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Antifa-Roman

23 | Die Versammlung

Am Mittwoch sitzen Stefan und Petra auf dem Podium der Versammlung. Barzel hat sich weit außen am Rand platziert. „Es ist eure Versammlung, nicht meine!“ Er will zeigen, dass er zwar Schirmherr ist, aber die Leitung den beiden Schülern überlässt. Scheinbar unbeteiligt wühlt er in ein paar Unterlagen herum. Doch seinen wachen Augen entgeht nichts.

Der Raum füllt sich langsam, aber stetig. Marlene und Marc haben sich am Eingang postiert. „Ihr habt das Hausrecht“, hat Barzel ihnen erklärt. „Deshalb könnt ihr Schüler von anderen Schulen und „Nicht-Mitschüler“ abweisen!“

Das ist wichtig, denn sie wollen verhindern, dass Nazis an der Versammlung teilnehmen. „Aber Schülern der Leibnizschule könnt ihr den Zugang nicht verwehren! Egal wer es ist!“ Bisher hat sich niemand der Rechten blicken lassen. Etwa siebzig Jugendliche sitzen bereits im Raum, als ein älterer Herr auftaucht. Er ist kein Lehrer und Marc und Marlene unbekannt.

„Wer sind Sie?“, spricht Marlene ihn an. „Das ist eine interne Schulveranstaltung.“

„Ich bin ein Gewerkschaftsfreund von Herrn Barzel und heiße Edgar Fremers“, antwortet der Graubärtige, der wie Barzel einen ruhigen und sympathischen Eindruck macht. Sein Kopf ist kahl und durch seine kleine silberne Brille blicken Marlene und Marc hellblaue, wache Augen an. Er ist knapp einsneunzig groß, schätzt Marc, und wirkt ziemlich durchtrainiert für einen Fünfzigjährigen. Seine Erscheinung ist eine Mischung aus Pumuckls Meister Eder und The Rock. Er ist mit Jeans und einem abgetragenen Jackett bekleidet. Seine Erscheinung wirkt auf Anhieb sympathisch und er strahlt Vertrauen aus.

„Ich würde gerne an der Versammlung teilnehmen. Wenn ihr erlaubt. Ich werde auch nichts sagen. Aber mit euch würde ich mich gerne einmal treffen. Vielleicht können wir ja nachher, wenn ihr mich reinlasst, einen Termin ausmachen?“

Marc und Marlene wechseln einen kurzen Blick. Dann blicken sie Hilfe suchend zu Barzel auf dem Podium. Der nickt ihnen kaum merklich zu, um sich dann wieder seinen Papieren zu widmen. Niemand aus dem Raum hat diese knappe Kommunikation mitbekommen. Marc und Marlene lassen Edgar herein.

„Na, da bin ich ja mal gespannt“, raunt Marlene Marc ins Ohr.

Als sie sich wieder umdreht, steht Peter Müller vor ihr.

„Guten Abend. Ist das hier die Versammlung wegen des interessanten Flugblattes?“, fragt er falsch lächelnd.

Marlene starrt ihn nur mit offenem Mund an. Mit dem Nazi hat sie in diesem Moment nicht gerechnet.

In seinem Gesicht liegen Arroganz und Verachtung. Hinter ihm stehen vier seiner Anhänger. Sie grinsen. Zwei von ihnen kennt Marc vom Sehen.

„Wir dürfen doch rein? Ist ja immerhin eine Schulveranstaltung. Und etwas Bildung kann meinen Jungs und mir sicherlich nicht schaden.“ Er spricht süffisant und versucht offenbar, Christopher Waltz als SS-Standartenführer Hans Landa in Inglourious Basterds zu imitieren.

„Aber natürlich“, antwortet plötzlich eine Stimme über Marcs Schulter. Es ist Lehrer Barzel. „Wer sich bilden will, ist immer willkommen. Ist ja vielleicht mal was anderes als das hirnlose Allerlei, das ihr vermutlich von den AfD-Schulungen so kennt. Hereinspaziert. Seid herzlich willkommen in einer demokratischen Runde. Ist ja bestimmt das erste Mal für euch!“

Peter Müller schaut Barzel böse an. Seine Coolness ist verflogen. Der Lehrer lächelt belustigt zurück. Sein ganzer Körper, seine Haltung, seine Mimik, alles an ihm strahlt dem Nazichef eine Botschaft entgegen: Du bist ein kleiner, widerlicher, abstoßender Wicht. Du ekelst mich an. Wenn ich könnte, würde ich dir den Hals umdrehen. Aber hier bin ich nett zu dir. So nett, dass du kotzen musst.

„So, und nun öffnet mal die Jacken und Taschen. Wir wollen mal einen Blick da rein werfen.“

Damit tritt er auf Müller und seine Begleiter zu.

„Edgar, kommst du mal und hilfst mir!“

Der graubärtige Hüne tritt neben den eher schmächtigen Barzel. Er strahlt über das ganze Gesicht.

Hagrid trifft Malfoy, schießt es Marc durch den Kopf.

„Na, dann meine Herren, Jacken auf.“

Müller zögert.

„Das dürfen Sie nicht.“

„Ach nein?“, sagt Barzel ruhig. „Das sagt wer?“ Du schleimiger Wattwurm, vervollständigt er den Satz in seinem Kopf.

Doch statt zu antworten, wirft Müller Barzel nur einen hasserfüllten Blick zu. Widerwillig öffnet er die Jacke.

Als der durchsuchte Nazichef an Barzel vorbeigeht, hält der ihn kurz am Gürtel fest. Seine Lippen liegen an seinem Ohr. Er flüstert: „Bevor ich es vergesse: Wenn ihr euch nicht benehmt, dann fliegt ihr raus. Das geht ganz schnell und ist juristisch einwandfrei. Das Hausrecht haben die Veranstalter.“

Laut sagt er: „Viel Spaß! Und auf einen fairen politischen Diskurs!“

Er blickt Müller tief in die Augen.

Marc hat alles mitbekommen. Er ist von Barzel begeistert.

Der Typ ist echt in Ordnung!

Peter Müller überlegt, was er sagen soll. Mechanisch läuft er ein paar Schritte in den Raum. Endlich fängt er sich und dreht sich um. Mit lauter Stimme sagt er: „Aber Herr Barzel, ich kenne doch die Regeln des demokratischen Dialogs. Meine Jungs und ich möchten nur an der Versammlung teilnehmen. Ist doch nicht verboten, nur weil wir eine andere Meinung vertreten.“

Seine Überheblichkeit ist zurückgekehrt. Ein Angsthase ist er nicht.

„Dann willkommen, du bekennender Antidemokrat und Rechtsradikaler!“ sagt Barzel so laut, dass es alle am Eingang hören.

Die Schüler im Saal drehen sich zu Müller um. Sie wissen alle, was er für einer ist, Hipster-Outfit hin oder her.

Tja Peter, das nennt man Eigentor, denkt Marc.

„Wollen Sie mir eigentlich mit der Nummer hier drohen?“, fragt Müller schnippisch. „Oder was soll das Ganze?“

„Nein, mein Lieber. Ich informiere dich nur vorbeugend“, gibt Barzel lächelnd zurück.

„Sind die anderen eigentlich auch durchsucht worden? Oder wurden nur wir sonderbehandelt?“

„Sonderbehandlungen sind doch von den Nazis erfunden worden, oder? Dürfte dich also nicht wirklich stören.“

Edgar schiebt sich ins Bild.

„Du machst ja hier ganz schön die Show. Hast’s wohl nötig vor deinem Anhang?!“

„Ein bisschen mehr Respekt bitte!“ Müller versucht, furchteinflößend zu wirken. Doch das ist vor einem Einmeterneunzigmann schwierig. Seine Worte wirken lahm.

„Junger Mann, Respekt kann man nicht einfordern, den muss man sich verdienen“, sagt Edgar ruhig. „Und das ist nun mal bei Nazis schwer!“

„Wieso?“, fragt einer von Müllers Lakaien dümmlich von hinten. „Wieso ist das bei uns schwer?“

Der versteht das wirklich nicht. Marc kennt ihn vom Sehen. Der steht immer in der Gruppe auf dem Schulhof. Bei dem Miniatur-IQ ist der mit atmen, stehen und Wasser halten schon voll ausgelastet. Da ist dann kein Raum mehr für subtile Anmerkungen.

„Genau, was soll das mit dem Respekt? In zwei Minuten haben wir uns hier Respekt verschafft“, sagt der Nächste und begibt sich in Kampfposition.

„Schnauze!“, pöbelt Müller seinen Anhänger an. „Jacken öffnen und weitergehen!“

„Ihr verdient keinen Respekt, weil ihr der Unrat der Geschichte seid. Weil ihr alles gut findet, was gegen Menschlichkeit und Mitgefühl ist“, sagt Marlene zu dem dümmlichen Nazi-Jungen. „Weil ihr feige nach unten tretet und blödsinnig widerwärtigen Schwachsinn nachplappert.“

„Das reicht“, brüllt der Nazi in Kampfpose. „Ich werde dich Respekt lehren, Ausländerschlampe.“

Lehrer Barzel schiebt sich vor den Jungen.

„Noch ein rassistisches Wort und du bleibst draußen, kapiert?“

Der Typ schaut ihn unsicher an.

„Kapiert, habe ich gefragt.“

„Ja“, antwortet er kleinlaut.

„Das war eine gute Erklärung“, sagt Barzel gelassen zu Marlene. Dann dreht er sich zu dem Nazi um. „Nazis kann man nicht respektieren, mit ihrer Menschenverachtung, ihrem Rassenhass und ihrem Führerglauben.“

Der erste Nazi-Lakai ist immer noch mit der Verarbeitung der komplexen Sätze beschäftigt. Er ahnt, dass sie alle gerade irgendwie beleidigt wurden, weiß aber nicht genau, inwiefern, von wem jetzt genau und wodurch. Normalerweise würde er jetzt einfach zuschlagen. Aber das kann er in der Schule nicht machen. Außerdem wabert noch eine Frage in seinem nun extrem hochdrehenden Gehirn herum: Wieso soll der Glaube an einen Führer abstoßend sein? Ist doch total praktisch! Peter Müller mischt sich ein.

„Kommt jetzt, und haltet keine Maulaffen feil.“ Sie stolpern in die Richtung, in die ihr Anführer sie schiebt.

Als Stefan und Petra die fünf Nazis sehen, bleibt ihnen die Spucke weg. Natürlich hatte die Sechserbande im Vorfeld überlegt, dass sie kommen könnten. Für den Fall hatten sie beschlossen, nichts zu unternehmen, sondern cool zu bleiben. Aber es ist dann doch etwas anderes, wenn die verhassten Feinde plötzlich leibhaftig den Raum betreten.

Die Nazis fallen zwischen den Anwesenden optisch nicht besonders auf. Sie sehen aus wie alle. Als sie in der Mitte des Raums Platz nehmen, bildet sich Marc ein, eine Stimmungsänderung wahrzunehmen. Allein ihre Gegenwart hat etwas Bedrohliches.

Oder ist es nur Einbildung?

Die Feindschaft zwischen der Sechserbande und den Nazis ist für Marc fühlbar. Registriere nur ich das? Oder fühlen das alle?

Als Celeste von ihrem Smartphone hochblickt, sieht sie direkt in das Gesicht von Peter Müller. Er starrt sie an. Blanker Hass schlägt dem schwarzhäutigen Mädchen entgegen. Sie weiß sofort, wer die fünf Typen sind: Rassisten. Wenn man in Deutschland lebt und sich optisch von anderen Menschen unterscheidet, dann entwickelt man einen siebten Sinn, einen Überlebensinstinkt für potenziell gefährliche Menschen. Peter Müller ist so einer. Ebenso seine vier Begleiter. Celeste schaut instinktiv auf die Hosenbeine. Keine freie Wade zu sehen. Sie fühlt sich unwohl. Doch sie kann nichts tun.

Petra beugt sich zu Stefan.

„Ich kann die einleitenden Worte nicht sagen. Ich flippe gleich aus.“

„Reiß dich zusammen. Ist doch eine prima Übung. Eine intensive Selbsttherapiestunde. Tagesthema heute: Selbstüberwindung und Angstabbau“, antwortet er salopp.

„Ich wollte frei sprechen üben, aber nicht gleich die totale Konfrontation“, antwortet sie mit zitternder Stimme. Am liebsten würde sie jetzt eine rauchen. „Die Nazis machen mich fertig. Ich kann das echt nicht, Stefan!“

„Wir machen es so: Du fängst an. Sobald du zögerst oder stotterst, übernehme ich.“

„Nein Stefan, bitte. Fang du an!“

„Der Mensch wächst an seinen Aufgaben. Du schaffst das.“

Petra würde am liebsten wegrennen.

Nach etwa einer halben Stunde ist der Raum voll besetzt. Außer Herrn Barzel und Edgar sind keine Erwachsenen da.

Die Anwesenden sitzen in Gruppen zusammen. Die meisten verbindet irgendetwas: Sie gehen in eine Klasse, spielen in einer Band oder einem Verein oder teilen ein Hobby. Die Skater hängen lässig mit ihren weiten Klamotten und ihren Boards auf den Tischen an der Wand, in der Mitte sitzen ein paar Schüler aus der Unterstufe und eine große Gruppe türkisch aussehender Mädchen spielt vorne mit ihren Smartphones. Es ist ein reges Treiben und Geraune, bis Petra auf dem Podium aufsteht. Sofort wird es still. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Petra räuspert sich und sagt: „Ich möchte euch zu dieser Vollversammlung herzlich begrüßen!“

Nur Eingeweihte können ihre Nervosität hören. Für alle anderen wirkt Petras Stimme ruhig und gelassen, als sie mit dem vorbereiteten Text beginnt: „Wir haben dieses Treffen organisiert, weil wir mit euch gerne überlegen möchten, was wir gegen die Naziaktivitäten an unserer Schule tun können. Immerhin ist das braune Flugblatt nicht das erste Mal, dass an dieser Schule Nazis aktiv sind. Vor einigen Tagen wurde unsere Schule mit rechtsradikalen Sprüchen vollgeschmiert. Freundlicherweise taten Unbekannte etwas dagegen. Allerdings kann es hier nicht um eine Auseinandersetzung zwischen zwei kleinen Gruppen gehen. Hier handelt es sich um eine Angelegenheit, die die gesamte Schule betrifft! Und weil die Schulleitung nichts tut, möchten wir mit euch zusammen überlegen, was wir als Schülerschaft tun können. Wir haben keine Lösung vorbereitet, aber wir werden versuchen, die Debatte von hier aus zu leiten. Also meldet euch, wir notieren die Reihenfolge und rufen euch auf. Da sehe ich schon die erste Meldung. Bitte.“

„Ich heiße Heinz Stunner und bin Juso. Wir von den Jungsozialisten billigen die Parolen und Flugblätter der rechten Gruppen nicht. Aber wir möchten uns ebenfalls auf das Schärfste gegen illegale Aktionen an unserer Schule aussprechen!“

„Bei denen war ich einmal auf einer Antifa-Veranstaltung“, flüstert Marc Marlene stolz zu.

Ein Junge um die 17 Jahre ergreift etwas unsicher das Wort.

Der sieht mit seiner Glasbausteinbrille und dem beigefarbenen Pullover aus wie ein Bücherwurm vom Typ Bill Gates, denkt Petra sofort.

Aber der Junge strahlt Neugier und Selbstsicherheit aus.

„Ich heiße Max und möchte wissen, was du mit illegalen Aktionen meinst. Die Nazischmierereien?“

Heinz antwortet sofort. Sein Gesicht glüht vor Eifer, seine Stimme überschlägt sich fast. Offenbar hat er auf eine solche Frage gewartet. Er ist angriffslustig, redet laut und schnell.

„Ja, beide Schmierereien. Diese ganze Hetze und die Diffamierungen.

Beides ist illegal, es ist Sachbeschädigung.“

Max versteht das offensichtlich nicht. Er lässt nicht locker.

Tapferer Bill Gates.

„Aber die Wand war doch schon von den Nazis beschmiert worden! Die waren doch die Ersten. Und außerdem haben die zweiten Täter doch gar nichts geschrieben. Da steht doch jetzt nichts mehr.“

„Das spielt keine Rolle. Illegale Sachbeschädigung, ja, das ist es! Beides!“

Geraune im Saal.

Irgendjemand ruft: „Aber das ist doch Nonsens. Wäre es besser gewesen, die Parolen stehenzulassen?“

„Nein, aber es gibt Gerichtsurteile, dass auch das Übermalen von Nazisachen Sachbeschädigung ist.“

„Stimmt“, wirft Max ein. „Es gibt da so eine Oma, die überschreibt Nazikram oder macht Aufkleber drauf. Die wird dafür ständig verurteilt.“

„Und deshalb müssen alle anderen diese Nazischeiße an den Wänden ertragen?“, mischt sich Elena ein.

„Tja, so ist das wohl in einem Rechtsstaat.“

„Auf so was habe ich keine Lust“, sagt ein Skater. „Ich will keine rassistischen Parolen lesen müssen, wenn man sie auch wegmachen kann.“

Celeste erhebt sich unsicher. Sie hat noch nie vor so vielen Menschen gesprochen. „Mir machten die Parolen Angst. Ich bin froh, dass sie weg sind.“ Sie schluckt und kämpft mit den Worten. „Wer auch immer die übermalt hat, ich möchte dafür Danke sagen.“

Sie setzt sich und vermeidet es, in Peter Müllers Richtung zu schauen. Seine Blicke spürt sie genau, aber sie möchte ihm nicht die Genugtuung geben, eingeschüchtert zu wirken.

Viele Anwesende klopfen zustimmend auf die Tische.

„Das kann ich verstehen“, Heinz Stunner versucht empathisch zu wirken. „Gerade du bist ja auch besonders betroffen, als dunkelhäutiges Mädchen.“

Celeste schaut ihn an.

„Aber illegal ist es trotzdem. Und deswegen verurteilen wir als Jusos solche Sachbeschädigungen.“

„Das ist doch Schwachsinn!“

„Er hat Recht.“

„Was soll der Quatsch?“

„Nicht nur schwarze Menschen sind betroffen, sondern wir alle.“

Die Schüler rufen durcheinander. Es gibt zwei Lager im Saal: für und gegen die Position von Heinz Stunner.

Peter Müller grinst. Marc ahnt, was er denkt. Der Nazichef freut sich darüber, dass sich die Versammelten erst einmal untereinander in die Wolle bekommen, bevor sich überhaupt irgendjemand irgendetwas gegen Nazis überlegt.

Schön doof. Zerfleischt euch nur. Danke, liebe Jusos. Danke!

Dann eine Wortmeldung in der ersten Reihe. Es ist ein auffallend hübsches, dunkelhaariges Mädchen. Die Haare streng nach hinten gekämmt, die Figur durchtrainiert, die Worte wohl gewählt. Alles an ihr ist das Ergebnis zielorientierter Disziplin.

Die geht bestimmt schon vor dem Frühstück joggen, denkt Marc. Dann nimmt sie einen Toast zu sich, nippt an einem Glas frisch gepressten Orangensaft, den das Hausmädchen schon bereitet hat. Das postet sie dann zusammen mit ihrer Joggingzeit. Ihr Vater ist bestimmt Manager bei Fraport oder bei der Deutschen Bank.

„Mein Name ist Anita, und ich bin aktiv bei der Jungen Alternative in Hessen.“

Stille im Saal.

Dann ruft einer: „Ich will hier keine Rassisten und Leute, die Kinder an der Grenze erschießen wollen.“

„Ich auch nicht!“

„Lass sie doch reden.“

„Wir möchten ebenfalls diesen Akt illegaler Sachbeschädigung durch Linksextreme verurteilen.

Der Vater ist streng, gläubig und erwartet gutes Benehmen. Sie ist perfekt, attraktiv, und sich ihrer Wirkung absolut bewusst. Aber sie hat die Ausstrahlung einer blauen LED-Lampe im Gefrierfach: eiskalt. Ihr Atem legt einen Frostfilm auf jede Seele.

„Außerdem wehren wir uns gegen die Bezeichnung ‚Nazis‘ in Bezug auf die unbekannten Verfasser des Flugblatts der „Freien Kameradschaft Rhein-Main“.“

Ich bin ein Hellseher, freut sich Marc. Sie ist wirklich eine blöde rechte Kuh.

„Wer die Welt so einfach sieht, wird ihr nicht gerecht. Unserer Meinung nach haben alle Menschen ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Wir sollten lieber über den Inhalt des Flugblatts diskutieren. Es enthält durchaus Aspekte, die wir für diskutierenswert halten.“

Synchrones Nicken in der ersten Reihe. Klatschen bei Peter Müller und seine Mannen.

„Ich will so einen Mist nicht diskutieren. Das ist Nazischeiße“, ruft ein Junge von hinten.

„Du bist leider nicht dran“, sagt Peter Müller laut. „Ich kann der jungen Dame nur Recht geben.“ Er nickt ihr aufmunternd zu. „Sie kennt sich offensichtlich gut aus und ist bestens informiert! Eine lupenreine Demokratin. Vielen Dank!“

Anita strahlt und lächelt stolz zurück.

Müller streicht über seinen Bart.

„Freie Kameradschaften sind keine Nazis, sondern Patrioten.“

„Genau wie wir“, freut sich Anita.

„Ihr seid ausländerfeindlich!“, ruft einer aus der Skaterecke mit schlabbriger Cargohose.

„Und die Kameradschaft will eine Diktatur errichten“, unterstützt ihn der Junge mit dem Longboard neben ihm.

„Sie hetzten gegen unsere Mitschüler mit Migrationshintergrund“, ergänzt ein Mädchen mit blauen Haaren. „Ich kenne dich, Anita, du hasst Flüchtlinge und alle Menschen, die anders sind.“

„Nur wenn sie sich abnormal verhalten“, schleudert ihr Anita entgegen.

„Klingt, als ob sich die AfD-Jugend und die Nazis einig sind“, sagt Elena.

Peter Müller schaut sie an. Er antwortet ruhig, aber laut. „Jeder intelligente Mensch ist gegen kriminelle und asoziale Menschen. Und leider machen unsere ausländischen Gäste es uns als Gastgeber wirklich schwer. Sie benehmen sich einfach nicht. Was sollen wir also tun? Sie durchfüttern, obwohl sie uns beklauen?“

„Das ist doch billige Propaganda!“, tönt es in den Raum. „Du unterstellst einfach, dass alle Ausländer kriminell und asozial sind, uns ständig beklauen und wir Deutschen quasi in Notwehr handeln, wenn wir sie abschieben!“

„Das sind doch die Fakten“, antwortet Anita. „Ich kenne die Zahlen.“

„Asylbewerber dürfen sich nicht frei bewegen. Wenn sie ohne Abmeldung den Landkreis verlassen, machen sie sich schon strafbar“, ruft Marlene. „Kann einem Deutschen ja nicht passieren. Logisch! Asylbewerber landen wegen formaler Fehler schnell in der Statistik der Kriminellen.“

„Kriminell ist kriminell“, lächelt Peter Müller achselzuckend, „gleiches Recht für alle!“

„Die dürfen weder arbeiten noch wählen. Nur Steuern zahlen“, kontert einer der Skater. „Von wegen gleiches Recht.“

„Das ist doch Hetze von der Linkspartei“, ereifert sich Anita. Ein pickeliger Junge mit hellblauem Pullunder springt ihr zur Seite. „Und dann wollen die Ausländer auch noch wählen. Verbrechen begehen und dann auch noch wählen wollen. Was soll das denn? Sollen jetzt Asylbewerber von sonst woher die Geschicke unseres Vaterlandes bestimmen? Ausländer? Ausländische Verbrecher?“

„Jetzt mach mal einen Punkt! Ich bin hier geboren und meine Eltern haben einen türkischen Pass. Wieso soll ich hier nicht wählen dürfen?“, ruft ein dunkelhäutiger Junge um die 15 dazwischen.

„Gar keiner sollte mitbestimmen können. Die beste Herrschaftsform ist die Diktatur. Wenn das Volk zusammensteht, dann spricht es mit einer Stimme. Mit der Stimme des Führers“, ruft einer von Peter Müllers Anhang.

Der Nazichef erstarrt. Aber er lässt sich nichts anmerken.

Es herrscht Totenstille. Die Katze ist aus dem Sack.

„Ich finde jeder und jede sollten mitbestimmen dürfen. Das nennt sich Demokratie“, meldet sich der türkisch aussehende Schüler aus der vorletzten Reihe erneut zu Wort. „Auch meine Eltern aus der Türkei. Obwohl sie keinen deutschen Pass haben. Aber sie arbeiten hier, leben hier und zahlen hier ihre Steuern.“

Der Pollundertyp ruft: „Wir bestimmen unser Schicksal, nicht irgendwelche Ausländer!“

Er macht eine kurze Pause und schaut zu Anita. Sie nickt zustimmend.

Dann sagt er: „So welche wie du.“

„Ich habe einen deutschen Pass.“

„Den scheint ja heute wirklich jeder zu bekommen“, zischt Müller.

„Ich bin Deutscher!“, ruft der türkisch aussehende Mitschüler. „Egal ob es Rassisten wie dir passt oder nicht!

„Er ist nicht nur ein Rassist, er ist ein Nazi“, sagt Marc laut in den Raum. „Peter Müller sieht aus wie ein Hipster, aber er ist Mitglied beim Dritten Weg. Sein Vater ist in der NPD!“

Ein Raunen geht durch den Raum.

Peter Müller dreht sich ruhig zu Marc um. Er lächelt siegessicher. Scheinbar hat er auf solch einen Ausruf gewartet.

„Darf ich um deinen Namen bitten. Als Nazi muss ich mich nicht bezeichnen lassen. Und von dir schon gar nicht“ Er lächelt smart.

„Du bist doch beim Dritten Weg, und das ist ja wohl eine Nazipartei!“, ruft Stefan vom Podium.

„Ach ja?“, sagt Müller gelassen. „Meine Partei ist völlig legal und sitzt sogar in verschiedenen Ortsparlamenten. Das dürfte als Beweis für unsere demokratische Gesinnung genügen. Und nun deinen Namen bitte, sonst werden wir dich zur nächsten Wache bringen müssen.“

Bei diesen Worten stehen seine vier Jungs auf und gehen auf Marc zu. Sofort springt Vera Marc zur Seite.

„Wagt euch, ihn anzufassen!“, schreit sie. Ihre Augen funkeln. Leicht ist ihr Oberkörper nach vorne gebeugt. Gegen keinen der fünf jungen Neonazis hätte sie eine Chance. Aber sie wird ihnen Probleme bereiten, das sieht ihr jeder an. Kampflos wird sie ihnen Marc nicht überlassen.

„Oh, der Herr Provokateur lässt sich von einem Mädchen verteidigen“, sagt einer von Müllers Schlägern. „Wie süß. Wohl selbst keine Eier in der Hose!“

Blitzartig tauchen auch Elena und Marlene neben Marc auf. Stefan hat sich ebenfalls auf dem Podium erhoben und läuft in Richtung Tumult.

Peter Müller wendet sich an die Menschen im Raum: „Liebe Mitschüler, ihr werdet nun Zeugen einer wichtigen Lektion. Ein Schüler beleidigt einen anderen Schüler. Dieser möchte Anzeige erstatten, doch der Beleidiger gibt seinen Namen nicht preis. Was soll der Beleidigte also tun? Er muss ja nun einmal dafür Sorge tragen, dass dem Recht genüge getan wird. Nicht wahr? Und da ich die Mittel habe, bringen wir ihn jetzt zur nächsten Polizeiwache. Wenn er nicht freiwillig mitkommt, wenden wir einfachen körperlichen Zwang an. Das ist völlig legal und in diesem Falle sogar geboten.“

Er tritt auf Marc zu. Seine vier Freunde stehen direkt hinter ihm.

„Packt ihn, damit wir in diesem Staat wieder Rechtssicherheit herstellen können.“, sagt der Nazi-Chef laut. Seine Augen leuchten. „Jetzt ist Schluss mit den Antifa-Mätzchen!“, flüstert er Marc durch seinen Bart zu.

Dann steht plötzlich Edgar Fremers wie aus dem Nichts vor Peter Müller. Der bullige Mann blickt ihn wütend an.

„Kein Mensch wird hier von euch angefasst, solang ich in diesem Raum bin!“

Müller und seine Jungs treten einen Schritt zurück. Bevor sie etwas sagen können, spricht Fremers direkt weiter.

„Peter Müller, du bist hierhergekommen, um Ärger zu machen. Das läuft nicht! Und du hast hier, und auch nicht irgendwo sonst, die Befugnis, Menschen festzusetzen. Dafür gibt es Verantwortliche wie Herrn Barzel.“

Peter Müller ist offenbar verunsichert. Mit so entschiedenen Widerworten hat er nicht gerechnet. Er zupft an seinem Bart.

„Außerdem“, belehrt Fremers ihn weiter, „darf man Mitglieder des Dritten Weg als Nazis bezeichnen. Völlig legal. Und willst du auch wissen, warum?“

Müller schweigt, schaut ihn nur an. Er kennt die Antwort.

„Weil ihr Nazis seid. Deshalb.“

Fremers macht eine kurze Pause.

„Und jetzt setz dich mit deinen Mitläufern wieder hin. Benehmt euch oder haut ab!“, sagt er mit fester Stimme.

Peter Müller ist unschlüssig. Seine Mannen warten auf ein Wort ihres Chefs. Schweigend stehen sie neben ihm. Angriffsbereit, aber unentschlossen. Sie warten auf einen Befehl. Fremers wäre kein leichter Gegner. Er ist kein schmächtiger Mitschüler oder ein verschüchterter Obdachloser, leichte Ziele für enthemmte Nazibanden.

„Ich will eigentlich gar nicht mit Nazis diskutieren!“, ruft der türkisch aussehende Schüler, der sich eben schon gemeldet hatte. „Ich finde, sie sollen abhauen!“

„Ja“, stimmt Marlene zu. „Haut ab!“

„Haut ab“, wiederholt Vera rufend. „Haut ab!“

„Keine Nazis“, hallt es nun aus verschiedenen Ecken. Dann formieren sich die Skater als erste zum Chor: „Nazis raus, Nazis raus!“

Die Parole wird aufgegriffen. Fast der ganze Saal ruft sie nun.

Peter Müller wartet. Er wartet auf das Ende.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Müller kennt das von Aufmärschen. Auch dort hallen ihnen Rufe der Ablehnung entgegen.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Meist hören sie irgendwann auf. Doch diesmal nicht.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Seiner Miene ist anzumerken, dass er langsam anfängt zu köcheln. Peter Müller beginnt die Geduld zu verlieren.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Erste Schweißperlen lassen seine Stirn glänzen.

Das spornt die Schüler an. Sie rufen weiter.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Peter Müller hält durch. Seine Jungs schauen nur noch auf den Boden. Sie würden am liebsten jeden Schüler einzeln zusammenschlagen.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Sie wollen einfach nur noch schnell weg hier.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Peter Müller brodelt weiter. Trotzig steht er mit erhobenem Kopf da. Ein Schweißtropfen rinnt an seiner Schläfe herunter.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Sein Bartzwirbeln wird aggressiver.

„Nazis raus! Nazis raus!“

Dann nickt er nur kurz mit dem Kopf. Seine Jungs und er ziehen ab.

„Sieg! Die Ärsche hauen ab!“ Der Saal jubelt. Die Schlacht scheint gewonnen.

Im Türrahmen dreht sich Müller noch einmal um.

„Wir kommen wieder!“, droht er. „So leicht werdet ihr uns nicht los!“

„Das vermute ich leider auch“, flüstert Marc vor sich hin.

Der Saal tobt vor Freude. Schmährufe verfolgen die fünf nach draußen.

Als sich der Saal wieder beruhigt, ergreift Heinz Stunner von den Jusos das Wort. „Ihr habt ja ein tolles Demokratieverständnis“, sagt er. Vera unterbricht ihn: „Hätten wir mit den Nazis etwa diskutieren sollen?“

„Und warum nicht?“, fragt Anita überheblich. „Die hatten doch interessante Vorstellungen. Da kann man doch mal darüber nachdenken. Kann dir sicherlich auch nicht schaden, mal nachzudenken.“

„Soll ich etwa mit einem Menschen diskutieren, der sagt, ich sei kein Deutscher, nur weil ihm meine Hautfarbe nicht passt?“, fragt der türkisch aussehende Junge. „Das ist doch absurd!“

„Ich habe überhaupt keine Lust, mit Nazis zu reden. Jemand, der so mies denkt und voller Hass ist“, sagt Elena, „und eine Diktatur fordert. Tut mir leid! Mit solchen Menschen rede ich nicht. Über was auch?“

„Solche Leute haben meinen Vater umgebracht“, flüstert Celeste leise.

Vera dreht sich zu ihr um. „Was?“

Um sie herum streiten die Schüler lautstark weiter.

„Es läuft gerade ein Gerichtsverfahren.“ Celeste hat Tränen in den Augen. Vera schaut sie an. Niemand sonst hat die Worte des Mädchens gehört. Sie nimmt Celeste in den Arm. Sie hat von dem Mord gehört.

Derweil ruft Anita schnippisch. „Ihr habt ja komische Vorstellungen. Wieso soll der Typ ein Nazi sein? Der Dritte Weg ist eine legale Partei, da hat er Recht. Lasst uns doch mal über das Flugblatt der Kameraden sprechen. Ein paar Sachen finde ich schlecht, andere gut. Die Asylanten nutzen uns doch nur aus und nehmen unser Geld.“

Petra unterbricht sie vom Podium aus. „Weißt du eigentlich, über wie viele Asylbewerber du hier sprichst?“

Anita schaut sie verunsichert an.

„Es sind weniger als 1.000.000 Menschen“, ruft Petra ihr zu. „Für jede Stadt über 100.000 Einwohner wären das rund 5.000 Menschen und für jede Stadt zwischen 20.000 und 100.000 Einwohner um die 1.000!“

Sie blickt Anita direkt in die Augen.

„Die Flüchtlinge würden überhaupt nicht auffallen. Es wäre ein Akt der Menschlichkeit. Oder der christlichen Nächstenliebe. Wörter, die im Programm der AfD vermutlich gar nicht vorkommen!“

„Das werde ich auf jeden Fall überprüfen“, erwidert Anita unsicher. „Aber ich wollte auch noch sagen, dass wir Leistung wichtig finden. Wer nichts leistet, soll auch nichts essen und die Asylanten und Hartz-IV-Bezieher liegen auf der faulen Haut. Leistungseliten sind eine gute Sache! Wer faul ist, hat eben Pech. Ganz einfach!“

„Genau, sollen doch die, die nichts leisten können, bleiben, wo der Pfeffer wächst. Zum Beispiel die scheiß Behinderten. Sollen doch bleiben, wo sie sind“, ruft ein Mädchen ironisch von hinten. „Sollen die Armen und Schwachen doch verrecken! Ist super, wenn tausende Frauen, Kinder und Männer auf der Flucht im Mittelmeer ersaufen. Wenigstens kosten sie uns nicht auch noch ihre Beerdigung.“

Celeste weint. Sie lehnt an Vera und wimmert vor sich hin.

„Pah!“, reagiert Anita arrogant. „Du hast doch gar keine Ahnung. Meine Familie arbeitet seit Generationen hart. Und deshalb ist sie auch nicht arm!“

„Aha. Dann kannst du dich ja ins gemachte Nest setzen. Praktisch!“, ruft einer aus der Skaterecke. „Pech für mich, dass ich keine reichen Eltern habe. Aber dafür habe ich bessere Noten als du, obwohl meine Eltern keine Kohle für teure Nachhilfe auf den Tisch legen.“

Anita errötet leicht. „Meine Noten sind nur nicht so gut, weil die linken Lehrer meine politischen Ansichten nicht teilen!“

„Sie teilen deine arrogante Dummheit nicht, das ist es“, antwortet der Skater.

„Jetzt lasst Anita mal in Ruhe“, springt ihr der Jusochef Stunner zur Seite. „Vielleicht sollten wir wirklich mal über das Flugblatt sprechen. Das ist für mich Demokratie!“

„Na, da werden sich die Nazis aber freuen, wenn wir über das Flugblatt diskutieren. Das genau ist es doch, was sie wollen, dass ihre absurden Forderungen als ernstzunehmende Beiträge angesehen werden. Ich will nicht über diesen faschistischen Schwachsinn reden, sondern darüber, was wir dagegen tun können. Und wieso, Anita, sind das deiner Meinung nach keine Nazis?“, fragt Stefan. Er ist auf dem Podium aufgestanden und spricht laut in den Saal. Sein Ton ist aggressiv und feindselig.

Der pickelige Pullunderträger in der ersten Reihe springt auf. „Ich bin auch in der JA. Nazis benutzen Hakenkreuze und sind für KZs. Was auch mal klar gesagt werden muss. Das machen die vom Dritten Weg nicht. Und die roten Parolen sind kein bisschen besser als die Nazihetze von damals. Wir alle wissen doch, dass links gleich rechts ist. Wenn wir über die einen reden, dürfen wir die anderen nicht ignorieren. Wie sieht’s denn hier an der Schule aus? Linke Schmierer gegen rechte Schmierer. Was ist da der Unterschied? Wir sollten eine Resolution verfassen und rechte wie linke Gewalt verurteilen.“

Max meldet sich noch einmal. „Vielleicht bin ich ja naiv. Aber das verstehe ich nicht. Eine mit rechten Hetzparolen beschmierte Wand wird von Nazi-Gegnern übermalt. Ohne neue Parolen. Also danach steht da nichts mehr. Was ist daran links? Wieso soll ich jetzt beide verurteilen?“

„Außerdem haben die Naziterroristen des NSU zehn Menschen erschossen und so ein anderer neun in Hanau. Nazis sind eine Gefahr für Leib und Leben. Linke, soweit ich weiß, nicht“, sagt Petra vom Podium aus.

Da steht Celeste auf. Sie wischt sich die Tränen ab, doch spricht mit fester Stimme. „Ich heiße Celeste. Ich bin aus Ghana. Meine Verwandten sind im Mittelmeer ertrunken. Und Nazis haben meinen Vater erschlagen. Vor ein paar Monaten. An einer Bushaltestelle in Wiesbaden.“

Ihre Stimme stockt. Totenstille.

„Ich bin als Asylbewerberin von den Naziparolen betroffen. Da stand, dass wir abhauen sollen. Das kann ich aber nicht. Von meiner Familie lebt nur noch meine Cousine. Ich habe kein Zuhause mehr. Ich habe gar nichts mehr.“

Das milchgesichtige AfD-Mitglied lässt sich nicht beirren. „Wände beschmieren ist ein gewalttätiger Akt. Das ist eine Sauerei. Egal, was da steht. Auch die von den Sprayern gemalten Wandbilder, wie die sie nennen, sind Beschädigung von Eigentum …“

„Bist du eigentlich völlig stumpf?“, ruft Marlene dazwischen. „Das Mädchen erzählt von ihrem ermordeten Vater und du jammerst über besprühte Wände. Geht’s noch?“

„Das kann man doch nicht vergleichen. Eigentum ist immerhin eines der höchsten Güter in diesem Land.“

Der Pullunderjunge sieht Anita wie ein Hund strahlend an. Gönnerhaft nickt sie ihm zu.

Da steht ein Skater auf. Er wirkt gelassen, trägt einen Spitzbart und die Haare ungepflegt. Gemütlich schiebt er einen Bauch vor sich her. Er ist die Ruhe selbst. „Liebe Celeste, lass uns gleich mal darüber reden, was dir passiert ist. Aber ich glaube, hier müssen mal ein paar Sachen gerade gerückt werden.“ Er schaut sich um. „Ach ja, ich heiße Rainer und bin aus der 10c.“

Er sieht Anita an. Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Rainers T-Shirt ist zerknittert, verwaschen und eine Nummer zu groß. Das Monster und der „Iron Maiden“-Aufdruck sind lange verblasst. „Anita und ich gehen in eine Klasse. Wir kennen uns gut. Wir mögen uns nicht.“

Vereinzelte Lacher. Anita rutscht auf ihrem Stuhl herum. Der Picklige kann ihr jetzt nicht helfen.

Rainer sieht Anita feindselig an. „Bevor die AfD gegründet wurde, warst du in der JU, diesem Jugendverein der CDU. Hat dein geliebter Roland Koch nicht einmal gesagt, dass das Schwarzgeld der CDU aus dem Vermächtnis ermordeter Juden stammt? Gehörte nicht euer Parteivorsitzender Alfred Dregger ebenso der NSDAP an wie der ehemalige Justizminister Karl-Heinz Koch, der Vater des bekannten Roland Koch? Machte nicht eure tolle Kristina Schröder eine ekelhaft konservative Politik, indem sie antifaschistische Initiativen behinderte und Frauen zurück an den Herd stellen wollte?“

Anita schnappt nach Luft.

„Diese Politik war dir wohl noch zu links? Bist du deshalb jetzt ein AfD-Groupie, das mit rechtsradikalen Parolen sympathisiert? Oder suchst du nach Schnittmengen und Schulterschluss mit dem braunen Gesocks?“

Rainer schleudert Anita die Fakten um die Ohren. Sie antwortet nicht. Sie hat keine Chance. Rainer kennt sich aus. Er ist klug, rhetorisch gewandt und selbstsicher. Anita kann sich mit ihm intellektuell nicht duellieren. Sie ist diesbezüglich schlicht unbewaffnet …

Kurz bespricht sie sich mit ihren Parteifreunden. Dann gibt sie in arrogantem Ton bekannt, dass sie jetzt gehen werden. „Hier gibt es ja keine Meinungsfreiheit. Wir wollten hier diskutieren, aber das geht hier ja scheinbar nicht. In unserer Ortsgruppe ist das möglich. Da konnten wir über das Flugblatt der Kameradschaft sprechen.“

Damit steht die erste Reihe zeitgleich wie der Fortgeschrittenenkurs Synchronschwimmen auf und strebt dem Ausgang zu.

„So seid ihr immer“, ruft ihnen Rainer hinterher, „sobald ihr auf Argumente antworten müsstet, haut ihr ab. Feiges Pack.“

Der Pullunderpickel zeigt ihm heroisch den Mittelfinger.

„Obwohl wir politisch mit der AfD nicht einer Meinung sind, gefällt uns der undemokratische Umgang hier auch nicht“, ruft Heinz von den Jusos. „Wir gehen ebenfalls!“ Damit verlässt auch seine Gruppe den Raum.

Alle im Saal sind irritiert. Ratlosigkeit macht sich breit.

Nur Stefan grinst. Der Rothaarige kann noch überheblicher wirken als jeder andere.

„Die sind wir also los“, verkündet er. „Die Nazis haben wir verjagt. Und das Parteijungvolk ging freiwillig. Nun können wir ja vielleicht wirklich mal überlegen, was wir gegen die Nazis tun können.“

Die Übriggebliebenen schauen sich an. Aus Unsicherheit wird Begeisterung. Alle rücken nach vorne und bilden einen Kreis. Die Runde ist merklich kleiner. Auch Petra und Stefan kommen vom Podium herunter. Vera hält immer noch die Hand von Celeste. Sie setzen sich dazu

Max hebt die Hand. „Wie wäre es mit einem wöchentlichen Treffen?“

„Genau“, sagt der türkisch aussehende Junge. „Das wollte ich auch vorschlagen. Vielleicht sollten wir eine Gruppe an unserer Schule gründen, die sich mit dem Thema mal genauer beschäftigt. Hätte da vielleicht jemand Lust, mitzuarbeiten?“

Etwa die Hälfte meldet sich. Vor allem viele aus der Skatergruppe heben die Hand. „Und was ist mit den anderen?“, fragt Stefan.

Keine Reaktion.

„Naja, dann weiß ich jetzt auch nicht, was wir hier weiter besprechen sollen. Wir haben schon mal über Herrn Barzel einen Raum organisiert, denn wir hatten auf so einen Vorschlag gehofft. Da können wir uns am nächsten Mittwoch treffen, um 16 Uhr im R136. Alle sind herzlich eingeladen, die erste Antifa-Gruppe an unserer Schule mitzugründen“, verkündet Stefan.

Irgendwer fängt an zu klatschen. Einige schließen sich an. Damit ist das Treffen beendet. Alle gehen auseinander.

Nur die sechs gehen noch zusammen mit Rainer Barzel in dessen Büro. Edgar Fremers ist ebenfalls mitgekommen. Marc ist ziemlich niedergeschlagen.

„So eine Scheiße. Erst die Nazis, und dann diese Penner von der AfD und den Jusos. Wieso machen die alles kaputt?“

Edgar Fremers beruhigt ihn. „Das ist ihre Strategie. Alles platt machen, was sich außerhalb von ihnen und ihren Parteien organisiert. Keine Meinungsfreiheit? Was für ein Unsinn. Auf der Versammlung konnte sich doch jeder melden. Vergiss die!“

„Aber die Jusos sind doch auch Antifas. Ich war schon auf einer Veranstaltung zum NSU von denen.“

„Ja“, erklärt Edgar Fremers. „Natürlich sind Jusos keine Nazis, und einige von denen sind wirklich ziemlich in Ordnung. Aber es gibt eben auch viele Mitläufer wie dieser Heinz Stunner. Dem geht es nur um eine Karriere in der Partei.“

„Und es wurde gar nicht richtig diskutiert“, sagt Elena geknickt.

„Wieso?“, fragte Edgar Fremers. „Es ist doch ein voller Erfolg. Einige werden am Mittwoch kommen, aber die Doofen nicht. Wenigstens habt ihr die nicht in eurer neuen Gruppe. Dann könnt ihr vielleicht wirklich was Sinnvolles diskutieren. Ich selbst kenne solche Abläufe. Sie sind immer ähnlich. Ich bin bei uns in der Gewerkschaft für den Arbeitskreis Antifaschismus zuständig. Der DGB sieht unsere Aktivitäten nicht gerne. Wir werden oft angefeindet, aber letzten Endes doch toleriert. Wir suchen überall Bündnisse. Wenn die antifaschistischen Kräfte nicht zusammenarbeiten, werden wir der braunen Brut nie Herr. Zu viele haben nach 1945 das rechte Gedankengut weiter konserviert und verbreiten es noch heute. Die neue Generation der Rechtsradikalen trägt den Gedanken weiter. Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus sind noch heute in Deutschland tief verankert. Dagegen gibt es kaum eine vernünftige Diskussionskultur, so wie in Italien oder Spanien. Wenn ihr wollt, bin ich gerne euer Ansprechpartner, wenn ihr mal Fragen habt.“

Die sechs nicken.

„Einen Tipp möchte ich euch noch geben. Trefft euch außerhalb der Schule. Dann kann euch der Direktor nicht ins Handwerk pfuschen. Er kann euch als Gruppe nicht verbieten, aber er kann euch einen schulischen Raum kündigen.“

Barzel nickt. „Das stimmt!“

Das Gespräch geht noch eine Stunde weiter. Dann trennen sie sich freundschaftlich. Marc ist wieder in besserer Stimmung. Engumschlungen läuft er mit Vera zu ihr nach Hause. Es nieselt und sie drücken sich unter seiner Regenjacke eng aneinander.

„Ich freue mich auf mein warmes Bett mit dir“, flüstert ihm Vera ins Ohr.