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Antifa-Roman

38 | Der Aufmarsch

Peter Müller trifft sich an diesem Freitagabend erneut mit seinen Unterführern im Bunker. Anwesend sind der elegante Markus Rittling, der dicke Karl Markowitz und der schmächtige Robert Schuhmacher.

„Eine Gerichtsverhandlung genügt nicht, um den Haufen auf Vordermann zu bringen. Wir müssen noch etwas unternehmen, etwas Sichtbares. Ich bitte um Vorschläge, Kameraden! So geht es nicht weiter“, eröffnet Müller die Zusammenkunft. „Wir müssen das Zepter wieder in die Hand nehmen und dürfen nichts dem Gegner überlassen.“

Der dicke Skinhead beginnt: „Schlagen wir ein paar von denen zu Brei. Wir haben doch Namen von Alfred und Bernd. Und dann gibt es doch noch die Anti-Antifa-Kartei?“

Unter dem Label „Anti-Antifa“ sammeln Nazis bundesweit Informationen über vermeintliche politische Gegner. In den bisher aufgetauchten Listen finden sich kritische Journalisten, Abtreibungskliniken, linke Parteimitglieder, Bürgermeister, die Geflüchtete in ihren Städten und Gemeinden untergebracht haben, gegen Corona impfende Ärzte, Staatsanwälte, Antifaschisten usw. Körperliche Angriffe oder tödliche Anschläge sind die gewollte Folge dieser Sammlung.

„Das kannst du ja mit deinen Jungs machen“, entgegnet Schuhmacher. „Aber wir müssen etwas Machtvolles für alle organisieren. Etwas, was die Stimmung hebt. Im Moment sind wir in der Defensive. Und wissen nicht einmal warum.“

„Ohne meinen Befehl macht hier keiner was“, blafft Peter Müller dazwischen.

Er hat sich erhoben und läuft im Raum umher.

Wenn der hin- und herläuft, wird es wieder langweilig und lang, denkt der Skinhead. Ich hasse dieses Geschwafel. Gymnasiastenscheiße ist das. Ich hätte lieber ein Bier.

Er lächelt in sich hinein.

Und eine Fotze.

„Wir müssen alle nationalen Kräfte auf die Straße bringen. Die freien Kameraden in den Widerstandsgruppen, die Reste von der NPD, der Neuen Stärke, dem Dritten Weg und der Rechten, aber auch Coronagegner, Identitäre, Patrioten und AfD-Leute. Wir müssen den Zecken und dem deutschen Volk zeigen, dass wir da sind. Man muss uns sehen, hören und fürchten!“

„Klingt nach einem Aufmarsch“, sagt Markus Rittling freudig.

„Fast!“ Peter Müller fuchtelt wild mit den Armen. „Wir brauchen mehr! Eine Machtdemonstration! Eine Parade! Tausende von Nationalen Sozialisten ziehen durch die Straßen. Ihre Trommeln und Parolen hallen von den Wänden wider, ihr Gleichschritt dröhnt durch die Straßen. Die Zecken verziehen sich ängstlich in ihre Löcher. Ausländer holen ihre Kinder von den Straßen und schauen sorgenvoll hinter ihren verdreckten Gardinen hervor. Die Nafris unterbrechen sogar den Drogenhandel. Alle haben Angst vor uns. Vor dem erwachenden Deutschland. Angst vor der Rache des nationalen Widerstands!“

Müllers Augen leuchten. Er wirkt wie ein Soziopath auf Freigang. Mit erhobenem Zeigefinger schreitet er im Raum auf und ab. Sogar das „R“ rollt er plötzlich wie Adolf Hitler. Übung mach eben den Meister.

Karl ist begeistert.

Peter ist ein echter Hitler-Hipster.

Dieser kreative Gedanke überrascht ihn selbst. „Genau. Und meine Truppe marschiert am Rand des Aufmarsches mit. Wenn einer auch nur muckt, ist er fällig. Wir sorgen für eine ruhige Stadt. Keine Gegenparolen, keine Gegendemonstranten, kein gar nichts. Nur Ruhe, Ordnung und Sauberkeit.“

„Guter Plan, wenn die völkische Elite aus schnupfenden, saufenden und rumhurenden Glatzen besteht“, sagt Rittling überheblich. „Und dazu eure schöne deutsche Volksmusik, die Lust aufs Mitsingen macht.“

„Was willst du Hänfling? Ein paar in die Fresse?“, brüllt Markowitz. „Was hast du gegen unsere deutsche Musik?“

„Bleibt ruhig!“ Müller hat sich wieder gesetzt. Er nestelt an seinem Bart. „Wir brauchen Karls Mannen. Das wissen wir alle. Man kann sich seine politischen Soldaten nicht immer aussuchen. Nicht wahr, Karl?!“

Der Skinhead nickt und wirft Rittling einen bösen Blick zu.

„Irgendwann begegnen wir uns mal allein“, flüstert er.

Rittling rückt instinktiv von ihm weg.

Müller spricht weiter.

„Der 9. November wäre gut. Der Tag des Marsches der NSDAP auf die Feldherrenhalle. Wir machen ihn zum Traditions- und Gedenktag der deutschen Tugenden: ehrliche Bezahlung, sichere Straßen, glückliche Familien. Da können uns nicht einmal die Linken und der DGB an den Karren fahren.“

„Nur die Juden,“ wirft Rittling ein. „Es ist auch das Datum der Reichskristallnacht.“

„Stimmt. Aber das ist umso besser. Wir polarisieren Deutschland“, sagt Müller. „Wir halten die positiven Eigenschaften der Nation hoch und wehren uns gegen die ewige Schuld, die uns eingeredet werden soll. Das wird wirken! Den Scheiß haben wirklich viele Deutsche satt.“

„Hört sich gut an, Peter“, antwortet Rittling. „Ich werde die Mobilisierung unterstützen und den Aufruf über meine Newsletter, Telegram und Versandkataloge verbreiten.“

„Das ist der Volkszorn: die allgemeine Unzufriedenheit gegen unsere Feinde gelenkt.“

„Aber zuerst müssen wir die Kameraden zur Zustimmung bringen“, wirft Schuhmacher ein. In der Hand spielt er mit seiner Kappe.

„Kein Problem!“, versichert Müller. „Das mache ich! Mein Vater ist meist meiner Meinung!“

Damit ist der Aufmarsch beschlossene Sache.

Überraschungen sind nicht zu erwarten. Naziaufmärsche laufen immer ähnlich ab. Die Rechte wird als Partei die Demonstration anmelden. Sämtliche rechtsradikalen Kräfte werden auf allen Kanälen mobilisieren. Die Stadt wird gegen den Aufmarsch klagen. Der Prozess geht in die nächste Instanz. Diese wird den Aufmarsch mit Auflagen genehmigen. Gegendemonstranten mobilisieren im Vorfeld dagegen. Die Presse wird eine Gefahr durch die Gegendemonstranten herbeireden. Stadt und Polizei werden alles unternehmen, um den Antifaschisten das Demonstrieren schwer zu machen.

Die Nazi-Gegner werden Blockaden planen. Die Polizei wird Hausbesuche bei ihnen durchführen und präventiv Platzverweise erteilen.

Letztendlich wird es von Seiten der Nazi-Gegner mehrere Sammelpunkte geben. Es wird zu Blockadeversuchen, Polizeikesseln, Pfeffersprayeinsätzen, Knüppelorgien und Verhaftungen kommen. Der Naziaufmarsch wird mikroskopisch klein sein, ihre Teilnehmer dumpf und trotzig. Die Blockaden verzögern den Miniaturumzug immer wieder, Polizei und Wasserwerfer lösen die sitzenden Menschengruppen auf. Schließlich wird der Nazimarsch abgebrochen. Die Polizei geleitet die Nazis zum Zug und wünscht eine gute Heimreise. Drumherum wird sie Hunde auf Nazi-Gegner hetzen, Pfefferspray einsetzen und ihre Knüppel gegen sie schwingen. In den Zeitungen wird dann stehen, dass Antifaschisten sie angegriffen hätten.

Der „IMSI-Catcher“ der Polizei zeichnet an diesem Tag alle Handydaten in Wiesbaden auf. Jeder wird zum potenziellen antifaschistischen Straftäter. „Kill ’em all, let god sort ’em out.“ Das galt schon für die US-Soldaten in Vietnam. Alles ist ein Ritual.

So geht das seit Jahren, deutschlandweit. Wir haben das schon hunderte Male gemacht, denkt Müller. Im schlechtesten Falle sind die Gegner so viele, dass wir uns nur sammeln können und nicht marschieren. Im besten Falle, und so ist es immer öfter, prügelt uns die Polizei die Straße frei. Viele Blockierer bekommen sogar einen Prozess wegen Nötigung und müssen zahlen.

Mit diebischer Freude denkt Müller daran, dass das Regierungssystem eigentlich ziemlich effektiv gegen die Nazifeinde vorgeht.

Vor allem die Wiesbadener Stadtverwaltung ist extrem defensiv und damit uns gegenüber eigentlich sehr freundlich. Wir mussten bisher nur in Vororte ausweichen. Da konnten wir dann machen, was wir wollten. Sogar mit polizeilichem Fahrservice zwischen Bahnhof und Versammlungsort. Der Verantwortliche beim Ordnungsamt ist ein Grüner. Vielen Dank übrigens noch.

Peter Müller muss sich also wegen des Aufmarschs von Faschisten in der hessischen Landeshauptstadt keine Sorgen machen. Doch er grübelt trotzdem vor sich hin, während er sich die Ärmel hochkrempelt.

Diese Häufung von seltsamen Feind-Aktivitäten haben meine Männer mehr verunsichert als ich dachte. Vor allem die Hausbesuche und die Drohungen. Das waren nicht so ein paar abgemagerte vegane Studentenratten. Es waren echte Männer. Kein Antifawurm hat sich bisher so was getraut. Wenn die mal kommen, dann immer als Mob. Doch komisch ist vor allem: Woher haben die unsere Namen? Da ist was faul. Und dann noch die schiefgelaufene Aktion gegen diesen Stefan, die brennenden Fahrzeuge, der Überfall auf den Hausmeister. Das trägt alles eine neue Handschrift. Das wirkt entschlossen und organisiert.

Peter Müller ist elektrisiert.

Organisiert! Das ist es! Die haben sich abgesprochen. Na klar! Die koordinieren sich! Das ist das Neue. Verdammt!!! Die sind organisiert!

Er reibt sich abwesend das Kinn.

Eine ernsthaft organisierte Antifa kann zu einem echten Problem werden!