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Der Frieden bleibt die vorderste Sehnsucht

Anfang des Jahres hat einer unserer Genossen einige Länder Lateinamerikas bereist. Unter anderem interviewte der Genosse Luis Alberto Albán, einen ehemaligen Kommandanten der FARC-EP, der nun für die Partei Comunes im kolumbianischen Parlament sitzt. Ein Gespräch über den Friedensprozess und den Pacto Histórico der neuen links-Regierung von Gustavo Petro und Francia Márque.

Autonomie Magazin: Im Jahr 2016 wurde ein Friedensvertrag zwischen dem kolumbianischen Staat und den FARC-EP unterschrieben. Eine der Forderungen in den Verhandlungen war die Partizipation der FARC als politische Partei. Das wurde erreicht mit der heutigen Partei Comunes. Ein anderer essenzieller Aspekt war die Sicherheit der ehemaligen Kämpferinnen und Kämpfer. Leider wurden nach der Vertragsunterzeichnung viele ehemalige Gueriller@s und in sozialen Bewegungen Aktive umgebracht. Viele Menschen in Kolumbien hatten die Hoffnung, dass sich das verändert mit der neuen Regierung des Pacto Histórico. Diese Regierung ist heute seit sieben Monaten im Amt. Hat sich da schon etwas verbessert in den letzten sieben Monaten? Gab es bereits Fortschritte oder gibt es immer noch so viele Morde und Bedrohungen?

Luis Alberto Albán: Gut, die Wahrheit ist, dass der erste Teil stimmt, aber man muss einige Präzisierungen vornehmen. Nach der Unterzeichnung des Vertrages und während die Regierung des Präsidenten Santos zu Ende ging, machte der Friedensprozess trotz einiger Fehltritte und nicht eingehaltener Aspekte Fortschritte. Aber nach dem Triumph von Duque (Iván Duque, Präsident von 2018–2022), dem Triumph der extremen Rechten in diesen Präsidentschaftswahlen, kamen vier Jahre, in denen der Prozess mit den FARC komplett ignoriert wurde. Der Vertrag, der Produkt dieses Prozesses war, wurde ignoriert und zum Objekt vielfältiger Attacken. Innerhalb dieser Attacken stand der Versuch, die Sondergerichtsbarkeit zu ignorieren, den Vertrag nicht zu erfüllen, und der Versuch, Zwietracht zu säen zwischen den Befehlsträgern der ehemaligen FARC und der Basis der Guerilla sowie nicht voranzukommen in der Erfüllung, beim Thema der Reinkorporation – weder ökonomisch, noch politisch, noch sozial. Die Partei war schon geschaffen, die Partei, die anfangs Alternative Revolutionäre Kräfte des Gemeinsamen (FARC) hieß und die wir später wegen der Stigmatisierung in Comunes (Gemeinsam) umwandelten. Sie war bereits geschaffen und ein Teil dieser Einbeziehung ins Politische, aber es gab keinen Raum, wirklich die Politik zu machen, die wir für unsere Pflicht hielten. Der Vertrag wurde in diesen vier Jahren nicht eingehalten und innerhalb dieser Nichteinhaltung gab es einen Mangel an Sicherheitsgarantien sowohl juristisch als auch für das Überleben. Und deshalb haben wir mehr als 300 getötete Genossen in diesem Prozess. Jetzt mit der Regierung des Pacto Histórico, in der wir als Comunes beteiligt sind, gibt es definitiv einen Wandel. Ja, es wurden zwei oder drei Genossen umgebracht. Jeder – auch wenn es nur einer ist – tut weh, aber es gibt, sagen wir, eine andere ideologisch-politische Vorstellung und wir schreiten voran mit der Erfüllung dieses Vertrages – mit Schwierigkeiten, ja, wegen der Verzögerungen, aber wir haben vollstes Vertrauen, dass die Erfüllung des im Teatro Colón Unterschriebenen als Ausgangspunkt des Totalen Friedens fungieren wird.

AM: Eine Schlüsselfrage im Vertrag war die Bodenreform. Hat die neue Regierung bereits eine solche Reform entwickelt?

LAA: Nein, die Bodenreform ist keine Sache, bei der man sagen kann: So, wir haben jetzt die Bodenreform gemacht. Die Agrarreform ist ein Prozess, der zu tun hat mit Boden für die Bauern, die keinen oder nur sehr wenig haben und die ihn bearbeiten wollen. Aber sie hat auch zu tun mit den Möglichkeiten, diesen Boden auszubeuten und produzieren zu können. Sie hat zu tun mit der Vermarktung der Produkte, da muss man auf die Kommunikationswege schauen. Sie hat zu tun mit den Lebensbedingungen der Bauernschaft, die nicht diese unmenschlichen Bedingungen sein können. Die Bauernschaft muss haben: Kanalisation, Wasser- und Energiezugang, sie muss Anbindung haben, sie muss Straßen haben. Will heißen: Bauer zu sein darf keine Strafe sein! In diesem Prozess ist man vorangekommen, wenigstens im Bereich, Land zu suchen. Man hat einige, immer noch sehr wenige, Hektar Land an Bauern übergeben, aber man kommt hier voran. Es gibt, sagen wir, das Angebot von drei Millionen Hektar, die nachverhandelt wurden. Und auch in anderen Aspekten der integralen Landreform, Punkt eins, wie im Mehrzweckkataster (Informationssystem, das Daten über Land und dessen Eigentumsansprüche sammelt) oder der Stärkung der Bauernorganisation. Hier kommen wir voran.

AM: Ein anderer sehr wichtiger Aspekt im Friedensvertrag und auch allgemein in der Geschichte des Landes ist der Drogenhandel. Wie hat sich der Kampf gegen den Drogenhandel seit 2016 entwickelt?

LAA: Okay, es ist wichtig, dass der Drogenhandel nicht der Gegenstand des Punkt vier war. Der Gegenstand von Punkt vier im Vertrag war die Lösung des Problems der unerlaubten Drogen. Wir teilen das in drei Etappen auf: Eine Etappe, für die wir eine Lösung entwarfen, ist die Etappe der Aussaat von Pflanzungen für den illegalen Gebrauchs. Dafür haben wir uns ausgesprochen und einen Plan der freiwilligen Substituierung, die der Bauernschaft Möglichkeiten gäbe, in Würde von anderen landwirtschaftlichen Produkten zu leben, vereinbart. An zweite Stelle haben wir das Thema der Konsumenten gesetzt, wo wir sagen, das ist ein Thema, das man hinsichtlich von Gesundheitsfragen bearbeiten muss. Es darf kein Thema sein, dessen man sich von polizeilicher Seite her annimmt und dessen man versucht, mit Repression beizukommen. Und an dritter Stelle steht das Thema des Drogenhandels derjenigen, die enorme Gewinne daraus ziehen. Und das hat nicht nur mit Kolumbien zu tun, da gibt es eine Mitverantwortung der Welt, beginnend bei den konsumierenden Ländern. Hier gab es Fortschritte, denn die USA, die den sogenannten Krieg gegen den Drogenhandel oktroyierten, haben bereits eingesehen, dass dieser gescheitert ist. Der Welt ist nun klar, dass man nicht mit Glyphosat sprühen darf, dass man die Umwelt, dass man die Erde schützen muss. Man kommt also voran in verschiedenen Formen der Regularisierung und Legalisierung, die wir als Comunes und auch schon vorher in der FARC-Guerilla immer als Lösung bezeichneten. Den Konsum regulieren, legalisieren, damit es aufhört, dieses extraordinäre Geschäft zu sein und sein Korruptionsvermögen verliert. Im Vertrag festgehalten ist die Einberufung einer internationalen Konferenz mit Staaten, mit internationalen und nationalen Körperschaften, mit multilateralen Organisationen, um sich zusammenzusetzen und eine Lösung für das Thema des Drogenhandels zu finden. Das alles bedarf aber der Basis, dass die Länder akzeptieren, dass sie Mitverantwortung tragen, dass dies kein Problem von Kolumbien, sondern ein Problem der Welt ist.

AM: Petro kündigte einen Totalen Frieden ein, also auch einen Frieden mit anderen Guerillas wie der ELN (Nationale Befreiungsarmee), aber auch mit anderen bewaffneten organisierten Gruppen wie Drogenhändlern oder paramilitärischen Gruppen. Ist das ein realisierbarer Plan?

LAA: Der Frieden bleibt die vorderste Sehnsucht, der vorderste Wunsch dieses Landes. Der erste Punkt ist die Umsetzung des Vertrages, der in Havanna konzipiert wurde. Der zweite Punkt ist der Prozess mit der ELN. Der dritte Punkt sind die Prozesse mit den sogenannten Dissidenten der FARC. Da gibt es viele Schwierigkeiten, weil keine Strukturierung existiert, darüber zu urteilen, ob die Absprachen zur Waffenruhe eingehalten werden. Und an vierter Stelle steht das Thema der Unterwerfung unter das Gesetz von mit Drogen handelnden und paramilitärischen Gruppen. Die bekannteste davon ist der Golf-Clan, mit dem vor kurzem der Waffenstillstand aufgehoben wurde. Es wäre notwendig, zu ermitteln, wie die Unterwerfung jener Gruppen unter die Justiz erreicht werden kann.

AM: Hat der Umstand, eine (relativ) fortschrittliche Regierung zu haben, die sozialen Bewegungen im Land eher gestärkt oder geschwächt?

LAA: Ich denke, dass es eine Stärkung bedeutet. Wir sollten nicht zu dem Paradox kommen, Teil der Regierung zu sein, uns aber selbst für besiegt halten. Sicher laufen die Sachen nicht genau so, wie wir das wollen und auch nicht in der Geschwindigkeit, die wir uns wünschen, aber es sind nun mehr als 200 Jahre Herrschaft einer Klasse, die sich alles aneignet, und wir fangen gerade erst an mit einer Regierung, die noch nicht einmal ein Jahr im Amt ist und schon Projekte zur Lösung der Probleme in Form der Reformen, an denen wir im Kongress arbeiten, präsentiert hat. Das geht nicht von einen Tag auf den anderen. Uns wäre es recht, wenn es schneller ginge, aber das ist die Realität, die wir schaffen müssen und die wir gerade schaffen mit dem kolumbianischen Volk.

AM: Wie macht ihr das als politische Partei Comunes, wie übt ihr Druck auf die anderen Teile des Pacto Histórico aus, damit der Friedensvertrag erfüllt wird?

LAA: Nein, von Druck kann man hier nicht reden. Es gibt Kräfte, die im Pacto Histórico integriert sind und auch mit dem Pacto Histórico verbündete Kräfte, traditionelle Parteien, es gibt viele Engagierte für das Thema Frieden; viele, die im Prozess mitgearbeitet haben, den Frieden in der letzten Periode verteidigt haben und jetzt weitermachen mit diesem Engagement, weil sie wissen, dass die Realität in unserem Land nur eine Zukunft hat auf dem Weg des Friedens und der nationalen Aussöhnung.

AM: Im Vertrag wurde außerdem festgehalten, dass die politische Partei FARC, heute heißt sie Comunes, Sitze im Kongress erhält. Wie nutzt ihr diesen Einfluss aus, den ihr damit jetzt habt?

LAA: Also, keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie wir das ausnutzen, wir haben eine Fraktion von zehn Abgeordneten, fünf im Senat und fünf in der Kammer, und da sind wir am Arbeiten und setzen uns dafür ein, dass die Reformen dieser Regierung verabschiedet werden – der Pacto Histórico ist eine Regierung des Wandels, eine Regierung der Kraft des Lebens.

AM: Seitens des kolumbianischen Volkes, erfahrt ihr da als Partei viel Unterstützung oder eher Ablehnung?

LAA: Es gibt keine Ablehnung! Wir haben immer noch zu kämpfen mit der Stigmatisierung, die wir während der Regierung der extremen Rechten auszuhalten hatten, und diese Stigmatisierung kommt noch immer von Teilen der extremen Rechten mittels der Medien, die viele Lügen verbreiten. Deswegen ist es für uns notwendig, mit der Friedenspädagogik weiterzumachen, weiter zu erklären, was dieser Vertrag ist, weil es auch Fraktionen gibt, die behaupten, ihn zu kennen, aber keine Ahnung haben, was der Vertrag ist. Und wir müssen pädagogisch wirken, um zu erklären, was wir dort gesagt haben, was unsere Ziele waren und warum wir im Moment der Unterzeichnung sagten: kolumbianisches Volk, das hier ist ein Werkzeug des Kampfes, um die Zukunft zu erschaffen, die wir wollen.

AM: Wie ist die Partei verknüpft mit anderen sozialen Bewegungen, wie Bauerninitiativen oder auch den ETCR (territoriale Räume zur Fortbildung und Wiedereingliederung ehemaliger FARC-Kämpfer:innen)?

LAA: Die ETCR sind keine soziale Bewegung; die ECTR sind die Siedlungen der Genoss:innen, die wie wir alle von der Guerilla kommen – da sind wir, da ist die Partei präsent. Nicht alle dort sind in der Partei, aber wir nehmen dort eine wichtige Rolle ein. Wir stehen in Beziehung mit der sozialen Bewegung, mit der Bauern-, der Gewerkschafts- und der städtischen Bewegung. Da arbeiten wir als gesamte politische Partei.

AM: Vielen Dank, Luis Alberto Albán!

LAA: Vielen Dank! Nein, vielen Dank dir! Auf dass es euch gut geht! Einen Gruß an alle, die den Frieden in unserem Land unterstützen!