Kategorien
Antifa-Roman

13 | Der Mann aus Afrika III

An diesem Donnerstagabend kann Celeste nicht schlafen. Die Massenunterkunft im Wiesbadener Westend ist laut. Es wohnen zu viele Menschen auf kleinem Raum. Und sie haben zu viel Zeit. Sie dürfen nicht arbeiten. Sie dürfen nur warten: auf einen neuen Termin im Amt. Auf juristische Entscheidungen. Auf Informationen zu ihrem Aufenthaltsstatus. Auf Nachrichten von zuhause.

Sie warten auf ihre Zukunft. Endloses Warten. Die Zeit kriecht. Stunden. Tage. Wochen. Monate. Jahre.

Kein Geld. Nichts zu tun. So viel Zeit. Dumme Gedanken.

Sie trinken. Sie streiten. Sie geraten aneinander. Die Eritreer, Syrer, Afghanen, Iraker und Iraner …

Deshalb ist im Haus immer die Hölle los.

Celeste ist daran gewöhnt. Ihr Vater hatte sich immer mit den Trunkenbolden angelegt. Er selbst trank als gläubiger Moslem nie. Das sind die meisten hier. Aber „Allah sieht nicht alles“, sagen sie, und trinken trotzdem.

Celeste hält sein Foto in der Hand.

Du bist tot. Kaputtgetreten. Ermordet. Weil du schwarz warst. Weil du in Ghana keine Hoffnung mehr hattest. Weil du dort weggingst. Weil du flüchtetest. Weil du in Afrika nicht mehr hungern wolltest. Weil du es nicht mehr ertragen konntest, uns hungrig zu sehen. Du hattest die Nase voll vom Zuschauen, wie die Kinder um dich herum starben, während sich die Reichen vollfraßen. Oder an AIDS, weil die katholischen Prediger Kondome verteufelten. Du nahmst uns mit. Von 24 kamen nur wir drei in Deutschland an. Dem Land deiner Träume. Doch hier will uns niemand. Wir stören. Wir sind hier überflüssig. Deshalb wurdest du umgebracht. Sie nennen uns Neger. Und Neger gehören nicht hierher. Wir sollen wieder abhauen. Und in Afrika sterben. Wir sind aber hier. Deshalb haben sie dich umgebracht. Weil du hier warst.

Celeste schaut auf das Bild ihres . Zärtlich streichelt sie sein Gesicht.

Der Mörder war ein Mann mit einer Tätowierung auf der Wade. Mit einem Totenkopf darauf, der einen Stahlhelm trug. Der Mann, der dir den Tod brachte, hatte den Tod auf sich verewigt. Das ist komisch. Ein Todbringer trägt den Tod mit sich herum. Und der Totmacher ist Linkshänder. Er hat mit der linken Hand zugeschlagen. Das hat die Zeugin gesagt.

Sie sieht ihren Vater vor sich. Wie er ihr vorsang. Wie er sie ins Bett brachte. Wie er ihr Gute Nacht sagte, mit einem lieben Kuss auf die Wange.

Dann erscheint verschwommen die Bushaltestelle.

Dein blutender Kopf war völlig deformiert. Das war nicht mehr dein Kopf. Vor dem Tritt war dein Kopf rund. Jetzt nicht mehr. „Es hat geknackt“, hatte die mutige Zeugin gesagt. Dein Kopf war jetzt oval. Unförmig. Zerschmettert. Aber es war noch dein Gesicht darauf. Verzerrt, aber dein Gesicht. Aber es sah nicht mehr lieb aus. Nicht mehr warm. Nicht mehr schön. Die Augen liebten nicht mehr. Sie waren verdreht. Blickten stumpf. Blind. Tot.

„Kenne Sie diesen, äh, schwarzen Herren?“, hatte die Polizistin sie unbeholfen gefragt, die in die vollgestopfte Unterkunft kam. Die eine Hand an der Waffe, hielt sie ihr mit der anderen ein Foto hin. Damals war sie gerade fünfzehn geworden.

„Er ist mein Vater.“

„Dann habe ich eine schlimme Nachricht für sie. Er ist tot.“

Celeste war erschüttert. Doch bevor die ersten Tränen ihr Augen füllten, begannen die Fragen.

„Nahm ihr Vater Drogen?“, „War er oft aggressiv?“, „Hatte er Feinde?“, „War er manchmal weg und kam tagelang nicht wieder?“, „Arbeitete er trotz Verbots?“. Die Fragen verhallten in ihrem Kopf. Sie hatte gerade vom Tod ihres Vaters erfahren und war wie betäubt.

Die Beamtin interessierte das nicht.

„Welche Drogen nahm er regelmäßig?“, „Wie viel Alkohol trank er täglich?“, „Hat er mit Ihnen geschlafen?“, „Kennen Sie seine Freunde?“, frage sie weiter.

Celeste erinnert sich an diese schlimmen Stunden, diese unsinnigen Fragen und ihre unendliche Trauer. Sie fühlte sich so einsam und verlassen. Die Worte der Polizistin drangen wie glühende Nadeln in ihr Herz.

Die Erinnerung verliert sich in Celestes Tränenschleier. Das Mädchen rollt sich schluchzend in seinem Bett zusammen. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie ihren Vater noch vor sich, wie er ein letztes Mal die Hand nach ihr ausstreckte, um sie in die Arme zu nehmen …

Das ist nun acht Monate her. Seitdem ist sie allein in diesem Land, wo die Menschen sie nicht haben wollen.