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Antifa-Roman

56 | Celeste IV

Vera beschließt am nächsten Morgen, sich mit Celeste zu treffen.

Gegen Mittag sitzen sie im Café Maldaner in der Fußgängerzone von Wiesbaden. Celeste ist über die Verabredung ziemlich verwundert.

„Lass dich überraschen“, hatte Vera nur gesagt. „Und lass dein Handy daheim.“

Es muss also wichtig sein, weiß Celeste nun.

„Ich war noch nie in so einem alten Café“, flüstert sie Vera zu. Schon als sie die Tür öffnete, fühlte sie sich wie in einer anderen Zeit. Kaum einer der Besucher ist jünger als 60. Es riecht nach Kaffee, Kuchen und alten Teppichen. Großväter und -mütter schnattern leise, während die livrierten Kellner Sahnetörtchen und Marzipanmakronen hin und her tragen. Jetzt sitzt sie mit Vera auf einem Biedermeier-Sofa.

„Lust auf ein Stück Torte? Auch der Kaffee ist köstlich.“

Vera imitiert die alten Damen in perfekter Weise. Celeste ist völlig perplex.

„Was?“

Sie versteht gar nichts.

„Was ist los Vera? Alles okay?“

„Äh ja, komm bestell Dir was, ich lade Dich ein.“

„Ich nehme eine Cola.“

„Waaaaaaas?“

„Oder eine Sprite. Ist mir egal.“

„Das haben die hier nicht.“

„Wieso?“

„Schau dich doch einmal um.“

„Ich will aber kein Kukidentglas für meine dritten Zähne!“

Sie lachen.

Dann sagt Celeste übertrieben: „Was, meine Liebe, würden Sie denn empfehlen?“

„Kaffee, Kakao oder Tee?“

„Tee.“

Vera bestellt auch noch ein Stück Frankfurter Kranz. Celeste flüstert wieder. „Was willst du eigentlich von mir? Ich fühle mich hier nicht wohl, die starren mich alle an.“

„Quatsch, niemand starrt dich an. Können die doch gar nicht, sehen doch nichts mehr, die Alten.“

Celeste prustet los. Das Lachen entspannt sie. Als vor ihr eine Tasse Tee in einer rosenverzierten Tasse dampft, und sie ein Meraner Schokowürfel auf einem goldberandeten Teller anlächelt, beginnt Vera endlich.

„Ich habe eine gute Nachricht für dich.“

Celeste schaut sie erwartungsvoll an.

„Aber du musst sie erst einmal für dich behalten!“

„Okay! Versprochen.“

„Ich wollte dir sagen, dass es sein kann, dass wir den Mörder von deinem Vater identifiziert haben.“

„Das glaube ich nicht.“

„Doch, ehrlich.“

Celeste hat sich steif aufgerichtet.

„Wie das?“

Vera erzählt kurz von dem Foto und der Vergrößerung.

„Ich wollte dir das nur sagen. Zum einen, dass du weißt, dass die Polizei nochmal bei dir vorbeikommen kann.“

„Das passiert im Heim ständig, dass die Polizei vorbeikommt.“

„Ja, aber nicht zu dir.“

„Doch, wir werden regelmäßig befragt und unsere Papiere kontrolliert.“

„Ach so. Wusste ich gar nicht.“

„Weiß keiner …“

„Okay, und damit du weißt, dass unsere Aktion noch was Gutes zusätzlich bringen könnte. Vielleicht.“

„Vielleicht?“

Die Bedienung räumt den Nachbartisch ab. Vera schiebt sich eine Gabel voll Frankfurter Kranz in den Mund.

„Erstmal abwarten, was die Polizei wirklich macht. Ist ja nicht so, als ob hier in Deutschland Nazis besonders hart angefasst würden. Eher im Gegenteil.“

„Ich weiß, hab‘ ich schon gemerkt.“

Vera sieht Celeste direkt in die Augen. „Denk aber unbedingt daran, dass du von nichts weißt. Sprich auch sonst mit niemandem darüber. Das ist wichtig für dich.“

Sie macht eine Pause.

„Und für uns auch.“

Celeste schaut Vera ebenso eindringlich an.

„Und du verarschst mich nicht?“

„Nein. Erträgst du einen Blick auf den Mörder deines Vaters?“

Celeste schluckt.

„Ja,“ presst sie hervor.

Vera entfaltet die Vergrößerung des Tattoos. Celeste starrt auf das verpixelte Bild.

„Wir wissen, wie der Typ heißt“, flüstert Vera.

Celeste sieht Vera ins Gesicht. Ihre Augen sind feucht.

„Danke“, flüstert sie. „Das werde ich nie vergessen. Ich werde euch nicht verraten und mich auch nicht verplappern. Mach dir keine Sorgen.“

Nach einer halben Stunde verabschieden sie sich. Vera zahlt aus der Antifa-Kasse.

Celestes Gedanken rasen auf dem Rückweg. Sie blickt nach oben in den wolkenverhangenen Herbsthimmel.

Vielleicht wird dir doch noch Gerechtigkeit widerfahren, Papa. Vielleicht gibt es doch noch irgendwo etwas, dass dafür gesorgt hat, dass der Nazi nicht ungeschoren davonkommt. Oh, vielen Dank, lieber Gott. Vielen Dank.

Ihr laufen die Tränen über die Wangen. Dann stockt sie, schaut zum Himmel und schüttelt den Kopf.

Wieso danke ich eigentlich dem lieben Gott? Es waren ja keine übernatürlichen Kräfte. Es waren Menschen, die mir geholfen haben. Menschen. Freunde. Meine Freunde. Denen sollte ich danken.

Sie sieht erneut nach oben.

Und dir da oben auch, egal wer du bist!

Dann läuft sie weiter. Sie fühlt sich leicht, hoffnungsvoll und ein bisschen glücklich.