Bis morgen.“
Er drückt seine Mutter weg und geht ins Wohnzimmer.
„Na, was hat sie gesagt?“
„Willst du das wirklich wissen?“
„Ich will alles wissen von dir!“
Er lässt sich aufs Sofa fallen.
Er schaut sie an. Er wird rot. Sie lächelt erwartungsvoll.
„Ich soll aufpassen, dass du nicht schwanger wirst.“
„Was?!“ Vera prustet los. „Die ist ja komisch drauf. Ist das ihre einzige Sorge?“
Marc fühlt sich neben Vera angenehm leicht.
„Weißt du eigentlich, dass du strahlst wie ein Honigkuchenpferd?“, fragt sie ihn.
„Sind Honigkuchenpferde rot?“
Sie blickt ihn mit warmen Augen an.
„Ich habe mir gewünscht, dass du dableibst, als die anderen gingen. Es war ein so schönes Gefühl mit dir heute beim Übermalen. Ich fühlte mich in deiner Nähe so sicher.“
Marc erinnert sich an ihren Geruch.
Sie riecht noch immer so. So nach Vera. Er streckt die Hand aus und streichelt sie am Hals.
„Ich wollte auch bleiben. Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“
Jetzt ist es raus. Ich habe es gesagt. Einfach so.
Jetzt strahlt Vera. Sie beugt sich zu ihm herüber und küsst ihn zärtlich. Ihre Zungen finden sich. Marc bekommt eine Gänsehaut.
Sie schmeckt, wie es ihr Duft versprach. Es ist wunderschön, dass ich jetzt mit ihr hier sitze und sie küsse. Jetzt weiß ich, woher dieses Kribbeln im Bauch die letzten Wochen kam. Alle meine Sinne sind jetzt nur hier.
Dann schaltet Marc seinen Kopf endlich ab und genießt nur noch Veras Lippen …