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Antifa-Roman

15 | Angst

„Wir müssen uns was überlegen“, sagt Vera, als sie zum Unterricht gehen. „Lasst uns vielleicht heute Nachmittag mal darüber nachdenken. Kommt doch gegen drei zu mir.“

Die anderen nicken.

„Aber jetzt haben wir erst mal Mathe.“

Schweigend laufen sie in den Klassenraum. Vorbei an der Wand, die ihnen frischgestrichen entgegenglänzt.

Kein Lehrer kommt an diesem Vormittag auf die Parolen und ihr Verschwinden zu sprechen. Auch die sechs haben keine Lust auf das Thema. Die Demütigung von Stefan und die Beleidigungen von Marlene schmerzen sie.

Marc ist im Unterricht nicht bei der Sache. Er denkt in der langweiligen Stunde über alles nach.

Die neue Farbe über den Parolen ist eine Art Symbol. Es sieht jetzt so aus, als hätten die Ereignisse der letzten Tage gar nicht stattgefunden. Keine Naziparolen. Kein Stress mit Lemper. Kein Besuch bei Millner. Keine nächtliche Malaktion. Keine Beschimpfungen auf dem Schulhof.

Der Anstrich überdeckt den Konflikt. Der Status quo ante ist wieder hergestellt. Warum also über die Ereignisse, das Vergangene sprechen? Sogar Lehrer Lemper hält es nicht für nötig, Vera und uns für unser Verhalten zu maßregeln. Wir bekamen nicht einmal eine Fehlstunde eingetragen. Die Wand ist wie vorher. Es ist doch nichts passiert!

Oder?

Genügt eine Farbschicht und schon kümmert sich keiner mehr um die Inhalte darunter? Über den Hass der Parolen? Über ihre Drohungen? Über die Angst, die sie erzeugen sollen?

Die Erkenntnis durchzuckt Marc wie ein Stromschlag.

Die Parolen sollen Angst erzeugen. Das ist es. Das ist ihr Sinn. Es geht um ein Klima der Angst. Und diese Wirkung haben sie erreicht. Egal, wie lange sie dort standen, das Gift der Buchstaben wirkt. Es erzeugt Furcht, ein Klima des Misstrauens. Das haben die in der Veranstaltung zum NSU auch gesagt. Die Nazi-Mörder wollten Angst säen. Ob ein paar Türken mehr oder weniger in Deutschland leben, war ihnen im Grunde egal. Es ging ihnen um Angst. Alle Ausländer sollten Angst bekommen. Auch die Drohungen gegen Stefan und uns: Es geht um Angst. Alle sollen Angst haben. Angst vor den Nazis. Damit arbeiten sie. Das ist der Zweck.

Marcs Kopf arbeitet. Er stolpert quasi über seine eigenen Gedanken.

In einem Klima der Angst zu leben, ist das Gegenteil von Freiheit. Die Nazis in Ruhe zu lassen, hieße, sie in Ruhe handeln zu lassen. Und das tun sie ja bereits. Sie handeln. Täglich. Überall in diesem Land. Sie zünden Flüchtlingsheime an. Sie schlagen Ausländer zusammen. Sie ermorden Menschen mit dunkler Hautfarbe oder mit anderer Gesinnung. Was haben sie nochmal gerufen: „Und denkt an den Neger, den es an der Bushaltestelle erwischt hat. Das wird euch auch blühen. Denkt daran!“

Das war doch der, den ein paar Nazis totgetreten haben. Das stand in der Zeitung.

Ihm fällt die Mordserie des NSU ein. Was war da nochmal genau los?

Die dreiköpfige Bande hat über Jahre einfach einen ausländischen Kleinhändler nach dem anderen erschossen. Insgesamt neun Menschen. Einfach so. Tür auf. Rein in den Laden. Knarre raus. Abdrücken. Weggehen. Fertig. Lange klappte das problemlos. Die Geheimdienste legten ihre schützende Hand über die Mörder, Ermittler schauten weg, Fakten wurden vertuscht. Ergebnis: Ein Klima der Angst unter Ausländern. Einfach, aber wirkungsvoll.

Marc schluckt. Das Lehrergefasel über mathematische Wahrscheinlichkeiten und die Stauchung von Sinuskurven sind für ihn im Moment nur fernes Rauschen. Wie eine Stimme aus einer anderen Welt. Ihm wird gerade etwas bewusst, was ihm ernsthafte Sorgen bereitet.

Wir sechs sind Gegner von Nazis. Stefan ist ihr Hauptfeind. Er hat offen gezeigt, dass er nicht bereit ist, sich alles gefallen zu lassen. Er hat keine Angst gezeigt. Wir haben keine Angst gezeigt! Wir haben uns aus Vernunft zurückgezogen. Aber nicht aus Angst. Die Nazis werden nun alles dafür tun, damit wir Angst bekommen. Die wollen, dass wir einknicken. Das ist ihre Logik. Und das darf nicht passieren!

„Keinesfalls“, sagt Marc plötzlich laut in den Unterricht und schlägt auf den Tisch.

Der Mathelehrer dreht sich irritiert um. „Wie bitte?“, fragt er und sieht ihn an.

„Ach nichts. Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich etwas Wichtiges zu Hause vergessen habe“, stammelt Marc.

Kopfschüttelnd dreht sich der Lehrer wieder zur Tafel und fährt fort.

Marc grübelt weiter vor sich hin. Er ist in seiner bitteren Erkenntnis gefangen. In diesem Moment ahnt er noch nicht, dass er mit seinen düsteren Gedanken Recht behalten wird …