Von Vidar Lindstrøm
Zur Mobilmachung des deutschen Bürgertums für den Krieg.
„Die Bourgeoisie hat weitere Fortschritte gemacht in der Kunst, das Unglück der Arbeiterklasse zu verbergen.“
Friedrich Engels1
„Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein und das heißt Erika“, heißt es im derzeit bei der Meme-Community beliebten NS-Marschlied von Herms Niel. Das Lied ist passend und der Zeitpunkt seiner Repopularisierung ein zynischer Moment der Geschichte. Denn das Blümelein, das blüht wieder oder, um es mit einem anderen Euphemismus auszudrücken, Deutschland macht die „Zeitenwende“.2
Schenkte man den bürgerlichen Medien oder der liberalen Öffentlichkeit Glauben, könnte man meinen, die Hochrüstung Deutschlands zur unangefochtenen militärischen Führungsmacht in Europa und zur drittstärksten weltweit sei ein spontaner Akt der verzweifelten Selbstverteidigung. Derartige Darstellungen des Zeitgeschehens gehören jedoch in den Bereich der infantilen Ideologieproduktion. Spätestens seit den 1990er Jahren ist der deutsche Imperialismus dazu übergegangen, sich zu alter Stärke aufzurappeln. Den uralten Führungsanspruch Deutschlands gegenüber den Ländern des europäischen Kontinents, der bereits zweimal zum Weltkrieg geführt hat, ist für den deutschen Imperialismus nicht mehr nur mit „Soft Power“, also seiner Finanz- und Exportmacht zu bewerkstelligen. Mit dem Konflikt um die Ukraine seit 2014 ist die räumliche Ausdehnung des deutschen Anspruchs an seinen Grenzen angelangt. Die durch die Konkurrenzbedingungen und den Akkumulationsdrang des Kapitals vorangetriebene Ausdehnung führte unweigerlich an die Grenzen Russlands und damit direkt in dessen Einflussbereich, aus dem die Ukraine per Staatsstreich herausgebrochen wurde. Dass dieser Konflikt früher oder später zum Einmarsch Russlands in der Ukraine führen könnte, war klar.3 Das erste Vorzeichen dieser neuen Eskalationsstufe imperialistischer Konkurrenzkämpfe stellte die kriegerische Zerschlagung Jugoslawiens in den 1990er Jahren dar. In diesem auf den auch von deutscher Seite angeheizten Bürgerkrieg folgenden Angriffskrieg der NATO nahmen erstmals nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder deutsche Streitkräfte an kriegerischen Auseinandersetzungen teil. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, so der damalige grüne Außenminister und Ex-Sponti Josef Fischer, bombardierten NATO-Kampfjets Städte in der Teilrepublik Serbien.
Deutschland muss, durch den Zwang der imperialistischen Logik, die Interessen anderer Länder seinem Streben nach Profitquellen unterordnen. Dies ist auch der Grund, warum Friedensappelle4 an die Regierung ebenso Zeitverschwendung sind wie der Verweis auf die deutlichen Mehrheiten bei der Ablehnung von Krieg, Waffenlieferungen etc., wenngleich sie dennoch ein Potenzial sozialistischer Friedenspolitik verdeutlichen. Die Vertreter des liberalen Bürgertums finden die Warnungen vor einem Dritten Weltkrieg überzogen und lächerlich. Der Weltkrieg jedoch ist in der Logik der imperialistischen Konkurrenz am Weltmarkt angelegt. „Der dritte Weltkrieg ist daher keine ‚fixe Idee‘, sondern logisches Resultat der gegenwärtigen Entwicklung der Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten.“5 Die Frage, ob es wieder einen Weltkrieg geben kann, ist also falsch gestellt, den der Weltkrieg ist inhärenter Teil des imperialistischen Systems. Es gibt aber – anders als es die bürgerliche Geschichtsschreibung fälschlicherweise darstellt – nicht den einen explosiven geschichtlichen Moment, der zum Weltkrieg führt. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess der Verschärfung der Widersprüche zwischen den komplexen Interessen der Nationen und ihren Kapitalistenklassen. Krieg ist dann das Mittel des Konflikts ab dem Punkt, an welchem Diplomatie, Wirtschaftskrieg und Drohgebärden nicht mehr zu dem gewünschten Ergebnis führen. Es ist die Fortsetzung desselben Konflikts mit anderen Mitteln.6 Diesen Konflikt kann demnach nur beenden, wer ein entgegengesetztes Klasseninteresse hat, ergo die Arbeiterklasse.7
Im Bürgertum weiß man logischerweise um die Bedingungen der eigenen Klassenherrschaft und weiter, dass es dafür die Zeitenwende ebenso braucht wie den „Sieg der Ukraine“, was übersetzt heißt; die Schwächung des russischen Konkurrenten.8 Der Ruf nach Waffenlieferung in die Ukraine ist zugleich ein Ruf nach industriellen Investitionen in die Zeitenwende. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Nur durch die Aufrüstung und Mobilmachung Deutschlands lässt sich der Kampf um die größtmöglichen Anteile am Weltmarkt gewinnen. Dieser Kampf wird heute wieder erbittert geführt, nicht zuletzt, weil die US-amerikanische Vorherrschaft am Weltmarkt durch die nachholende Entwicklung in ehemaligen Kolonien, wie China, Brasilien und Südafrika, auf Grundlage alternativer Entwicklungsmodelle inzwischen gefährdet ist.9 Es gilt den Herrschaftsanspruch militärisch durchzusetzen, denn von der US-Dominanz und ihrer militärischen Potenz sind alle anderen „westlichen“ Mächte abhängig.10 Dieses Klasseninteresse muss jetzt mit aller Kunst der Ideologieproduktion ausgeschmückt werden.11 Der Weltkrieg selbst wird ästhetisiert.12 Der Moralismus, dem sich das Bürgertum zu diesem Zweck bedient, hat sich im Zuge des Ukraine-Kriegs in schwindelerregende Höhen gesteigert. Das hilft zwar den Meinungsmachern in den Medien und den politischen Figuren in der Regierung, gegenüber der Bevölkerung zu verdecken, dass es sich hier um ihre Klassenagenda handelt, kann aber offensichtlich die Mehrheit nicht überzeugen.13 Das kollektive Gedächtnis funktioniert besser, als es den fanatischen Schreihälsen und neuentdeckten Transatlantikern lieb ist. In den unteren Schichten des Proletariats schaltet man auf Durchzug. Zu offensichtlich ist die Propaganda, zu dummdreist die Lügen. Das Bürgertum aber fordert Anpassung, und wer diese schon nicht durch die mantraartige Wiederholung der immer gleichen Phrasen demonstrieren will, der gilt als verdächtig. „Heute schließlich werden Aufrüstung und Kriegsvorbereitung – auch in den Köpfen – bis zum Wahn gesteigert“.14 Was sind denn schon Preissteigerungen und Inflation, also ein paar hundert Euro weniger in der Tasche für alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen oder der Verlust zehntausender Arbeitsplätze gegen die heilige deutsche Mission, Europa vom unmoralischen Übel zu befreien, das sich in den Widersachern der deutschen Interessen manifestiert. Da das Bürgertum Probleme hat, das Proletariat in diesen ideologischen Nebelschleier zu hüllen, muss zu anderen Maßnahmen gegriffen werden. Widerrede wird nicht geduldet, wer es wagt, Widersprüche oder soziale Probleme anzusprechen, der wird von den bürgerlichen Medien mit Anschuldigungen bombardiert, vorsorglich als Rechter oder putinscher Verschwörer denunziert und damit politisch kaltgestellt. Das löst zwar den Konflikt nicht, schafft aber genug Passivität, um die eigene Agenda ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen zu können. Sozialistische Politik muss deshalb mehr denn je die materiellen Interessen der Arbeiterklasse in den Vordergrund rücken, um diese Passivität zu durchbrechen.
„Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind nothwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatirbaren, & an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses“.15
Erika blüht und dieser Tatsache soll sich keiner in den Weg stellen. Dass inzwischen der Großteil dessen, was man früher unter dem Begriff „deutsche Linke“ fassen konnte, ins selbe Horn bläst, verwundert nicht.16 Es beweist schlussendlich nur, was längst tausendfach festgestellt wurde: Die deutsche Linke ist bürgerlich. Die aktuellen Krisenerscheinungen bringen lediglich alle Teile des Bürgertums zusammen und vereinigen sie im Kampf für die nationale Sache. Man sieht dies beim rechten Flügel der Linkspartei. Dort wird eifrig darum gerungen, die Partei „regierungstauglich“ zu machen. Entscheidend ist dabei, wie sich aus dem Parteiprogramm die Erfahrungen von über zweihundert Jahren sozialistischer und proletarischer Kämpfe gegen Krieg und Imperialismus heraussezieren lässt. Es muss der deutschen Staatsräson entsprochen werden, um die Anerkennung der politischen Elite zu bekommen, um die man schon so lange buhlt. Das Grundproblem bleibt seit Jahrzehnten unverändert; den Linken fehlt die Verbindung mit dem Proletariat und das schwächt den politischen Einfluss auf jenes sowie dessen Organisierung.17 Ohne die Klassenmacht des Proletariats gibt es keine Linke, können Krieg, Hochrüstung und Imperialismus nicht gestoppt werden. Einzig allein der Klassenkampf vermag es, in den Lauf der Geschichte einzugreifen und ihn zu verändern.
Dass sich ein Weltkrieg noch verhindern lässt, dafür stehen die Karten aufgrund des oben dargelegten Organisationsproblems schlecht. Für die NATO und die USA ist der Krieg in der Ukraine eine notwendige Bedingung, um Russland auf dem Rücken der Ukrainer zu schwächen. Ein anderes Ausmaß wird der Krieg gegen China annehmen, der längst vorbereitet wird und in dem sich NATO-Länder dann direkt beteiligen werden.18 Ohne kämpfende organisierte Klasse gibt es nichts, was dem entgegengehalten werden kann. Dennoch bleibt es unsere Aufgabe, die Nebelschleier zu zerreißen und selbst, wenn der Krieg kommt, wird es ein Währenddessen und ein Danach geben, und wir wissen um die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die derartige Situationen eröffnen. Denn „ganz gleich, wie sehr sich der sturmgeplagte Baum nach Ruhe sehnt, der Wind folgt seinen eigenen Gesetzen.“19 Jeder Krieg in welchem die Herrschenden der Nationen ihre Proletarier an die Kanonen verfüttern, trägt das Potenzial in sich, den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit zum Bersten zu bringen.
Wer heute antritt, um für eine sozialistische Perspektive zu kämpfen, der muss nicht nur den Marxismus und die historischen Erkenntnisse der Arbeiterbewegung schützen und verteidigen, sondern auch seinen Gegnern im eigenen Lager offen Kontra geben. Es kann keine starke Linke geben ohne Klarheit und ohne Verbindung zur Arbeiterklasse. Mehr denn je muss ein klarer ideologischer Trennstrich zum Liberalismus gezogen werden! Dazu gehören ideologische Konflikte mit den höhergestellten Schichten der Klasse ebenso wie mit dem Bürgertum und den Kapitalisten. Das materielle Interesse unserer Klasse muss im Fokus unserer Kämpfe stehen. Wir sind heute noch nicht in der Lage, unsere Aufgabe zu erfüllen und mögen den nächsten Weltenbrand nicht verhindern können. Als Sozialisten und Kommunisten aber hatten wir nach dem Zweiten Weltkrieg, dem deutschen Faschismus und dem Holocaust geschworen: Erika darf nie wieder blühen – zum Wohle aller Menschen. Diesem Schwur bleiben wir verpflichtet.
1Friedrich Engels: Vorwort zur 2. deutschen Ausgabe der „Lage der arbeitenden Klasse“, MEW Band 22, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 319,
2https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8855
3https://www.autonomie-magazin.org/blog/2022/03/01/zum-krieg-um-die-ukraine/
4https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
5Die Krise des Imperialismus und der „Europäische Frühling“, S. 15, Redaktion der Zeitschrift „Kommunismus“, Verlag Leo Jogiches, Juni 2015, online hier: https://kombibl.files.wordpress.com/2019/01/kommunismus_europ%C3%A4ischer_fr%C3%BChling.pdf
6https://www.autonomie-magazin.org/blog/2018/04/24/flexitarier-in-einer-welt-der-fleischfresser-der-scheidende-bundesaussenminister-sigmar-gabriel-erklaert-uns-wie-wir-auch-zukuenftig-no/
7https://www.autonomie-magazin.org/blog/2022/11/10/liberalismus-und-krieg/
8https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/deutschland-will-den-krieg-warum-eigentlich
9https://jacobin.de/artikel/scholz-und-baerbock-sicherheitskonferenz-nationale-sicherheitsstrategie-ukraine-krieg-russland-nato-usa/
10https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-02-14/nato-struggles-to-meet-spending-goals-as-it-mulls-higher-target
11https://www.jungewelt.de/artikel/438167.deutsche-magische-ideologie.html
12https://www.jungewelt.de/artikel/433377.kritische-theorie-%C3%A4sthetischer-weltkrieg.html
13https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/deutschlands-oeffentlichkeit-zur-gegenoffensive-ukraine
14Arnold Schölzel: Fünfundzwanzig Jahre. Rotfuchs Februar/2023, S. 2, online hier: https://rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2023/RF-301-02-23.pdf
15Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, Dietz Verlag, Berlin 1969, S. 26, online hier: http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_017.htm#S26
16https://www.autonomie-magazin.org/blog/2022/03/13/die-moralismus-falle/
17https://www.autonomie-magazin.org/blog/2020/12/13/ist-da-jemand/
18https://www.autonomie-magazin.org/blog/2023/01/20/die-usa-bereiten-sich-schon-auf-den-naechsten-krieg-vor/
19Baoshu: Großes steht bevor. Zerbrochene Sterne, Heyne Verlag, München 2020, S.227