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Antifa-Roman

16 | Der Angriff

Der Weg von der Schule zu Vera ist nicht weit. Ein paar Kilometer den Zweiten Ring entlang. Das Dichterviertel, wo Vera wohnt, liegt am Rande der Innenstadt von Wiesbaden. Genau wie die Leibnizschule. Stefan geht von zehn Minuten Fahrt mit dem Rad aus. Sie sind in zwei Stunden bei Vera verabredet. Er beschließt, eine Runde durch den Wald zu drehen. Das Wellritzbachtal entlang, an der Fasanerie vorbei, hoch zum Jagdschloss Platte. Sein Wohnhaus liegt fast auf dem Weg. Aber er meidet die Villa, wenn es irgendwie geht. Dort sieht es aus wie in Schöner Wohnen, nichts liegt herum, nichts ist menschlich, nichts ist gemütlich. Jeder Gegenstand ist perfekt platziert. Marc war dort einmal zu Besuch. Er war angewidert. Er hatte Stefan damals die Augen geöffnet, als er ihm zuflüsterte: „Wann kommt denn die Sklavin, die mir einen handgepressten Orangensaft von euren Plantagen anbietet?“

Stefan hatte ihn fragend angesehen.

„Naja, hier wirkt es doch genau so. Alles strahlt Kälte aus. Das erinnert mich an die Villen in ‚Django Unchained‘“

„Ist mir noch nie aufgefallen“, hatte Stefan geantwortet.

Dann tauchte Stefans Vater auf, der Herr Professor. Er verabschiedete seine Sekretärin.

„Wow“, hatte Marc gesagt. „Was ist denn das für eine Bitch?“

„Die rechte Hand meines Vaters.“

„Was, die?“

„Eine Art persönliche Assistentin.“

„Aha, so heißt das heute.“

„Sie begleitet ihn bei seinen Dienstreisen.“

„Das ist doch nicht dein Ernst? Flippt da deine Mutter nicht aus? Ist doch klar, was da läuft.“

Erst dadurch fiel Stefan auf, dass seine Mutter regelmäßig Tabletten nimmt und auch schon mal mittags an einem Piccolo nippt.

Mein Vater weiß gar nicht, was in der Schule los ist. Interessiert ihn nicht. Aber auch sonst nichts von mir. Eigentlich habe ich noch nie mit ihm ausführlich gesprochen. Ich weiß nicht mal, ob er weiß, dass ich Kung Fu trainiere.

Stefan radelt entspannt vor sich hin. Seine dunklen Gedanken umwehen ihn. Er kann sie nicht abschütteln. Er ist froh, im Moment alleine zu sein.

Es war heute gut, dass Elena und Marlene mich zurückgehalten haben. Ich hätte die alle nie geschafft. Zwei vielleicht … aber mehr nicht.

Aber selbst wenn wir ihnen ebenbürtig wären, welchen Sinn hätte eine gewalttätige Auseinandersetzung? Um was geht es denn eigentlich? Immerhin sind wir ja keine Rocker, die um ihr Revier kämpfen. Oder doch? Ehrlich gesagt will ich die weg haben! Ich will, dass wieder Ruhe ist. Ich will wieder friedlich in die Schule gehen können. Aber scheinbar geht das nicht so einfach. Die sollen verschwinden, sollen uns in Ruhe lassen, sollen ihre widerliche Meinung nicht kundtun. Bin ich deshalb intolerant? Ist es intolerant, menschenverachtende Parolen zu bekämpfen? Warum will ich denn nicht, dass die „Keine Überfremdung Deutschland den Deutschen!“ rufen? Und von der „reinen Rasse“ sprechen?

Sollen sie doch!

Oder?

Nein, ich will das nicht. Das ist gegen meine Überzeugungen. Es ist menschenfeindlich.

Stefans Weg führt durch den Wald. Die Straße zur Fasanerie ist asphaltiert, darf aber vom regulären Verkehr eigentlich nicht benutzt werden. Manche tun es trotzdem, deshalb fahren nur wenige Autos an ihm vorbei. Gemütlich radelt er vor sich hin. Gemütlich radelt er vor sich hin.

„Hey, Stinkhippie“, ruft ihm plötzlich eine Stimme von hinten zu. Stefan dreht sich um. Er hört noch das Geräusch einer Sprühdose, dann schießt ein Nebel in sein Gesicht. Reflexartig schließt er die Augen.

Zu spät.

Es brennt wie die Hölle. Er reißt die Augen auf. Panik. Er sieht zwei Personen auf einem Mofa davonfahren. Ein blaugestreifter Helm bleibt ihm in Erinnerung. Dann versinkt alles in einem Schleier. Seine Augen stehen in Flammen. Er presst die Hände auf das Gesicht. Ich bin blind!, schießt es ihm durch den Kopf. Säure!

Dann stürzt er und fliegt in den Wald.

Seine Atemwege sind zugeschnürt. Er röchelt. Es schmerzt in Mund und Rachen. Stefan bekommt keine Luft mehr. Als er aufsteht, taumelt er rückwärts und stößt gegen einen Baum. Die Beine knicken weg.

Ich ersticke!

Er fällt auf den Waldboden. Sein Rucksack knallt ihm schwer ins Kreuz. Er schmeckt Erde. Panik überfällt ihn. In seiner Blindheit wälzt er sich über Blätter und Zweige. Seine Lunge schreit nach Sauerstoff. Die Finger reißen die Augen auf, wischen darin herum, schmieren Dreck hinein. Der Schmerz wird schlimmer, die Welt liegt unter einem Tränenschleier. Überall weiße Schlieren. Er reibt seine Augen und brüllt. Sandkörner schmirgeln unter seinen Augenlidern. Er heult und krampft. Dann kotzt er. Schleim und Rotz laufen ihm aus dem Mund.

Ich kann nichts mehr sehen. Ich verliere meine Augen. Ich kann nie wieder ins Kung-Fu. Ich werde behindert sein. Ich brauche einen Blindenhund. Ich laufe mit weißem Stock umher und gelber Armbinde. Wer war das? Warum ich? Oh, mein Gott!

Dann klopft sein Verstand an. Seine rasenden Gedanken halten inne. Die Vernunft kämpft sich nach vorne. Die Logik übernimmt langsam wieder die Kontrolle.

Finger weg von den Augen! Keine Panik! Stefans Gehirn meldet sich zurück. Das Geräusch. Das Sprühen, das Zischen bedeutet Spraydose. Spraydose bedeutet Gas. Gas bedeutet Pfefferspray. Pfefferspray ist keine Säure! Seine Gedanken rasen. Pfefferspray lässt die Augen tränen, löst Atemnot aus. Das wiederum sorgt für Panik. Ich ersticke nicht. Pfefferspray tötet nicht. Es macht kampfunfähig, lähmt die betroffene Person. Aber es tötet nicht.

Ich werde überleben. Und ich werde nicht blind werden! Ich werde wieder sehen können!

Sein Herzschlag beruhigt sich. Sein Atem geht stoßweise, aber gleichmäßiger. Er kniet am Straßenrand. Die Augen brennen. Er hebt den Kopf und zwingt sich zur Ruhe. Augen vorsichtig geschlossen halten. Leicht zwinkern. Tränenfluss auslösen. Pfefferspray ausweinen.

Er kann sich wieder beherrschen. Die Selbstkontrolle nimmt zu, die Panik ab. Langsam erscheinen die Konturen des Baums über ihm. Dann Wolken.

Hände an der Hose abwischen. Finger in den Mund stecken und sauberlecken. Augenlid herunterziehen. Tränen fließen lassen. Die waschen die Sandkörner aus den Augen.

Die Erinnerung an die Empfehlungen aus einem Survivalhandbuch der US-Army laufen mechanisch vor seinem geistigen Auge ab. Beherrschung ist das wichtigste Mittel gegen Panik.

Flach strömt wieder Luft in seine Lungen. Das Japsen lässt nach. Konzentriere dich! Atme langsam und vorsichtig.

Der Baum wird deutlicher.

Ich erkenne einzelne Zweige.

Brechreiz tobt in seinem Magen. Wasser ist gut gegen Gas. Er tastet nach seinem Rucksack, zieht eine Sprudelflasche heraus, dreht seinen Kopf zur Seite. Tränen fließen ihm über Gesicht und Wangen. Er gießt Wasser in das offene Auge. Immer von der Nase nach außen, erinnert er sich, damit nichts ins zweite Auge läuft.

Er wechselt die Seiten. Das Brennen lässt nach. Die Flasche ist leer. Ein Busch leuchtet grün.

Farben. Stefan würgt. Sein Atem geht ruhiger. Langsam kann er die Luft wieder tief einsaugen.

Er setzt sich auf. Die Straße liegt deutlich vor ihm. Ihm ist schlecht.

Mit einem Taschentuch wischt er sich das Blut vom aufgeschlagenen Ellenbogen.

Ein gelbes Postauto hält neben ihm. Jemand steigt aus.

„Alles klar?“, fragt der Postmann und geht neben ihm in die Hocke. „Soll ich einen Arzt holen?“

„Nee. Danke. Alles wieder in Ordnung“, sagt Stefan und will zum Beweis aufstehen. Sein leerer Magen rebelliert. Die Beine knicken weg. Zwei Arme halten ihn.

„Was ist denn mit Ihnen passiert?“

Stefan schaut seinen Helfer an, der ihm besorgt ins Gesicht sieht.

„Bist du verletzt?“

„Nein, ich glaube nicht.“

Vorsichtig lässt er Stefan los. Der sinkt auf den Boden.

„Es geht schon wieder. Vielen Dank!“

„Soll ich einen Krankenwagen holen? Oder die Polizei?“

„Nein, Danke. Aber haben Sie vielleicht Wasser?“

„Na klar, im Auto.“

Der Mann springt auf und holt eine Flasche. Stefan trinkt und spült sich den Mund aus.

Er kann wieder deutlich sehen. Die Augen tränen noch. Er erinnert sich an die sprayende Person. Nur einen Sekundenbruchteil sah er in das hasserfüllte Gesicht. Aber er hat es unter dem blaugestreiften Helm erkannt. Es gehört einem aus der Gruppe der Rechten. Stefan hat den Typ dort schon gesehen. Er war einer von denen, die ihn heute verhöhnt haben. Er begreift: Er hat seine erste Lektion bekommen.

„Das waren Nazis!“

„Was?“

Der Postmann schaut ihm verdutzt ins Gesicht.

„Das waren Nazis. Die haben mir Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Von einem Mofa aus.“

„Sicher? Hier, in Wiesbaden?“

„Na klar. Wieso denn nicht hier? Die Dumpfbacken gibt es nicht nur im Osten. Die gibt es überall!“

„Ja, das stimmt wohl. Leider. Gestern hab‘ ich eine neue Parole unter einer Brücke gesehen. Irgendwas gegen Flüchtlinge oder so.“

„Und die AfD war auch letzte Woche hier.“

„Hab‘ ich gelesen. Proteste dagegen gab es aber auch.“

„Bei uns an der Schule gibt es auch Nazis. Ach, und danke, dass Sie mir geholfen haben.“

„Gern. Geht’s dir denn wieder gut? Kannst du laufen?“

Stefan erhebt sich langsam. Die Beine sind noch weich, aber er steht stabil.

„Soll ich dich mitnehmen?“

„Nee, nee. Geht schon! Danke!“

„Hier ist meine Visitenkarte. Falls du mal Hilfe brauchst oder so. Nazis finde ich auch scheiße. Aber ich muss jetzt weiter. Briefträger ist ein echt stressiger Job.“

Stefan schaut auf die Karte.

„Danke, Herr Schwegel. Vielen Dank! Hoffentlich sehen wir uns mal wieder.“

„Bestimmt“, ruft er winkend zurück.

Dann startet er den Motor und fährt los.

Zurück bleibt ein nachdenklicher Stefan.

Nazis sind hinterhältige und gefährliche Schweine. Ich muss ab jetzt höllisch aufpassen! Die wollen mich einschüchtern. Das war eine Warnung! Was kommt als Nächstes?