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Antifa-Roman

33 | Es brennt

Als die fünf Freunde am Samstagabend mit ihren Rädern am Treffpunkt an der Mauer des Biebricher Schlossparks zusammenstehen, gehen sie alles noch einmal kurz durch. Alle haben sich den Tatort angesehen, alle kennen ihre Aufgaben. Marc und Stefan haben Grillpaste in Gefriertüten dabei. Am Nachmittag haben sie je zwei in der leeren Schultoilette mit Gummihandschuhen und Schlauchschals über Gesicht und Haaren in die Gefriertüten gestopft. So können sie die beiden Behälter ohne Spuren transportieren.

Stefan weist noch einmal auf etwas Wichtiges hin: „Marc, am besten brennt die Plastikverkleidung von dem Quad. Also positioniere die Behälter so, dass die Flamme da auch hinkommt. Deine Reifen sind wegen der Federn zu weit von der Karosserie entfernt. Bei der Vespa ist das kein Problem, da ist der Schmutzfänger direkt über dem Reifen.“

„Ich weiß, ich hab‘ mit Quads mal angesehen. Im Motorraum gibt es viel Kunststoff und da ist auch die Karosserie.“

Stefan und Marc haben im Wald das Entzünden der Grillpaste geübt. Dabei hatten sie beim ersten Versuch dünne Baumwollhandschuhe getragen, wie sie Pantomimen gerne benutzen. Doch die erwiesen sie sich als zu wenig griffig. Die Feuerzeuge rutschten ihnen aus den Händen. Dünne Spülhandschuhe hingegen waren ideal. Außerdem benutzen sie Sturmfeuerzeuge. Die sind zwar teurer, funktionieren aber auch bei Wind. Alle Materialien sind neu gekauft. Sie haben sie im Wald mit Handschuhen ausgepackt und in saubere Tüten verpackt. Die Umverpackungen haben sie in verschiedenen Mülleimern in der Stadt entsorgt. „Nie irgendetwas in den eigenen Hausmüll werfen“, hatte Marlene immer wiederholt. Das wusste sie von René. „Nie etwas in der eigenen Wohnung vorbereiten, nie im eigenen Garten oder Keller. Es darf keine direkte Verbindung zwischen dir uns dem Material geben. Also keine Quittungen, Kreditkartenabrechnungen, Handydaten, Werkzeuge, Verpackungen usw.“, hatte er ihr eingeschärft. „Und immer mit Mundschutz, Handschuhen und Sturmhaube arbeiten, wenn irgend möglich!“

Vera, Elena und Marlene probieren am Treffpunkt noch kurz ihre LED-Lämpchen aus. Alles perfekt. Sie müssen nicht auf die Notfalllampe zurückgreifen, die Marlene für alle Fälle noch in Reserve hat. Alle wiederholen noch einmal die Nummer des Zahlenschlosses und den Lichtercode. Dann geht’s los.

Die beiden Pärchen schlendern gemächlich in Richtung der Fahrzeuge der Nazis. Das Viertel ist ruhig, kein Mensch zu sehen. Leichter Herbstnebel liegt um die Hochhäuser.

„Meinst du, der kommt vom Rhein?“, fragt Marc, der seinen Arm um Vera gelegt hat.

„Wer?“

„Der Nebel!“ Marc schaut sie an. „Hast du Angst?“

„Mit dir nicht“, antwortet Vera und drückt sich an ihn.

„Es ist komisch hier in der Siedlung. Hier wohnen Hunderte von Menschen in den Wohnungen. Eng an eng. Doch es wirkt alles geisterhaft. Niemand auf der Straße. Nur die Fenster glühen wie Augen in schwarzen Höhlen.“

„Ja, es ist hier wie ausgestorben“, antwortet Vera. „Die Kälte treibt die Menschen in die warmen Wohnungen.“

„Gott sei Dank! Dann haben wir keine Zeugen!“

Sie schlendern um die Ecke und wirken dabei wie ein harmloses Liebespaar. Nicht wie zwei, die gleich einen Brandanschlag verüben werden.

„Da vorne steht das Quad. Kannst du Stefan und Elena sehen?“

„Nein, aber ich sehe eine Gruppe Jugendlicher in einem Hauseingang, die dort rauchen. Da hinten rechts. Siehst du sie?“

„Müsste da nicht auch die Vespa stehen?“

„Genau. Das ist der gleiche Hauseingang!“

„Verdammt!“

„Oh, jetzt sehe ich auch unsere beiden. Sie gehen genau auf die Gruppe zu!“

„Sind die bescheuert?“ Marc ist außer sich. „Hier kennt jeder jeden. Die fallen doch total auf.“

„Sie biegen ab und machen einen Bogen.“

„Das sehe ich“, knurrt Marc. Dann hält er inne.

„Und jetzt? Was machen die denn da?“

„Das heißt knutschen. Das weiß ich als Expertin!“

„Ja, ich weiß!“

Er reibt sich die Augen.

„Unfassbar!“

„Wieso, ich finde, die sind echt cool drauf!“

„Allerdings Vera. Verdammt cool! Echt cool“, verhöhnt Marc seine Freundin. „Super coooooooooool.“

„Hey Mann, was soll denn der Ton jetzt?“

„Total cool“, äfft er sie noch einmal nach.

„Sag mal, bist du bescheuert? Willst du mich verarschen?“

Marc stockt.

„Vera, jetzt bitte nicht streiten. Nicht jetzt!“

„Moment mal. Du hast doch mit dem scheiß Ton angefangen! Nicht ich!“

Marc blickt sie an. Seine Augen wandern zu dem Quad, dann zu Vera.

„Tut mir leid. Sorry, ich bin angespannt!“

„Okay, ich auch.“

Er greift ihre Hand.

„Fuck. Ich sehe die beiden nicht mehr.“

„Ich auch nicht.“

Sie schauen angestrengt in die Dunkelheit.

„Jetzt geht alles schief, nur weil du rummeckern musst.“ Vera ist sauer.

„Die Jugendlichen sind weg.“

„Unser Liebespaar auch.“

„Bitte sei jetzt nicht nachtragend. Wir müssen uns konzentrieren. Lass uns einfach weitermachen wie besprochen.“

Sie gehen Richtung Quad.

„Ich kann niemanden sehen“, flüstert Vera.

„Wir vertrauen jetzt einfach Marlene. Fertig aus. Okay?!“

Vera greift Marcs Hand noch einmal und drückt sie. Ihre Augen suchen die seinen.

„Marc, wir ziehen das jetzt durch!“

„Okay Vera, wir ziehen das jetzt durch. Ich hab‘ Dich lieb. Du bist ein tolles Mädchen!“

Erleichtert blickt sie ihn an. Alles ist wieder in Ordnung. Sie bewegen sich schlendernd auf das Quad zu. Sie sind noch zehn Meter entfernt, als Marlenes Lampe zwei Mal aufblitzt. Das ist das Signal: „Die anderen sind fertig! Wie weit seid ihr? Warte auf euer Signal.“

„Scheiße, wir müssen uns beeilen!“

Während sie zügig loslaufen, zieht sich Marc die Gummihandschuhe und den Schlauchschal über. Für die Augen hat er zwei Löcher hineingeschnitten. Vor dem Quad kniet er nieder und holt den Gefrierbeutel aus der Tasche und reißt ihn auf. Die Behälter kullern auf den Boden. Plötzlich geht hinter einem großen Fenster Licht an. Direkt neben ihnen. Die beiden stehen in tagheller Beleuchtung wie auf dem Präsentierteller.

„Verdammt!“ In Marcs Stimme ist leichte Panik zu hören.

„Mach weiter. Bleib locker. Da schaut niemand. Ich habe alles im Blick!“

„Ehrlich?“

„Ja, Mann! Vertrau mir! Mach jetzt! Schieb die Scheißdinger in das Quad und hol das Feuerzeug raus.“

„Bist du wahnsinnig. Wir stehen voll im Licht!“

„Marc, mach jetzt!“ Vera spricht im Befehlston. Sie ist die Ruhe in Person. „Je heller desto weniger sieht man den Feuerschein. Mach einfach weiter Marc. Alles ist okay.“

Marc fummelt nervös an den Sachen herum. Dann liegen ein offener und ein geschlossener Behälter Grillpaste im Motorblock. Die Reste vom Boden hat er in einem Beutel in seinen Taschen verstaut. Das Feuerzeug hält Marc in der Hand.

„Alle klar. Du kannst das Signal geben!“

Vera blinkt zweimal. Aus der Dunkelheit kommt das Dreiersignal zurück.

„Alles klar, Marc. Los geht‘s.“

Zeitgleich blitzen die Flammen der Feuerzeuge auf. Marcs Grillpaste fängt Feuer. Er steht auf. Arm im Arm verlassen die beiden ruhig den Tatort. Sie laufen langsam, aber zügig. Kein Blick zurück, denn das wirkt verdächtig. Erst als sie um die Ecke biegen, riskiert es Vera.

„Das Ding brennt schon ganz gut!“

„Super!“

Die beiden sind nun im Dunkel der Straße angekommen. Sie laufen schneller.

Kurz bevor sie die Fahrräder erreichen, wirft Marc Gefrierbeutel und Feuerzeug in einen großen Mülleimer vor einem Mehrfamilienhaus. Die Sachen sollten sauber sein. Dann zieht er seine Gummihandschuhe aus. Die will er erst später wegwerfen, immerhin ist da seine DNA dran, und er weiß nicht, in welchem Umkreis die Polizei nach Spuren suchen wird.

Am Treffpunkt wartet Marlene mit den offenen Schlössern in der Hand. Alles scheint gut gelaufen zu sein. Zumindest bisher.

„Wo sind Stefan und Elena?“

Marlene ist ratlos. „Als ich es bei euch allen flackern sah, bin ich losgelaufen. Genau wie ausgemacht. Einmal habe ich mich noch kurz umgedreht und die zwei Feuerscheine gesehen.“

„Aber wo sind die beiden, verdammt?“ Marcs Stimme zittert.

Ihre Abmachung ist eindeutig. Jedes Pärchen, und auch Marlene, ist mit einer Pfeife für den Notfall ausgerüstet. Notfall heißt: „Erwischt worden, aber Rettung möglich.“ Das bedeutet beispielsweise, dass Nazis oder Anwohner hinter ihnen her sind. Dann müssen die anderen sofort hinrennen und helfen, denn bei Nazis kann es um Leben und Tod gehen! Sollten sie aber der Polizei in die Arme laufen, gibt es keinen Pfeifenalarm. Ein Pfeifsignal wäre ein eindeutiger Hinweis auf weitere Mittäter. Hier lautet die Abmachung: schreien, schreien, schreien. Und damit möglichst die anderen warnen, die dann umgehend das Weite suchen. Denn warum sollen sich mehr verhaften lassen als nötig?

In der Ferne hören sie Martinshörner.

„Scheiße, die sind schnell. Fahrt los, ich warte auf die beiden“, sagt Marlene.

„Nein, wir bleiben“, antwortet Marc.

„Marc, ihr haut ab. Ich warte allein.“ Marlenes Stimme lässt keinen Widerspruch zu. La donna comanda! ‚Die Frau bestimmt!‘, wie es in Italien heißt.

Marlene blickt auf die Uhr.

„Die drei Minuten sind um, seit ihr Feuer gelegt habt. Marc, Vera, ihr müsst los.“ Marlenes Stimme hat einen festen Ausdruck „So lautet die Abmachung. Verschwindet sofort!“

„Komm, wir warten noch eine Minute. Bitte!“, fleht Vera.

„Vera, wenn die Feuerwehr und die Bullen erst einmal hier sind, kommen wir alle nicht mehr weg“, erklärt ihr Marc.

„Haut jetzt endlich ab. Dafür sind Abmachungen da!“

„Ich glaube, ich sehe was. Dort, zwei Schatten!“ Vera zeigt in Richtung der Hochhäuser.

„Ich sehe nichts!“

„Doch Marlene, Vera hat Recht. Da hinten!“

„Na, dann aber los!“, sagt Vera und springt auf ihr Fahrrad.

Kurz darauf sind Marc und Vera zwischen den Bäumen des Schlossparks verschwunden.

Die zwei Schatten kommen sehr langsam auf Marlene zu. Einer wird scheinbar gestützt. Stefan hat Elena im Arm. Sie zieht ein Bein hinkend hinter sich her.

„Was ist los?“

„Elena ist umgeknickt. Sie kann nicht mehr auftreten“, antwortet Stefan keuchend.

„Kannst du Radfahren?“, fragt Marlene.

„Ich versuch’s“, antwortet Elena mit schmerzverzerrter Mine. „Aber ihr müsst mir aufs Fahrrad helfen.“

Die Sirenen kommen näher.

„Okay. Komm Marlene. Halt ihr Rad fest. Ich hebe sie drauf.“ Stefan schiebt Elena auf den Sattel. Er schwitzt. Vor lauter Aufregung hat er vergessen, die Gefriertüte und das Feuerzeug wegzuwerfen.

„Fuck!“

Die Sirenen sind nun fast da. Am Häuserblock herrscht sichtbare Aufregung. In den meisten Fenstern brennt Licht, die Schatten der ersten Neugierigen zeichnen sich ab.

„Verflucht. Wir müssen hier weg.“ Marlenes Stimme zittert. „Elena, sitzt du? Ich schiebe dich an und dann hältst du dich an Stefan fest, wenn du nicht treten kannst. Alles klar?!“

„Okay!“

Marlene rennt los und schiebt Elenas Fahrrad von hinten an, bis es rollt. Stefan steigt auf sein Rad und fährt neben sie. Er legt seine Hand in Elenas Nacken und schiebt sie so neben sich her.

„Na“, fragt er atemlos, „geht das so?“

„Ja“, kommt es gepresst von Elena. Aber als sie das erste Mal selbst in die Pedale tritt, brüllt sie vor Schmerz. „Verdammt, ich kann nicht treten. Das tut sauweh!“

„Egal, du musst weiterfahren. Versuche mitzutreten, so gut es geht. Den Rest mache ich.“

Stefan schnauft wie eine Dampflok. Marlene fährt auf die andere Seite und legt Elena ebenfalls ihre Hand in den Nacken, um Stefan beim Schieben zu unterstützen.

„Wenn wir es so bis zur Unterführung schaffen, sind wir aus dem Schneider“, sagt Marlene zwischen zwei Atemzügen. Sie durchqueren den Schlosspark in Längsrichtung. Hier ist kein Mensch unterwegs. Es ist kurz vor 23:30 Uhr. Ihr größtes Risiko ist die Überquerung der Äppelallee, eine mehrspurige, schnurgerade Straße mit viel Verkehr. Man kann weit sehen und von sehr weit gesehen werden. Eine Fußgängerampel ist das gefährliche Nadelöhr.

Sie fahren langsam auf den Fußgängerüberweg zu. Ein älteres Ehepaar hat den Ampelknopf bereits gedrückt.

„Wenn die Ampel umspringt, düsen wir los. Wir können Elena nicht stoppen lassen! Die fällt sonst samt Rad einfach um“, zischt Stefan.

Elena hängt wie ein Schluck Wasser im Sattel.

„Komm, reiß‘ dich zusammen. Das ist das heikelste Stück!“ Marlene lässt sich zurückfallen. Stefan muss wieder alleine schieben. Die beiden sehen aus wie sehr verliebt. Das ältere Ehepaar lächelt freundlich, als sie an ihm vorbeifahren. Aber die beiden schauen weg. Besser nicht erkannt werden. In der Ferne ist Blaulicht zu sehen. Elena verkrampft sich.

„Wir sind gleich an der Unterführung. Halte durch“, flüstert ihr Stefan schwer atmend zu. „In der Gibb wohnt ein Freund von mir. Da fahren wir hin. Es ist ganz nah.“

Elena unterdrückt den Schmerz. Sie erreichen die stinkende Unterführung. Stefan trägt die Räder herunter und hinten wieder hoch. Elena hüpft einbeinig die Treppe herunter und stützt sich auf Marlene.

„Die beiden Alten kommen.“

„Auch das noch. Beeil dich!“

Stefan schleppt Elena die Treppe hoch. Marlene das Fahrrad hinterher. Dann schieben sie Elena erneut an, und übernehmen sie mit gekonntem Nackengriff.

„Wir setzen sie bei meinem Freund ab“, sagt Stefan zu Marlene. Elena sagt gar nichts. Ihr laufen die Tränen vor Schmerzen.

„Hier ist es.“ Stefan klingelt.

„Wer da?“, hallt es durch die Sprechanlage.

„Hier ist Stefan, Martin, mach bitte auf!“

Es summt. Sie betreten den Hof. Mit fragendem Blick steht Martin vor den drei Radfahrern.

„Ein Notfall“, erklärt Stefan. „Sie ist verletzt. Hilf mir mal tragen.“

Zu zweit schleppen sie Elena nach drinnen, während Marlene die Räder im Hof abschließt. Martin sagt kein Wort.

„Marlene, ich fahre jetzt zu den anderen und sage Bescheid. Bleib du hier. Okay?!“ Zu Martin gewandt sagt er: „Ich erkläre dir alles später. Vertrau‘ mir. Ich komme zurück, sobald ich kann. Können die beiden hier schlafen? Hast du Eis?“

„Ja und ja“, antwortet Martin kurz. Er wirkt, als sei es völlig normal, dass an einem Samstagabend jemand klingelt, zwei wildfremde Mädchen mitbringt, eine davon verletzt, beide zurücklässt und wieder verschwindet …

Als Stefan weg ist, bringt Martin Elena zwei Kühlakkus. Sie liegt auf seinem Sofa, Marlene sitzt neben ihr. Sie fragt: „Sag mal, willst du nicht wissen, was los ist?“

„Nein“, antwortet Martin entspannt. „Entweder, ihr sagt es mir, oder ihr wollt es mir nicht sagen. Das müsst ihr entscheiden.“

Er steckt sich eine Zigarette an.

„Ja, aber …“

Er schaut sie ernst an.

„Stefan ist ein alter Freund von mir. Naja, ich bin zwar 20 Jahre älter als er, aber wir haben eine spezielle Geschichte. Er hat mich mal aus einer beschissenen Situation gerettet. Er hat bei mir noch was gut. Fragen schaffen nur Probleme. Nichts zu wissen ist oft von Vorteil.“

Das sagt René auch immer, erinnert sich Marlene.

Martin öffnet ein Bio-Bier.

„Auch eins?“, fragt er die Mädchen.

Elena und Marlene nicken.

Stefan tritt in die Pedale. Je weiter er vom Tatort entfernt ist desto besser. Er schaltet die Beleuchtung ein, um der Polizei keinen Grund für eine Kontrolle zu liefern. Während er nach dem ansteckbaren Rücklicht sucht, entdeckt er die Gefriertüte, das Feuerzeug, den Schlauchschal und die Handschuhe.

Oh Mist! Das wäre bei einer Kontrolle richtig scheiße geworden!

Er wirft alles in die nächsten Abfalltonnen. Dabei achtet er darauf, dass die Handschuhe und der Schlauchschal mit den DNA-Spuren in einer und der Rest in einer anderen landen.

Es ist besser, wenn nicht alles zusammen gefunden wird.

Dann fährt er auf dem Grundweg am Moosbach in Richtung Schiersteiner Straße.

Martin Mankl. Auf dich kann man sich verlassen. Denkt Stefan vor sich hin. Das Ganze ist jetzt zwei Jahre her. Und eigentlich völlig banal. Aber du bist einer, der nicht vergisst. Es war im Penny. Du hattest eine Flasche Schnaps eingesteckt und ich hatte es gesehen. Du sahst mich damals fragend an, ich zuckte mit den Schultern und ging weiter.

Stefan biegt rechts ab Richtung Stadtmitte.

An der Kasse bezahltest du ein Päckchen Kippen und wolltest nach draußen. Da griff der Ladendetektiv nach dir, erwischte dich aber nicht richtig. Du hast dich losgerissen und bist losgerannt. Er wollte hinter dir her. Doch irgendwie stand dann gaaaaanz zufällig mein Einkaufswagen im Weg und er flog der Länge nach hin. Genug Zeit für dich, um einen entscheidenden Vorteil zu ergattern und abzuhauen. Der Typ brüllte mich an. Ein Fehler. Noch mehr Sekunden für dich. Dann warst du verschwunden.

Der Weg Richtung Dichterviertel ist steil. Stefan schnauft.

Monate später liefen wir uns dann in der Fußgängerzone über den Weg. Du sprachst mich an. Wir tranken Kaffee und du hast dich bedankt. So wurden wir Freunde.

Nach einer halben Stunde sitzt Stefan verschwitzt bei Vera auf dem Sofa. Vier Polizeiwagen sah er auf dem ‚Zweiten Ring‘ umherrasen, aber sie hielten nicht an. Vera und Marc sind schon vor einer Weile angekommen. Petra hat ihren Job mit den Smartphones gut gemacht, jetzt haben Vera und Marc ihre Handys wieder.

Vera holt Papier und Bleistift.

In der Wohnung nicht sprechen, lautete eine von Renés Regeln. Marlene hat sie an die Sechserbande weitergegeben.

„Wie geht es E.?“, schreibt Vera.

„Geht so“, schreibt Stefan. „Was machen wir mit ihr?“

„Muss sie noch nach Hause?“, schreibt Petra.

„Keine Ahnung!“

Marc nimmt den Stift und zeigt auf Stefan: „Fahr du mit deinem und den Handys von Marlene und Elena wieder zu ihnen. Dann entscheidet ihr zusammen.“

Petra malt ein Fragezeichen.

„Wegen der Datenspur“, schreibt Marc. „Demnach sind die drei jetzt zu Stefans Kumpel gefahren.“

Alle nicken.

Stefan stöhnt. „Ich bin echt fertig!“, schreibt er.

„Geht doch fast nur bergab“, ermutigt ihn Marc per Zettel.

„Fuck!“, flucht Stefan und steht auf, „aber was muss, das muss!“

Petra hält ihm die drei eingeschalteten Mobiltelefone hin. Er geht zum Rad.

Kurz darauf kommt er bei Martin an. Auf Elenas Knöchel türmen sich Eisbeutel.

Stefan hält einen Zettel hoch: „Ich habe die Handys dabei. Bitte nichts Verdächtiges sprechen!“

„Was ist denn mit dir los?“, fragt er Elena.

„Ich bin wohl eben auf der Treppe umgeknickt,“ antwortet sie geistesgegenwärtig.

„Tut es weh?“, fragt er besorgt.

„Nein, aber ich liebe es schon von klein auf, Kühlakkupyramiden zu bauen …“, sagt Elena genervt. „Das ist schon immer mein geheimes Hobby und ich halte den Zeitpunkt für ein Outing diesbezüglich gerade für ideal!“

Martin lacht laut auf. Das Mädchen gefällt ihm.

„Doofe Frage. Es tut sauweh! Ich glaube, da ist was gerissen.“

„Willst du ins Krankenhaus?“

„Nein, ich möchte meine Mutter anrufen. Entweder holt sie mich ab oder ich bleibe hier.“

Das Gespräch ist kurz. Schließlich kommt die Mutter und holt ihre Tochter ab.

Marlene bricht kurz darauf ebenfalls auf. Stefan trinkt bei Martin noch ein Bio-Bier, dann fährt auch er los. Er ist tief in Gedanken versunken. Zuhause wartet niemand auf ihn. Seine Eltern sind auf einer Weinprobe und übernachten in einem Edelhotel in Rüdesheim. Ihm ist das nur recht. Er will lieber seine Ruhe haben und nachdenken.

Komische Tage. In kürzester Zeit hat sich unser Leben völlig verändert. Neulich waren wir noch sechs Freunde, jetzt sind wir eine verschworene Gemeinschaft. Wir haben Parolen übermalt. Dann wurde ich mit Tränengas angegriffen. Wir haben eine Versammlung organisiert. Ich habe zwei Nazis ins Krankenhaus befördert. Die Schul-Antifa wurde gegründet und die Kurden haben die Nazis eingeschüchtert. Isabella wurde fast vergewaltigt. Der Hausmeister ist verschwunden. Wir fackeln zwei Fahrzeuge ab.

Bis vor kurzem haben wir gefeiert, gechillt und unseren Schulkram gemacht. Das haben dann so ein paar Arschlöcher alles kaputtgemacht. Jetzt ist alles in Frage gestellt, was bisher eigentlich so nett schien. Woher kommen diese Nazis denn plötzlich? Was haben wir nicht gesehen? Ich habe ja immer wieder was über Nazis gelesen. Aber wie sich das anfühlt, wenn dein Leben bedroht ist, wenn du angemacht und zusammengeschlagen wirst, weil du anders denkst oder aussiehst, das ist eine ganz neue Erfahrung. Davon hatte ich keine Ahnung. Es ist ekelhaft.

Stefan radelt vor sich hin. Vom Dichterviertel zur heimischen Villa am Mühlberg ist es ein Stück, am Ende geht es sogar bergauf.

Fühlen sich so Ausländer in Deutschland? Leben die mit dem Gefühl dauernder Angst und Unsicherheit? Ist das ihr Alltag? Ständig auf der Hut vor Nazis. Und vor der Polizei. Immer in Angst, kontrolliert oder angemacht zu werden. Was für ein schlimmes Leben!

Wie viele haben die braunen Wichser schon umgebracht? Über 200 Tote in 30 Jahren habe ich mal gelesen. Das sind …

Stefan liebt Kopfrechnen. Sogar, wenn es sich um eine so perverse Aufgabe handelt.

Das ist ein Mord alle 55 Tage. Also alle zwei Monate einer.

Er kommt zuhause an. Kein Licht brennt. Ihn erwartet niemand.

Marc hat es besser. Er ist bei Vera geblieben. In ihrem Bett kuschelt sie sich an ihn.

„Hattest du eigentlich Angst?“, fragt sie.

Er legt den Finger auf die Lippen.

„Die Handys liegen drei Zimmer weiter unter den Kissen.“

Marc lächelt und zieht sie unter die Bettdecke.

„Als das Licht im Fenster über uns anging, da hatte ich die Hose schon verdammt voll“, flüstert er.

„Hab‘ ich gemerkt.“

„Gut, dass du die Nerven behalten hast. Ich hab‘ dir blind vertraut, dass alles ruhig und okay ist.“

„Das ist toll. Du kannst mir auch vertrauen. Wenn es irgendwie komisch gewesen wäre, hätte ich auch auf Abbruch gedrängt. Auf Knast habe ich nämlich keinen Bock!“

„Ich auch nicht“, sagt Marc und küsst Vera zärtlich. Eng umschlungen schlafen sie schließlich ein. Das Letzte, was Marc wahrnimmt, ist Veras Geruch. Er liebt ihn.