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Antifa-Roman

36 | Angequatscht

Am nächsten Tag läuft Alfred durch den naheliegenden Schlosspark. Er versucht zu vergessen. Doch das ist schwer. Bei jeder Bewegung schmerzt der aufgeplatzte Hintern, die Beine bewegen sich unter ihm wie angenagelte Kartoffelsäcke.

Er fragt sich, wie das alles weitergehen soll. Seine Vespa ist ein Schrotthaufen, die Kameraden haben ihn zusammengeschlagen, morgen soll er normal in der Schule erscheinen und lieb und nett wieder die Hausmeisterarbeiten mit Bernd übernehmen. Und sein Geld muss er auch noch abgeben.

Punkt 8 Uhr 30 heute früh riss seine Mutter seine Vorhänge am Fenster auf. Die Eltern sind treue Kirchgänger. Frühes Aufstehen gehört zum Ritual christlicher Disziplin. Alfred hasst sie dafür. „Jesus liebt dich!“

„Ab in die Kirche“, rief seine Mutter.

„Leck mich“, antwortete Alfred. „Ich bin krank.“

„Gott macht dich gesund!“

„Einen Scheiß macht der!“

Sein Vater kam herein und gab ihm wortlos eine Ohrfeige.

„Ja, Jesus liebt mich!“

Dann schlug er die Tür zu. Wenig später hörte Alfred die Wohnungstür. Er war allein.

Immer diese verdammte Kirche. Die Bibel. Die Gemeinde. Der Pfarrer. Liebe predigen, aber Kälte leben.

Alfred hasst die Rituale der Gemeinde, wenn alle mit zum Himmel gerecktem Arm den Herrn anrufen. Wäre da nicht seine Oma, er wüsste nicht, was Zuneigung überhaupt ist. Sie kümmert sich liebevoll um ihn, seit er klein war. Doch sie ist nicht mehr gut zu Fuß. Sie wohnt auch in Biebrich. Da will er jetzt hin.

Bernd kann ebenfalls vor Schmerzen nur im Bett liegen. Seiner Mutter erzählt er irgendwas von einer Schlägerei mit Türken. Sie bringt ihm Tee und Schmerztabletten. Sein Vater schaut nicht mal vorbei. „Selber schuld“, hört Bernd ihn am Küchentisch meckern, „Was macht der auch mit dem Gesocks rum?“

Alfred humpelt durch den Schlosspark, sinnt auf Rache und Vergeltung. Ihn stören die Schmerzen weniger als die Erniedrigung.

Niemals hätte ich gedacht, dass die übelste Wirkung des Prügelbocks im Kopf stattfindet. Die Hilflosigkeit, das Verfügen der anderen über mich, die Machtlosigkeit.

Irgendetwas ist in seinem Inneren zerbrochen.

Die Strafen sind mehr als Schläge und Schmerzen.

Er selbst hatte immer einfach zugeschlagen. So wie die anderen auch. Ohne nachzudenken.

Jetzt denkt er zum ersten Mal über die Szene nach. Seine Qualen befeuert sein Hirn.

Ich kann da nicht wieder hingehen. Ich gehöre da nicht mehr hin. Regeln einhalten. Befehle befolgen. Befehle ausführen. Leid anrichten. Ohne zu überlegen. Regeln. Regeln. Regeln. Wie bei den scheiß Christen. Wie der Pfarrer achten Peter und Karl peinlich darauf, dass jede Regel eingehalten wird. Das wir Befehle blind ausführen.

Die Sonne scheint im Park. Ein Jogger läuft an ihm vorbei. Alfred geht wie auf Eiern.

Aber will ich das überhaupt? Will ich jemals wieder jemanden schlagen? Jetzt, wo ich weiß, wie sich das anfühlt?

Die Schmerzen sind höllisch.

Ein Soldat fragt nicht, er kämpft!“, sagt Peter.

So steht es geschrieben!“, sagt der Pfarrer.

Keine Fragen stellen? Nur glauben und gehorchen? Das kann es doch nicht sein!

Alfred riecht den Herbst im Park. Ein Bächlein fließt Richtung Rhein. Familien gehen unter den Weiden spazieren, Kinder tollen herum, Hunde scheißen auf die Wiese. Die Idylle einer Großstadt. Alfred ist tief in seine Gedanken versunken. Er merkt nicht, dass er verfolgt wird.

Bei einem Befehl MUSS ich alles drumherum vergessen! Das haben sie uns beigebracht. Ich muss Befehlsempfänger werden. Bedingungslos. Dem Befehlsgeber gebe ich ja dann mehr Macht als meinem Gefühl. Also Macht über mich selbst. So ist das doch.

Auf einer Bank brüllt ein Vater seine kleine Tochter an. Sie weint. Alfred reagiert nicht.

Wenn das so ist, wer bin ich dann? Wenn ich blind mache, was der Befehlsgeber will, wird er dann ich? Oder ich er? Wo bin ich, Alfred, denn dann?

Jeder Schritt tut ihm weh. Ein Fahrrad saust an ihm vorbei. Eine Mutter schiebt einen Kinderwagen und telefoniert dabei lautstark mit dem Smartphone. Ihr Kind schreit. Sie merkt es nicht.

Ich fühle mich wie ein getretener Hund. Wie ein ausgespucktes Stück Dreck. Gestern Abend habt ihr meine Ehre, mein Selbstwertgefühl, mein Ich zerstören wollen. Aber das durftet ihr nicht. Niemand darf das. Ich glaube an Deutschland, an unsere Idee, an unsere Bewegung, an den nationalen Aufbruch. Aber das fühlt sich jetzt irgendwie alles an wie eine Lüge. Ihr wollt doch eigentlich nur Macht. Ihr wollt nur herrschen. Ihr wollt nur bestimmen.

Alfred versteht plötzlich, um was es geht.

Ihr wollt Sklaven. Aufblickende Schafe. Wie meine Eltern welche sind. Niemand soll eigene Gedanken haben, nur eure. Peter ist der Pfarrer.

Gestern wolltet ihr mich brechen. Aber in meinem Inneren schreit es nach Rache. Seit gestern schulde ich euch nichts mehr!

Frustriert und verzweifelt stapft er hinkend weiter. Die Hände in den Hosentaschen, erinnert ihn jede Bewegung an die kollektive Erniedrigung. Gleich ist er bei seiner Oma. Dort gibt es warmen Tee.

Eine Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken.

„Entschuldigung. Aber ich weiß, dass Sie Geldprobleme haben. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

Alfred bleibt stehen. Er schaut den Mann völlig perplex an: Mitte dreißig, braune Haare, moderner Schnitt. Er trägt Jeans, Jacke und Rucksack. Ein Lehrer, Versicherungsvertreter oder Gebrauchtwagenhändler. Ein Typ, der aussieht wie jeder und zugleich niemand. Keine Auffälligkeiten. Keine Persönlichkeit. Durchschnitt. Ein Mensch, der keinen Eindruck hinterlässt.

„Wer sind Sie?“, möchte Alfred wissen.

„Mein Name ist Walter Schellenborn. Ich könnte Ihnen helfen.“

Er schaut einstudiert freundlich.

„Sind Sie von den Zeugen Jehovas oder was?“

So ein christlicher Schwachkopf hat mir jetzt gerade noch gefehlt.

„Nein, sehe ich so aus?“

Eigentlich schon, nur der debile Blick fehlt …

Doch Alfred ist vorsichtig.

„Vielleicht haben Sie ja Ihr Fachblatt für Idioten hinterm Rücken versteckt. Wie heißt es nochmal? Uhrturm?“

„Wachturm.“

„Ach ja, stimmt.“

Schellenborn ist geduldig. Er hat schon viele Menschen angesprochen und weiß, dass Druck selten funktioniert.

„Sie heißen Alfred Kromme und ihre Vespa ist neulich verbrannt.“

Dann schweigt er. So spricht automatisch der andere. Kaum jemand erträgt Stille.

„Woher wissen Sie das?“, fragt Alfred.

„Sie brauchen ein neues Mofa. Dabei kann ich Ihnen helfen.“

„Wie das? Was wollen Sie von mir?“ Alfred reagiert verwirrt. Schellenborn hört den neugierigen Unterton.

„Lassen Sie uns doch einfach weiterlaufen“, schlägt der fremde Mann vor. „Ich möchte ihnen eine Verdienstmöglichkeit anbieten.“

„Was? Warum?“

„Weil Sie eine neue Vespa brauchen.“

Alfred bleibt stehen. Er schaut den Unbekannten misstrauisch an.

„Was wollen Sie von mir?“

„Ihnen die Möglichkeit geben, mit wenig Arbeit gutes Geld zu verdienen.“

„Wie das?“

„Ich kaufe Informationen.“

„Was für Informationen?“

„Ihre politischen Aktivitäten beeindrucken mich. Sie gefallen mir. Ich würde Sie gerne dabei unterstützen.“

„Dann spenden Sie uns doch etwas.“

„Nein, denn ich bin ja Händler.“

„Was für Informationen wollen sie?“

„Eigentlich keine besonderen. Nur die, die ihr sowieso auf Flugblätter druckt oder im Internet verbreitet. Nichts Besonderes eben.“

„Für wen arbeiten Sie?“

„Das Innenministerium.“

„Und was wollen Sie mit den Informationen machen? Händler kaufen und verkaufen bekanntlich.“

„Uns unterlaufen immer wieder Fehler. Wir kommen zu falschen Schlüssen, weil wir zu wenige oder ungenaue Informationen haben. Das wollen wir ändern. Und dabei können Sie uns helfen.“

„Warum schauen Sie nicht ins Internet?“

„Weil da nicht alles steht. Und oft auch nicht alles aktuell ist.“

Er schaut Alfred gerade ins Gesicht.

„Ich will nichts Besonderes wissen. Nur allgemeine Sachen, die öffentlich sind. Sie erleichtern mir quasi nur die Arbeit. Ich bin faul. Ich muss dann nicht mehr herumrennen. Und Sie bekommen die Sachen ja sowieso. Sie arbeiten sozusagen als Rechercheur für mich. Dabei verdienen Sie auch noch ganz gut.“

„Sind sie vom Geheimdienst?“

„Vom Verfassungsschutz.“

„Wie viel ist denn da so im Monat drin?“

„Das kommt ganz darauf an, was und wie viel Sie liefern.“

„Aha, und wer entscheidet das dann?“ Mit einer Kopfbewegung deutet der Mann Alfred an, weiterzugehen. „Das entscheide ich im Großen und Ganzen allein. Es hängt von unserer Zusammenarbeit ab und dem Material, das sie mir geben. Es funktioniert so: Wir denken uns einen Namen für Sie aus. Dann treffen wir uns ab und zu. Sie bringen mir irgendwas mit, was für mich interessant sein könnte, Flugblätter, Broschüren oder Zeitungen. Irgendwas für meine Schreibtischarbeit.“

Schellenborn spielt immer ein ähnliches Spiel. Nur der individuelle Zuschnitt passt immer möglichst genau auf die Zielperson.

Immer alles schön langweilig und uninteressant erscheinen lassen. Es muss doof und unwichtig wirken. Dann funktioniert das Anwerben von Zuträgern am besten.

„Mit dem neuen Decknamen unterschreiben mir eine Quittung und bekommen Ihr Geld.“

Er hält inne.

Jetzt Alfreds Gedanken auf etwas anderes lenken. Ihn annehmen lassen, dass er eigentlich schon zugesagt hat.

„Sie können den Decknamen auch jederzeit wechseln. Würde Ihnen denn schon einer einfallen?“

Alfred überlegt.

„Richard Kimbel.“

„Sie haben eine tolle Fantasie. Eine Romanfigur. Können wir machen. Natürlich zahlen wir auch Spesen!“

„Spesen?“

„Ja, also wenn Sie zu einer Demo fahren oder zu einem Konzert, dann zahlen wir das Zugticket. Aber auch Eintritt, Essen und Trinken.“

„Essen und Trinken?“

„Klar. Sie werden dann wie ein Geschäftsmann behandelt. Wenn Sie nicht zuhause sind, dann müssen Sie doch essen und trinken. Ich habe eine Tabelle dabei. Wollen wir uns nicht kurz auf eine Bank setzen?“

„Ich kann nicht sitzen!“

„Äh, wieso?“

Alfred schlägt die Augen nieder.

„Das geht Sie nichts an.“

Schellenborn schaut ihn überrascht an, fragt aber nicht weiter. Ob er schwul ist? Vielleicht sind es Schmerzen vom Sex? Das wäre ziemlich hilfreich. Dann hätte ich ihn erst recht in der Hand! Aber in der Akte stand davon gar nichts …

Er greift in seine Jackentasche und holt ein kleines Heft hervor.

„Gehen wir weiter.“

Er gibt Alfred das aufgeschlagene Heftchen. „Hier stehen die Spesensätze genau drin. Da sehen sie: Wenn sie acht bis 24 Stunden von zuhause weg sind, dann bekommen sie 14 Euro, ab 24 Stunden 28 Euro.“

Ganz schön viel Geld, denkt Alfred. Mehr als bei meinem Job als Hausmeistergehilfe.

„Sie sind ein echter Beamter“, sagt Alfred und lacht.

„Ja. Und ich bin mit Geld sehr genau. Immerhin gibt es kaum eine Kontrollmöglichkeit meiner Tätigkeit. Da muss man ehrlich sein!“

Dann setzt er hinzu: „Hier basiert alles auf Vertrauen.“

Alfred bleibt stehen. Über ihnen kreischt ein Papagei. Eine Besonderheit im Biebricher Schlosspark. Die Halsbandsittiche breiten sich seit den 60er Jahren am Rhein aus und sind seit den 70ern auch in Wiesbaden-Biebrich heimisch geworden.

„Woher kennen Sie eigentlich meinen Namen? Und wieso kommen Sie eigentlich ausgerechnet auf mich?“

„Wir suchen immer nach klugen Menschen. Da fiel die Wahl nicht schwer.“

Bauchpinseln hilft bei jungen Menschen nahezu immer.

„Und wer kennt meinen Namen in ihrer Behörde noch?“

„Nur ich. Quellenschutz ist bei uns besonders wichtig!“, lügt Schellenborn. „Vielleicht kann ich Ihnen ja auch mal helfen! Das soll ja keine Einbahnstraße sein.“

Das ist ein alter Geheimdiensttrick, aber er funktioniert fast immer. Alt, aber gut.

Der Geheimdienstmann lacht in sich hinein.

Das Opfer soll denken, dass es etwas bekommt und den Geheimdienst austricksen kann. Die meisten Menschen fallen darauf herein, meinen, sie seien schlauer als wir.

Schellenborn lacht in sich hinein.

Allein gegen eine Megabehörde mit schier unbegrenzten Steuermitteln. Da hat keiner eine Chance!

Walter Schellenborn, wie er sich dienstlich in der Öffentlichkeit nennt, heißt in Wirklichkeit Markus Reuter.

„Manchmal erfahre ich ja auch mal etwas über euch oder speziell über Sie. Aus dem Computer oder von den Kollegen. Da könnte ich Ihnen vielleicht auch ab und zu mal eine Info zustecken.“

„Wissen Sie auch über Hausdurchsuchungen Bescheid?“

Es hat geklappt! Wieder so ein Schlaumeier. Er hat angebissen!

„Manchmal.“ Seine Stimme klingt jetzt verschwörerisch. „Aber das dürfen Sie dann niemandem sagen, wenn Sie Informationen von mir bekommen.“

„Logisch, keine Sorge! Und was ist, wenn Sie in den Urlaub fahren?“

„Dann ersetzt mich ein Kollege, wenn Sie das wünschen. Oder wir machen Pause. Auch über eine Anpassung Ihrer Bezüge können wir später noch sprechen. Je besser wir beide zusammenarbeiten, desto höher ist Ihr Verdienst. Wie in einem großen Betrieb.“

Alfred ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht, dass der erwähnte Kollege bereits jetzt schon alles mithört. Mitarbeiter von Geheimdiensten arbeiten nie allein. Jede Operation wird am Anfang von mindestens einer weiteren Person beobachtet, idealerweise sind beide ständig über Funk verbunden. Auch bleibt in der Behörde kein Informant geheim. Deck- und Klarnamen werden archiviert und jeder Schritt des Informanten in Berichten festgehalten. Wer mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeitet, bekommt weder Schutz noch irgendwelche Vorteile. Aber viele leere Versprechen. Der Inlandsgeheimdienst benutzt Menschen zu seinem Nutzen. Er lässt sie schneller fallen als er sie anwirbt. Wer sich mit den Schlapphüten einlässt, macht sich erpressbar, verkommt zum hilflosen Hampelmann. Der Verfassungsschutz ist eine Behörde des Verrats, moralisch durch und durch verrottet, unredlich und verlogen.1

Alfred weiß das nicht. Aber er wird es bald merken. Doch hat er keine Vorstellung, auf was er sich da gerade einlässt.

Ich meine, wenn ich dem Typ ab und zu mal ein Flugblatt in die Hand drücke und dafür Geld bekomme, was soll daran schon schlecht sein? Das Flugblatt würde er ja sowieso bekommen. Wir verteilen die ja. Und im Internet steht auch alles. Aber vielleicht kann ich ja auch was von ihm rauskriegen. Vielleicht bekomme ich ja mit, was die Behörde so plant. Außerdem kann ich ihm falsche Informationen geben und so die Schnüffler an der Nase herumführen. Und ich kann meinen tollen Kameraden vielleicht auch mal eins auswischen, indem ich ihre Namen in irgendeinem Zusammenhang mal fallen lasse …2

So wie Alfred denkt, denken die meisten. Dabei ist er schon mit seinen ersten Sätzen in die Falle des Staatsschützers gelaufen. Allein mit einem staatlichen Spitzel ein Gespräch zu führen, kann schon genügen, ihn ans Messer zu liefern. Walter Schellenborn könnte schon jetzt überall herumerzählen, dass Alfred ausführlich mit ihm gesprochen hat. Der Junge hätte keine Chance. Gegenüber dem Verfassungsschutz gibt es nur einen Schutz: Nichts sagen, Anwerber sofort abwimmeln und Freunden von dem Anwerbeversuch erzählen. Doch dazu ist es für Alfred bereits zu spät. Er zappelt wie eine Fliege im Netz. Schellenborn ist die Spinne, die ihn gnadenlos aussaugen wird. Am Ende wird Alfred ausgespuckt.

Ohne Freunde.

Ohne Vertrauen.

Allein.

Schutzlos.

Trostlos.

Verräter.

„Und was muss ich tun?“, will er wissen.

„Erst einmal gar nichts. Wir treffen uns einfach ein paar Mal und lernen uns kennen. Sie erzählen über sich, und was Sie so machen. Aber nur das, was Sie mir erzählen möchten. Sie können mich natürlich auch Sachen fragen. Ich schaue dann, was ich für Sie tun kann. Hier wäscht eine Hand die andere! Wenn Sie Lust haben, können wir auch diskutieren, z. B. über Flugblätter oder Broschüren, die Sie mitbringen.“

„Das ist alles? Und dafür bekomme ich Geld?“

„Im Grunde ja. Sie müssen nur noch ein paar Regeln beachten.“

„Und welche?“

„Eigentlich nur Sachen, die sich von selbst verstehen: Sie dürfen niemandem von unserem Kontakt erzählen. Aber das wäre ja auch doof von Ihnen. Sie zeichnen unsere Gespräche nicht auf, was ich übrigens natürlich auch nicht tue. Sie bekommen von mir eine Handynummer. Ab sofort bin ich unter dieser Nummer stets für Sie erreichbar. Ich bin ja von nun an für Sie verantwortlich. Wir müssen unsere Leute schützen. Ich bin also auch für Sie da, wenn Sie mal etwas brauchen. Ich helfe ihnen auch privat, könnte ihnen einen Job besorgen und so.“

Schellenborn schmiert Alfred mit seinen Lügen Honig ums Maul. Doch viel muss er gar nicht versprechen, Alfred willigt schnell ein.

„Gibt es vielleicht schon etwas, was ich für Sie tun kann?“, fragt Schellenborn scheinheilig.

„Könnte ich vielleicht einen Vorschuss haben, um mir eine neue Vespa zu kaufen?“

„Hmm.“ Schellenborn denkt kurz nach.

Geld kann ich ihm nicht ohne Gegenleistung geben, aber ich habe eine bessere Idee.

Schellenborn wechselt an dieser Stelle zum intimeren Du: „Wie wäre es, wenn ich dir ein Mofa zur Verfügung stelle? Sozusagen als Dienstfahrzeug?“ Er zieht Alfred Stück für Stück in den Strudel der Vertrautheit.

„Wow. Das ginge?“ Der Junge ist begeistert. Ruckartig dreht er sich zu ihm um. Und schreit vor Schmerzen.

„Sorry, mein Rücken tut weh.“

„Oh Gott, brauchst du einen Arzt. Was ist denn passiert?“

„Ach, so ein verdammtes Gerichtsverfahren …“

Schellenborn schaut ihn verwirrt an.

„Was?“

„Ach nichts.“

Vorsichtig läuft Alfred weiter. Seine Haut brennt wie die Hölle.

„Und was sage ich meinen Eltern und Freunden?“

„Ich besorge dir eine Vespa, die gebraucht aussieht. Ein paar Jahre alt, aber top in Ordnung. Du sagst einfach, die Versicherung hätte schnell gezahlt und du hättest ein Schnäppchen gemacht.“

In Schellenborns Kopf ist sofort eine Idee entstanden. Das Fahrzeug werden wir mit einem Peilsender ausstatten. Dann haben wir den Typen immer auf dem Radar, wissen immer, wo er sich gerade aufhält. Sogar ohne Überwachungsteams. Und weil es ja ein „Dienstfahrzeug“ ist, brauch ich dafür nicht mal eine richterliche Zustimmung …

Schellenborn lacht sich erneut ins Fäustchen.

Doch Alfred sieht ein Problem.

„Und wenn die Versicherung von Bernd nicht zahlt, weil es ein Brandanschlag war?“

„Gute Frage. Aber lass das mal meine Sorge sein. Ich kümmere mich darum.“

Schellenborn wird hintenherum organisieren, dass Bernds Versicherung auf jeden Fall zahlt, und zwar möglichst schnell. Notfalls übernimmt der Verfassungsschutz die Kosten und zahlt der Versicherung die Summe.

„Das ist nett, vielen Dank!“ Alfred ist sichtlich froh.

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

Jeder Wunsch saugt Alfred tiefer in die Abhängigkeit von Walter Schellenborn.

„Ja, eine Sache wäre da noch.“

„Und?“

„Erich Weitzel.“

„Erich Weitzel?“

„Ja, der Hausmeister der Leibnizschule. Er sitzt im Knast.“

„Warum?“

„Keine Ahnung“, lügt Alfred. „Aber er ist wichtig für unsere Bewegung.“

„Magst du erzählen, warum er wichtig ist?“, flötet Schellenborn.

„Nein, noch nicht. Aber können Sie ihn nicht rausholen und wieder an die Schule bringen?“

„Naja, allmächtig bin ich nicht, aber ich will sehen, was ich tun kann.“

Schellenborn weiß, dass ihn Alfred auf die Probe stellen will. Wenn er sich aber jetzt als mächtiger Geheimdienstmann erweist, wird Alfred ihn als Übervater sehen und ihm für immer vertrauen.

Ansonsten ist jede Bitte von Alfred für Schellenborn ein offengelegtes Geheimnis, jedes Wort eine neue Information. Geheimdienstleute sind Sammler. Jedes Detail macht ihr Bild schärfer.

Der Schnüffler kennt die Geschichte mit Weitzel natürlich. Aber bisher konnte er keinen Zusammenhang zwischen dem Kinderpornowichser und den Neonazis herstellen. Deshalb horcht er auf.

Sie an, sieh an. Jetzt ergibt auch der Fund von NPD-Flugblättern und „Mein Kampf“ bei Weitzel einen Sinn. Die Polizeikollegen hatten nämlich deshalb bei uns nach Informationen über ihn nachgefragt. Wir hatten den Namen aber noch nie gehört.

Er schaut Alfred nachdenklich an. Er sieht aus, als ob er über die Sache nachdenkt.

Mit der Information von Alfred kann ich jetzt gut weiterarbeiten. Ich werde Weitzel mal im Knast besuchen und ihm seine Neonazi-Connection unter die Nase reiben. Wäre doch gelacht, wenn ich ihn damit nicht sogar zur Zusammenarbeit drängen kann. Und wenn er zugestimmt hat, könnte ich ihn sogar aus der U-Haft holen. Er wäre ja dann ein wichtiger Zuträger. Wäre nicht das erste Mal, dass ich die Legalität etwas dehnen muss. Wird schon klappen.

Er reibt sich die Hände.

Und wenn ich Weitzel draußen habe, dann habe ich zwei treue Quellen an der Angel: Alfred und ihn. Besser geht es doch gar nicht! Da kann ich meinem Chef einen tollen Bericht schreiben. Sicher werde ich belobigt. Und am Ende winkt vielleicht sogar eine Beförderung mit Gehaltserhöhung.

„Ich werde tun, was ich kann.“

„Danke.“

„Ich rufe dich am Dienstag an und wir machen einen Termin aus.“

„Alles klar, Herr Schellenborn. Vielen Dank nochmals.“

Schellenborn ist sehr zufrieden. Zwei Anwerbungen an einem Tag sind eine gute Bilanz.

Alfred humpelt weiter zu seiner Großmutter.

Exkurs


1Exkurs Verfassungsschutz: Trotzdem können rechte Strukturen mit aktiver Unterstützung und Hilfe rechnen. Nur so war es möglich, dass eine Mörderbande wie der NSU so lange überleben konnte. Ohne logistische und finanzielle Mithilfe des Verfassungsschutzes (VS) wäre das nie möglich gewesen. Das Schreddern von Akten diente vor allem dem Schutz der eigenen Strukturen, aber durchaus auch der Neonazis. Einzelne Verfassungsschützer stehen Neonazis selbstverständlich ideologisch sehr nah. Grundsätzlich zeigt der VS Wesenszüge, die dem Faschismus ähnlich sind. Beide verfügt über keine ethischen Kriterien. Jeder Schritt dient dem Eigennutz. Außerdem ist der Hauptfeind jede Art emanzipatorischen Denkens und Handelns, er steht also links und wird bis aufs Blut bekämpft.

2 Exkurs Geheimdienste: So einfach, wie Alfred sich das denkt, funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz (VS) nicht. Die Informationen, die er der Behörde geben wird, werden mit anderen Quellen gegengecheckt. Gerade die Neonaziszene ist durchsetzt mit Spitzeln und Verrätern, so dass die Überprüfung einzelner Fakten für den VS nicht schwer ist. Der Inlandsgeheimdienst legt riesige Datenmengen in Computern ab und versucht sie miteinander zu verknüpfen. Das funktioniert mal besser, mal schlechter, je nachdem wie die Methoden der künstlichen Intelligenz angewendet werden. Doch niemals wird ein Dienst jemanden selbstlos beschützen oder gar zu seinem Wort stehen. Geheimdienste sind nur für sich selbst da, sowie für die herrschende Ordnung. Wenn etwas geschützt wird, dann ihr eigener Apparat. Geheime Dienste sammeln Informationen, die sie nutzbringend für sich einsetzen. Sie kennen weder Ehre oder Moral. Wo Verrat das Hauptgeschäft ist, ist die Lüge sein eineiiger Zwilling.

Obwohl Geheimdienstbehörden seit jeher politisch nach rechts tendieren, decken selbst sie Neonazis nicht uneingeschränkt. Mitunter gibt es bei einzelnen Mitarbeitenden durchaus Grenzen. Diese sind aber die Ausnahme. Beim NSU wurden sogar die Ermittlungen zum Mord an der Polizistin Kiesewetter nach allen Regeln der Kunst sabotiert. Wahrscheinlich wiederum, um die eigene Struktur zu schützen, weil die Ermittlungen ins düstere Innere der Geheimdienste geführt hätten. Statistisch ist aber bewiesen, dass in Geheimdiensten, der Bundeswehr oder der Polizei tendenziell rechts gewählt wird. Beamte lieben Hierarchien, Ordnung und Regeln. Für sie stehen ihr Job, ihr Eigensüchtigkeit und vielleicht auch mal ein bisschen Staatstreue im Vordergrund. Verfassungsschützern ist es völlig egal, ob sie das, was sie ihren Informanten versprechen, überhaupt halten können. Das einzig verlässliche ist die Bezahlung der Informationen mit Steuergeldern. Informanten interessieren sie als Menschen nicht. „Alle lieben den Verrat, aber niemand liebt den Verräter!“ So könnte man es auf den Punkt bringen.