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Antifa-Roman

45 | Fast Food

Jochen ist bereits da, als Marc am nächsten Tag den Schnellimbiss in Mainz-Mombach betritt. Er sitzt zusammengesunken in einer Ecke, vor ihm ein Becher Cola. Die schwarzen Augenringe dominieren sein bleiches Gesicht.

Er ist gekommen. Das ist schon mal der erste Schritt, denkt Marc und setzt sich zu ihm.

„Gude.“

„Hi.“

„Schön, dass du da bist.“

Er lächelt.

„Dann erzähl mal, was ist los?“

„Vergiss es.“

„Was?“

„Ich bin nicht wegen mir hier Marc, sondern wegen dir!“

Jochens Stimme ist klar, trotz seiner erbärmlichen Erscheinung.

„Wegen mir?“

Marc schüttelt den Kopf.

„Bin ich hier der Crystal-Junkie oder was?“

„Genauer gesagt, nicht nur wegen dir, sondern wegen euch.“

„Was redest du da? Bist du stoned?“

Jochen lacht.

„Nein, du bist eben kein Experte.“

„Knalltüte!“

„Es geht um die Antifa, eure Schul-Antifa.“

„Die Schul-Antifa?“, fragt Marc verunsichert.

Er steht auf.

„Warte, ich hol‘ mir gerade mal ‘nen Burger.“

Als er wieder kauend am Tisch sitzt, spricht Jochen weiter.

„In zwei Wochen seid ihr fällig.“

„Sag mal, von was redest du da eigentlich?“

„Die haben euch ausspioniert. Sie wissen, wo und wann ihr euch trefft. In zwei Wochen wollen sie euch überfallen und platt machen. Noch pünktlich vor dem Aufmarsch. Damit Ruhe ist.“

„Wer?“

„Die Leute um Müller und Konsorten. Die Nazis.“

„Woher weißt du das?“

„Ich hänge mit ihnen ab“, antwortet Jochen. „Da weiß man das.“

„Wie, da weiß man das?“

„Okay Marc. Hör mal zu. Ihr seid etwa ein Dutzend. Markowitz, der fette Glatzkopf, hat etwa so viele in seiner Truppe. Nur in doppelter Mannstärke trauen sie sich aber an einen Feind ran. Also brauchen die mehr Leute. Er muss den Rest bei Sympathisanten und Kameradschaften rekrutieren. Dann spricht sich sowas ‘halt rum.“

Marc beißt in seinen Burger.

„Sogar Stricher erfahren so was!“

Marc ignoriert die Spitze.

„Und warum warnst du uns?“

„Weil du der Einzige bist, der mich mag.“

„Was?“

„Es gibt sonst keinen. Niemanden.“

Er stockt.

„Meine Oma weiß nichts mehr. Sie hat mich aufgezogen, erkennt mich aber nicht mehr. Meine Mutter lebt nur noch im Delirium.“

Dann blickt er Marc direkt in die Augen.

„Nazis hassen schwache Menschen. Sie hassen Menschen wie mich. Sie würden mich umbringen, wenn sie wüssten, dass ich mir für Geld Männerschwänze in den Arsch stecken lasse.“

Jochen sagt die Worte bitter und trocken.

„Du weißt das alles. Und noch etwas. Obwohl ich gestern als vollgedröhnter Müllhaufen vor dir stand, hast du mich umarmt.“

Dabei wollte ich dich ursprünglich eigentlich erpressen, denkt Marc. Er schämt sich.

„Ich mag dich immer noch“, sagt er. „Komisch, aber wahr.“

„Danke“, sagt Jochen stotternd. Dann fängt er sich. „Aber jetzt hör mir mal zu. Bei eurem übernächsten Treffen wollen die euch überfallen. Direkt im Vereinsheim, wo die beiden Türken trainieren.“

„Bist du dir sicher?“

„Klar, alle bereiten sich auf den Termin vor.“

„Weißt du Genaueres?“

„Nein.“

Marc kann sich die Details denken. Das Gelände ist für einen Überfall ideal.

„Ich danke dir für die Warnung!“

Sie schweigen. Marc schiebt das leere Tablett beiseite.

„Und jetzt lass uns über dich reden.“

„Nein, das ist nicht nötig. Ab morgen bin ich weg.“

„Wie weg?“

„Ich habe mir eine therapeutische WG gesucht. Vor Monaten schon. Morgen ist Umzug.“

„Wohin ziehst du denn?“

„Nach Fulda. Erst einmal nur ein paar Monate.“

„Und deine Kumpels, was hast du denen gesagt?“

„Alkoholentzug. Angeordnet von der Schule wegen schlechter Noten. Die fragen nie nach. Jetzt bin ich für die ein Weichei, aber was soll’s. Lieber weich als tot.“

Er grinst gezwungen.

„Kann ich sonst etwas für dich tun?“, fragt Marc. Er wirkt ruhig. Doch in seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken.

Wir sind in Gefahr. Alle. Wenn die uns zusammenhauen, dann haben wir die Verletzten auf dem Gewissen. Oder sogar Tote. Wir haben damit angefangen. Die Schüler-Antifa ist doch zu so etwas gar nicht fähig. Keiner von uns ist vorbereitet. Verdammt. Ständig liest man, dass Nazis irgendwo Leute totschlagen, Obdachlosen die Köpfe mit Stiefeln zertrümmern, auf Jugendliche in ihren Zelten auf Campingplätzen eindreschen, Ausländer jagen, Leute abstechen und sogar Polizisten ermorden. Und wir treffen uns mehr oder weniger offen mal eben so und denken: Macht ja nichts. Weiß ja keiner!

Er stockt.

Weiß ja keiner? Apropos.

„Woher wissen deine Kumpels eigentlich von uns?“

„Keine Ahnung. Aber in der Szene wimmelt es von Polizisten und so Leuten. Viele kennen sich zum Beispiel aus dem Schützenverein.“

„Nazis im Schützenverein?“

„Und in der Bundeswehr, beim Verfassungsschutz, überall …“, ergänzt Jochen.

„Ich glaube, mir wird schlecht!“

„Jetzt mal ruhig Blut.“ Jochen fasst ihn am Arm. „Die kochen auch nur mit Wasser. Allerdings sind die Behörden voll mit Sympathisanten. Da müsst ihr aufpassen. Aber ich muss jetzt weg, Marc.“

„Eine Line ziehen?“

„Nein, du Arsch. Packen.“

„Tut mir leid.“

„Ist schon okay. Du hast mir übrigens gestern ganz schön hart den Spiegel vorgehalten. Und das, was ich sah, war ekelhaft!“

Marc sagt nichts.

„Wenn man auf Drogen ist, dann kann man dieses Bild immer wieder wegballern. Klar seh‘ ich mich auch hin und wieder so. Aber nie so krass. Das gestern war richtig heftig.“

Er schaut sich im Raum um. Einige Gäste sind da, lachen, reden und tippen auf ihren Smartphones.

„Das war echt brutal.“

Jochen spielt mit seinem Colabecher.

„Aber es war richtig.“

Dann greift er in seinen Rucksack und holt einen dunklen Umschlag heraus.

„Das ist für euch.“

„Was ist das?“

„1.000 Euro.“

„Die brauchst du wohl dringender.“

„Ich habe auch 1.000.“

Der Umschlag liegt zwischen den beiden.

„Steck schon ein, das sieht sonst auffällig aus.“

„Woher ist das?“

„Von dem Fettsack gestern.“

„Der zahlt dir so viel?“

„Unfreiwillig.“

Marc blickt ihn fragend an. Entweder er erzählt es mir oder er lässt es.

„Er ist nach der Nummer eingeschlafen. Wir waren bei ihm zuhause, er fickte mich zwischen Urlaubsbildern mit der Familie und Kinderzeichnungen.“

Angewidert zerknüllt Jochen seinen leeren Becher.

„Da habe ich mich ein bisschen umgeschaut. Das ist vermutlich die Urlaubskasse. Soll er doch mal seiner Frau erklären, wo die geblieben ist.“

„Du hast das einfach diesem Typen geklaut?“

„Ja, und jetzt?“

„Der hat dir doch gar nichts getan.“

„Was? Bist du jetzt doof?“ Jochen spricht sehr laut. „Das ist ein Kinderficker, verdammt. Ich bin so alt wie du. Der hat mir einmal die Woche sein Ding hinten reingeschoben. Danach musste ich ihm seinen Schwanz lutschen, bis er einschlief. Das war seine Vorliebe. Dafür hat er mir Drogen gegeben. Und manchmal auch ein bisschen Geld.“

Einzelne Gäste schauen zu den beiden rüber.

Marc flüstert.

„Aber du hast es doch freiwillig gemacht.“

Jochen spricht jetzt ebenfalls mit gesenkter Stimme.

„Freiwillig? Freiwillig?“

Er schaut Marc direkt ins Gesicht.

„Wo lebst du eigentlich, Marc Brenda? Kennst du irgendjemanden, der sich freiwillig benutzen lässt? Der freiwillig alles macht, was ein dicker ungewaschener Widerling ihm sagt? Freiwillig? Auf irgendeinem Bahnhofsklo, Hose runter, bücken, Schwanz rein, abspritzen, Sperma in die Fresse? Was meinst du, wie das ist? Wem macht das denn Spaß?“

Marc kann Jochen nicht ansehen. Er schämt sich.

„Warum gibt es die Drogen wohl vorher? Weil es so schön ist? Weil alle Stricher das mögen? Weil wir als perverse kleine Jungs geboren werden, als Sexsklaven, als Leibeigene?“

„Jochen, hör auf.“

„Nein, ich hör‘ nicht auf. Du hast mir gestern meinen Spiegel vorgehalten, jetzt schaust du in deinen. So seid ihr nämlich alle. Ihr seht die Täter nicht. Der Typ ist ein Kinderficker. Verdammt! Das ist doch kein normaler Kunde, der zu einem Callboy geht. Ich bin nicht einmal volljährig. Und sehe auch nicht annähernd so aus. Deine Freunde in der Bar wissen das. Alle. Wieso machen sie nichts dagegen? Wieso fliege ich nicht aus der Bar raus? Die hängen da alle mit drin. Alle schweigen, alle stimmen zu. Das ist eine ekelhafte Welt mit harten Drogen und gekauftem Sex. Ich bin ja auch nicht der Einzige.“

Jochen wirft den zerknüllten Becher Richtung Marc. Er duckt sich.

„Vielleicht hast du Recht. Ich denke darüber nach.“

„Nimm es mir nicht übel, aber da bist du vermutlich sehr naiv, und viele andere auch.“

„Wahrscheinlich. Ich hab‘ von dieser Seite der Gesellschaft keine Ahnung.“

Er macht eine Pause.

„Danke für das Geld, wir können es gut gebrauchen.“

„Meine Rache an dem Fettsack. Verwende es sinnvoll. Auch gegen meine Nazikumpels. Irgendwie sind die totale Scheiße.“

Marc sieht ihn fragend an.

„Ich hatte sonst niemanden.“

„Doch, mich.“

„Ja, jetzt.“ Er macht eine Pause. „Das ist schön! Aber spät.“

„Jochen, ich drück dir die Daumen!“

„Eine Bitte hätte ich noch.“

Marc schaut Jochen fragend an.

„Gibst du mir deine Telefonnummer? Darf ich dich anrufen, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll?“

„Du willst mich anrufen?“

„Es gibt sonst niemanden.“

„Und du willst mich nicht linken?“

Menschen auf Drogen sind unberechenbar, denkt Marc. Vertraue ihnen nie! Sie wissen nicht, was sie tun!

„Ich weiß, dass es schwer fällt, einem wie mir zu vertrauen!“

Marc schaut Jochen erneut in die Augen.

„Die Vernunft sagt nein, mein Freund. Aber mein Herz sagt ja. Missbrauche mein Vertrauen nicht!“

„Versprochen!“, sagt Jochen mit fester Stimme.

Marc schreibt seine Handynummer auf einen Zettel und gibt ihn ihm. Die beiden umarmen sich stumm.

Vielleicht hast du mir gerade das Leben gerettet, denkt Marc. Und dabei das deine riskiert.

„Danke!“, sagt Marc. „Danke für die Info!“

„Danke für dein Vertrauen!“, antwortet Jochen.

Ein letzter Blick, dann ist Jochen verschwunden.

An der Bushaltestelle kann Marc kaum einen klaren Gedanken fassen.

Wie sollen wir auf diese Bedrohung reagieren? Wie sollen wir uns gegen eine Meute kampferprobter Nazis wehren? Soll unsere Antifa-Arbeit vorbei sein, bevor sie anfängt? Ist die Naziflut vielleicht gar nicht mehr aufzuhalten?

Wie in Trance steigt er in den Bus. Die Sicht auf den Rhein kann er nicht genießen, während er über die Brücke gefahren wird.

Wir sind chancenlos. Wie sollen wir denn einem Angriff begegnen? Wir sind doch nur zwölf Schüler. Wir können nicht einmal abhauen. Denn es hört ja nicht auf, wenn wir wegrennen!

Das letzte Stück zu Vera geht er zu Fuß.

Wir sind wehrlos. Wir sind ein Haufen unbedarfter Jugendlicher. Waffenlos. Ohne Erfahrung. Schwach. Was sollen wir nur machen?

Marc ist verzweifelt. Er findet keine Lösung.

Als er bei Vera eintrifft, sitzt sie mit Mîrhat und Annette in der Küche. Auf dem Tisch steht eine dampfende Kanne Tee.

Er küsst Vera und Annette. Mîrhat gibt er die Hand. Doch der nimmt ihn in den Arm.

„Alles klar? Auch einen Tee?“

Marc nickt und setzt sich.

Vera spürt sofort, dass etwas nicht stimmt. Aber sie lässt sich nichts anmerken. Sie kann Marc auch später noch fragen.

Mîrhat freut sich, Marc zu sehen. Augenzwinkernd sagt er: „Na, lassen euch die Nazis nun endlich in Ruhe, nach unserem Auftritt?!“

„Bisher schon“, antwortet Marc einsilbig.

„Bisher?“, fragt Mîrhat nach.

„Ja, bisher.“

„Glaubst du, das ändert sich demnächst?“, fragt Annette. Sie hat einen siebten Sinn für versteckte Hinweise.

„Keine Ahnung“, antwortet Marc wenig glaubwürdig.

„Bist du schlecht drauf oder was?“, will Vera wissen. Sie kennt Marc, wenn er so ausweichend antwortet, dann ist etwas faul. „Was ist los?“

Er nippt an seinem Tee.

„Nichts, ist nur alles gerade sehr anstrengend“, sagt er.

„Ich glaube dir kein Wort“, sagt Vera nun lauter. „Du trägst etwas mit dir herum. Entweder du sprichst jetzt oder du hast bitte sofort gute Laune! Wahlweise kannst du auch in mein Zimmer gehen und schmollen. Aber bitte versprüh hier nicht deine temporären Depressionen.“

Marc blickt Vera an. Im Kern hat sie Recht. Er brütet. Sein Blick fällt auf Mîrhat. Der zuckt nur mit den Schultern.

Vielleicht hat er eine Idee? Der Mann kennt immerhin den Krieg aus Kurdistan. Und er hasst Faschisten. Und wir brauchen Hilfe. Echte Hilfe. Wir können das nicht alleine stemmen. Niemals. Nazis sind Mörder. Vergiss das nie, Marc Brenda. Das war bisher alles nur Kleinkram. Aber denk mal nach: Stefan bekam Gas ins Gesicht und wurde mit einem Totschläger angegriffen. Er könnte schon tot sein! Isabella wurde fast vergewaltigt. Und jetzt sollen wir überfallen werden. Das sind Monster. Die kennen keine Gnade. Faschismus ist tödlich. Vergiss es nicht, Marc Brenda. Faschisten foltern, töten und vernichten. Das ist ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft! Sie werden nie etwas anderes tun!

Marc blickt in die Runde. Drei Augenpaare ruhen auf ihm.

„Ich muss euch was erzählen“, sagt er schließlich. „Es ist vertraulich. Absolut vertraulich. Könnt ihr mir versprechen, dass ihr zu niemandem ein Wort sagt?!“

Alle nicken.

„Ich bin wirklich verzweifelt und kenne keine Lösung.“

Annette steht auf.

„Gebt mir die Handys.“

Sie geht runter in die leere Schneiderei und packt die Smartphones in die ausgekleidete Tupperdose.

Als sie zurückkommt, berichtet Marc, was er gerade erfahren hat. Jochen erwähnt er mit keinem Wort.

„Die bringen euch um“, ist Annettes erste Reaktion.

„Genau davor habe ich Angst!“, antwortet Marc.

„Geht zur Polizei“, sagt Annette. „Das ist eine Nummer zu groß für euch.“

Vera nickt zustimmend.

„Ich weiß nicht“, erwidert Marc. „Was sollen das bringen? Wenn die Nazis uns jetzt nicht erwischen, dann später. Außerdem habe ich ja keine Beweise.“

„Egal“, sagt Annette.

Alle schweigen ratlos.

Dann durchbricht Mîrhat die Stille: „Oder die braunen Drecksäcke bekommen von uns einen Denkzettel verpasst!“

Als Kurde, der dem türkischen Militär in die Hände gefallen war, hat er schon Krasseres erlebt, als sich mit ein paar wild gewordenen lokalen Neonazis in der Bundesrepublik auseinanderzusetzen.

Vera schaut ihn fragend an. „Was? Wir sollen die umbringen?“

„Nein, natürlich nicht“, beschwichtigt Mîrhat. „Aber wir könnten uns was überlegen.“

„Spinnt ihr jetzt alle?“, Annette ist aufgebracht.

„Wie, was überlegen?“ In Marc keimt Hoffnung.

Mîrhat schaut ihm in die Augen. „Wie wäre es mit einem Hinterhalt?“

„Sollen wir einen Kleinkrieg anfangen?“, fragt Vera besorgt.

Marc hingegen gefällt der Gedanke.

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach. Wir Kurden sind mit so was aufgewachsen. Die Militärs haben uns immer schikaniert. Viele von uns gingen in die Berge und kämpften bei der PKK. Die meisten von uns sind kriegserprobt. Und auch hier in Deutschland gibt es oft Ärger mit den Grauen Wölfen, mit den Fanatikern vom IS oder den Leuten der AKP vom Irren aus Istanbul. In manchen Städten sind Schlägereien an der Tagesordnung.“

„Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?“, Marcs Augen leuchten.

„Mîrhat, ich finde das jetzt nicht gut!“, unterbricht ihn Annette zornig.

„Aber Mama, was sollen wir denn sonst machen?“

„Ich will doch keine halbtot geschlagene Tochter!“

„Annette“, sagt Mîrhat ruhig, „die Faschisten zwingen uns dazu. Vor ihnen kann man nur kapitulieren. Was bedeutet, dass man dann auf den Schlachter wartet, oder man wehrt sich.“

„Das hast du mir mein Leben lang erzählt, Mama!“

Alle schauen Annette an.

„Ja, ich weiß“, sagt sie resigniert. „Vielleicht habt ihr ja Recht. Aber trotzdem Vera, ich will das nicht!“

„Aber ich will es.“

„Du machst, was ich sage!“

Vera schaut ihre Mutter verblüfft an. So was hat sie von ihr noch nie gehört.

„Hast du mir immer nur den Scheiß von der eigenen Meinung erzählt, damit ich aufhöre, wenn es einmal ernst wird, oder was? Willst du mich verarschen?“

„Du sollst nicht als Krüppel enden.“

„Wer A sagt, muss auch B sagen.“

„Blöde Sprüche.“

„Wir passen schon auf sie auf, Annette“, versucht Mîrhat zu beschwichtigen.

„Quatsch mit Soße!“

Ihre Augen funkeln.

„Kein Mensch kann in einer Schlägerei auf jemanden aufpassen.“

„Oh Mama, ich bin echt enttäuscht.“

„Lass sie“, sagt Marc, „sie ist deine Mutter. Da gibt es etwas, das du vermutlich noch nicht verstehst.“

„Vera muss sich ja auch nicht unbedingt prügeln. Vielleicht muss sie sich sogar bewusst raushalten.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Bei meiner Idee müsstest du den Köder spielen. Was hältst du davon?“

„Gar nichts!“, Annette springt auf. „Sie ist kein Köder!“

„Aber ohne Köder fängt man keine Fische.“

„Sie ist meine Tochter!“

Vera sagt nichts.

Marc schweigt.

Mîrhat nippt an seiner Teetasse.

Annette setzt sich.

„Und nur so am Rand, Vera“, unterbricht Annette die Stille. „Das nennt man Mutterliebe.“

Sie nimmt Vera in den Arm.

„Es ist hart für mich, eine Gefahr zu sehen und sie nicht abwehren zu können. Natürlich halte ich dich nicht fest, du musst deinen Weg gehen. Und der Weg ist richtig. Aber ich hab‘ solche Angst um dich. Es zerreißt mir das Herz.“

Sie sieht ihre Tochter liebevoll an. Vera schaut schmollend zurück. Dann greift sie ihre Hand.

„Ich habe dich lieb!“

„Ich dich auch!“

Marc schaut Mîrhat an.

„Wir haben einen Vorteil: Wir wissen, wann und wohin sie kommen. Wir schauen uns den Ort im Vorfeld an und dann machen wir einen genauen Plan.“

„Aber das sind bestimmt 25 Nazis!“, wirft Vera ein.

Mîrhat lacht.

„Na und? Wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Außerdem sind wir auch keine Schattenboxer. Die meisten von uns waren im Krieg! Kannst du dir vorstellen, was das heißt?“

Vera blickt betreten zu Boden. Sie kennt viele Geschichten. Aber so richtig vorstellen kann sie sich Krieg nicht.

Marc ist ungeduldig. „Also, was schlägst du vor?“

„Das Beste wäre ein Hinterhalt, bei dem wir alle von denen erwischen. Ein fulminanter Denkzettel, einer mit Nachwirkung. Wir tun ihnen weh, aber nur so, dass sie noch laufen können. Alle müssen danach noch laufen können.“

„Sie müssen noch laufen können?“, wundert sich Marc. „Wieso das denn?“

„Wie spät ist es jetzt?“, fragt Mîrhat und schaut auf seine Armbanduhr. „17 Uhr 20. Sollen wir nicht mal kurz zum Vereinsheim gehen und uns alles ansehen?“

„Ja, macht das“, sagt Annette. „Ich decke in der Zeit den Tisch.“

Sie brechen umgehend auf. Nach 15 Minuten Fußweg betreten die beiden Jugendlichen mit dem Kurden das Vereinsgelände. Das Tor steht offen. Im Moment trainiert die D-Jugend. Niemand kümmert sich um die Besucher. Sie laufen das Gelände mehrfach auf und ab, gehen um das Haus herum, schauen sich alle Zugänge an. Nach zehn Minuten haben sie alles gesehen.

Zurück in der Küche im Dichterviertel erwartet sie warmes Baguette mit Kräuterbutter und Salat.

Schmatzend erzählt Mîrhat seinen Plan. „Der Ort ist ideal. Der Maschendrahtzaun umfriedet alles. Es gibt nur zwei Zugänge, von der Straße und von hinten. Die Nazis kommen also auch nur über diese beiden Ausgänge halbwegs schnell wieder weg. Die Zäune können sie als Fluchtweg vergessen, zu viele Büsche. Aber da kann man sich wunderbar verstecken!“

„Und?“ Marc klebt an Mîrhats Lippen. „Was machen wir?“

Er stochert in seinem Salat und steckt sich eine Gabel in den Mund.

„Im Prinzip ist es einfach. Wir legen einen Hinterhalt. Da wohnt weit und breit niemand, und einsehbar ist das Gelände von außen auch nicht. Außerdem führt der 2. Ring nicht allzu weit entfernt vorbei. Das sorgt für eine gewisse Geräuschkulisse.“

Dann skizziert er seine Idee. Mîrhats Erfahrung mit politischen Gegnern macht sich bezahlt. Nach zwei Stunden intensiver Diskussion haben die vier einen perfekten Plan ausgearbeitet. Wenn alles klappt, werden die Nazis sich wundern.

Als Vera und Marc später in ihrem Bett liegen, kuscheln die beiden noch lang.

„Hast du Angst?“, flüstert er.

„Ein bisschen schon“, gesteht Vera. „Aber ich habe vor allem die Sorge, ob wir allen aus der Mittwochsgruppe vertrauen können.“

„Vielleicht sollten wir ihnen nichts von unserem Plan sagen?“

„Doch, das müssen wir“, antwortet Vera. „Dann können die an dem Tag wegbleiben, die Angst haben.“

„Und wenn sie es rumerzählen?“

„Wir müssen es ihnen eindringlich klar machen, also wirklich eindringlich, dass sie das nicht dürfen. Denn das wäre eine Katastrophe.“

Sie macht eine Pause.

„Es wäre sogar lebensgefährlich für alle! Wir müssen ihnen einfach vertrauen. Wir haben keine andere Wahl.“

„Du hast Recht!“

Sie küssen sich leidenschaftlich.

„Ich liebe dich“, flüstert Marc.

„Ich dich auch.“